Geflüchtete: Der Landkreis kann nicht mehr (unterbringen)
Die Asylsituation im Unterallgäu wird immer dramatischer. Dadurch steigt auch der Druck auf die Gemeinden, die bislang noch keine Geflüchteten aufgenommen haben.
Landrat Alex Eder ist der Frust deutlich anzumerken: Während auf dem Besucherparkplatz des Landratsamtes gerade ein Thermozelt aufgebaut wird, ist für den nächsten Tag schon der nächste Bus mit 46 Geflüchteten angekündigt – und das, obwohl das Zelt erst in einigen Tagen bezugsfertig sein wird und es bis dahin nirgendwo noch einen freien Platz gibt. Wo die Leute dann hinsollen? "Ich weiß es beim besten Willen nicht", antwortet Eder. Er sieht die Notlage der Geflüchteten – und dass sich seine Mitarbeitenden im Ausländeramt, die seit Monaten immer wieder aufs Neue händeringend nach Unterbringungsmöglichkeiten suchen, allmählich aufarbeiten. Denn ein Ende ist nicht in Sicht: "Das ist ja das Frustrierende: Mit den Lösungen, die wir permanent schaffen, kommen wir dem Bedarf nicht hinterher." Wenn er sagt: "Wir können nicht mehr unterbringen", könnte man das "unterbringen" deshalb auch getrost streichen. Der Druck, der seit Monaten auf dem Landkreis lastet, ist enorm. Doch könnte der – wenn Eders wiederholte Hilferufe in Richtung der 52 Landkreis-Gemeinden nicht fruchten – diese nicht zwangsweise stärker in die Pflicht nehmen?
In Baden-Württemberg geht das, in Bayern nicht. "Es gibt keine rechtliche Handhabe", sagt Eder und man darf unterstellen, dass er sie sich bisweilen wünschen würde. Denn: "Wenn wir in den Gemeinden keine Unterkünfte schaffen, dann schaffen wir im Landkreis keine. Wir brauchen die Gemeinden." In 19 von ihnen lebte zum Stichtag am 18. Oktober kein einziger Geflüchteter in einer staatlichen Unterkunft, also in einer der dezentralen Asylbewerberunterkünfte des Landkreises oder einer Gemeinschaftsunterkunft der Regierung von Schwaben. In privaten Unterkünften können freilich auch dort durchaus Geflüchtete aus der Ukraine oder anerkannte Asylbewerber wohnen, sie werden in der Statistik jedoch nicht erfasst. "Es gibt nicht die eine Wahrheit", sagt Eder deshalb. "Das ist wahnsinnig komplex."
Eine Gemeinde mit bis zu 3000 Einwohnern müsste rechnerisch zwischen 70 und 80 Geflüchtete aufnehmen
Die übrigen 33 Gemeinden haben zwar Geflüchtete aufgenommen. Würde der Königssteiner Schlüssel angewendet, nach dem diese auf die Landkreise verteilt werden, wären es bei vielen aber bei Weitem nicht genug. "Im Schnitt sind es drei, vier Handvoll, die sie bisher haben und es müssten halt zwischen zehn und 30 Personen mehr sein. Damit wäre schon viel getan", sagt Eder. Tobias Ritschel, der Leiter des Ausländeramtes am Landratsamt, nennt eine Größenordnung von 70 bis 80 Personen für eine Gemeinde mit 2500 bis 3000 Einwohnern. Mit solchen Zahlen gehen er und Eder jedoch sehr zurückhaltend um. Denn es gibt auch ein paar wenige Städte und Gemeinden, die das rechnerische Soll bereits übererfüllen. Eder und Ritschel befürchten, dass sie weitere Geflüchtete ablehnen könnten. "Aber wenn es da zum Beispiel ein freies Gebäude gibt, brauchen wir das. Wir müssen alles annehmen, was es irgendwie gibt", sagt Eder. Deshalb will er den Königsteiner Schlüssel lieber nicht veröffentlichen – zumindest vorerst nicht.
Zumal er die Gemeinden ja auch verstehen kann. "Denen geht es auch nicht anders als uns. Die haben nichts", sagt er. Der Königsteiner Schlüssel berechnet sich zu zwei Dritteln aus der Steuerkraft des Landkreises bzw. der Gemeinde und zu einem Drittel aus der Einwohnerzahl. Ob es auch Leerstände oder freie Grundstücke gibt, die idealerweise dem Landkreis oder der Gemeinde gehören, berücksichtigt er dagegen nicht. Das hat zur Folge, dass die Asylunterkünfte bis auf den letzten Platz belegt sein können und der Landkreis seine Quote trotzdem nicht erfüllt. So wie das Unterallgäu, das Anfang Oktober bei knapp 85 Prozent lag. Doch für Eder ist es schon ein Erfolg, dass der Landkreis diese 85 Prozent in den vergangenen Monaten halten konnte – obwohl die Zahl der Geflüchteten immer weiter gestiegen ist.
