Große Premiere am Sensemble-Theater – allerdings ohne Kostüm und Szenenbild: Zum fünften Mal finden hier die „Gespräche zu Theater und Engagement“ statt, das Bühnen-Gipfeltreffen ist der Prolog zum Augsburger Friedensfest – aber zum ersten Mal wird das Gespräch auch live im Radio ausgestrahlt.
Bevor diese „Lange Nacht“ der Literatur beginnt und die Mikros auf Sendemodus schalten, klingen also noch die Radio-Nachrichten des Bayerischen Rundfunks durch den still lauschenden Saal. 20 Uhr, die Schlagzeilen: „Russisches Gas fließt wieder durch die Pipelines.“ In weiteren News: Der Vatikan wettert gegen das Bündnis Maria 2.0 und den Ruf nach Kirchenreformen. Die EZB hebt den Leitzins an. Und hier in Augsburg? Spricht man über eben diese nervöse, bis in die Haarspitzen angespannte Welt, durch die Brille der Kunst. Über die Chancen der Literatur in unruhigen Zeiten diskutieren Literatinnen und Künstler wie Olga Grjasnowa, Theresia Walser, Nora Bossong. Vor allem aber sprechen sie über das, was die Welt zusammenhält – Zusammenhalt.
Katja Petrowskaja ist zu Gast im Sensemble-Theater
Drei