Rund 2100 sind es aktuell. Zum Vergleich: Während der Flüchtlingskrise Ende 2015 lebten rund 1600 Geflüchtete im Unterallgäu, pro Woche gab es durchschnittlich 20 bis 25 Zuweisungen, zu Spitzenzeiten auch einmal doppelt so viele. Heute muss der Landkreis pro Woche mit 40 bis 60 neuen Geflüchteten rechnen. Sie konnten 2015 in rund 150 dezentralen Unterkünften untergebracht werden, aktuell sind es etwa halb so viele. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele der damaligen Unterkünfte zwischenzeitlich abgerissen oder saniert wurden, nun anderweitig genutzt werden und deshalb nicht mehr zur Verfügung stehen. Tatsächlich habe es damals Überlegungen gegeben, die leer stehenden Unterkünfte weiter anzumieten, auf Vorrat gewissermaßen, sagt Ritschel und Eder ergänzt: "Aber wenn wir das gemacht hätten und dann wäre doch niemand gekommen, dann hätten wir im Schwarzbuch der Steuerzahler gestanden."
Landrat Eder würde zusammen mit der Landkreis-Wohungsbau gerne Heime bauen, die später auch als Sozialwohnungen genutzt werden könnten
Überhaupt der Wohnraum: Er fehlt im ganzen Landkreis. Für die Einheimischen, die Geflüchteten und die, die einen Aufenthaltstitel bekommen haben oder anerkannt wurden und deshalb eigentlich nicht mehr in einer Flüchtlingsunterkunft leben müssten, aber nirgendwo anders unterkommen. Aktuell wohnen rund 750 solcher sogenannter "Fehlbeleger" in den Unterkünften des Landkreises. Theoretisch könnte sie dieser vor die Tür setzen, praktisch ist das keine Option. "Das nimmt im ersten Moment vielleicht ein bisschen Druck von uns, aber es macht die Situation ja kein Stück besser, wenn die Leute dann auf der Straße stehen", sagt Eder. Hinzu kommt, dass dieses Vorgehen wieder die Städte und Gemeinden besonders treffen würde, die sich ohnehin schon stark engagieren: "Wenn wir zu denen, die schon große Asylbewerberunterkünfte haben, jetzt auch noch sagen: Seht mal zu, dass ihr die Fehlbeleger unterbringt, die würden uns was husten", befürchtet Ritschel.
Also müssen andere Lösungen her: Denkbar wäre zum Beispiel, dass sich mehrere Gemeinden zu einer Zweckgemeinschaft zusammenschließen und einige der Fehlbeleger gemeinsam aufnehmen. Zusammen mit der Landkreis-Wohnungsbau würde Eder zudem gerne in Schnellbauweise zweistöckige Heime bauen, die jetzt als Flüchtlingsunterkunft und später vielleicht als Sozialwohnungen oder Obdachlosenheime genutzt werden könnten. In Trunkelberg ist 2015 so ein Heim entstanden, das Model könnte einfach übernommen werden. "Da sind wir aktuell an drei Grundstücken in drei Gemeinden dran", sagt Eder. "Wobei: Jetzt hieß es schon wieder, dass nur noch ein Grundstück übrig ist und es da baurechtlich auch schwieriger wird als gedacht." Und selbst wenn alles reibungslos liefe, würde es nach Eders Einschätzung mindestens vier Monate dauern, bis das Heim steht. In diesen vier Monaten muss der Landkreis parallel aber weiterhin Woche für Woche neue Unterbringungsmöglichkeiten auftun. "Wir können nicht sagen: Wir nehmen uns jetzt mal vier Monate Zeit, dann haben wir in drei Gemeinden insgesamt 300 Plätze geschaffen und sind dann mal einen guten Schritt weiter. Das können wir nicht, wenn wir jede Woche 40 Leute kriegen", sagt Eder.
Das Zelt auf dem Parkplatz des Landratsamtes in Mindelheim wird schon bald wieder voll belegt sein
Zumal die 300 Plätze ohnehin nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein wären: Allein in der Notunterkunft in Bad Wörishofen leben mehr als 400 Menschen, in der Turnhalle des Sonderpädagogischen Förderzentrums 80 und in dem Zelt vor dem Landratsamt bald 100. " Das bedeutet: Selbst wenn es gelänge, drei Heime für insgesamt 300 Menschen zu schaffen, wären die eigentlich nur als Übergangslösung gedachten Notunterkünfte immer noch gut gefüllt.
Für die eingangs erwähnten 46 Personen aus dem angekündigten Bus hat sich am nächsten Tag dann übrigens doch noch eine Lösung gefunden: Die Mitarbeiter des Landratsamtes haben die Gemeinden abtelefoniert und wenigstens fünf dazu bewegen können, zwischen sechs und zwölf Geflüchtete aufzunehmen – zumindest so lange, bis das Zelt auf dem Besucherparkplatz vor dem Landratsamt fertig war. Dort sind inzwischen bereits weitere 40 Geflüchtete eingezogen, in Kürze wird es voll belegt sein. "Man versucht, in ein volles Fass noch mehr reinzuschütten", sagt Eder, dem bei diesem Thema die Perspektive fehlt. "Wenn sich das Zuzugs- und Anerkennungsgeschehen und auch die Bleibeperspektiven nicht ändern und es im Unterallgäu nicht auf einmal Wohnraum vom Himmel regnet, dann weiß ich nicht, wie wir die Notunterkünfte jemals wieder leer kriegen sollen."
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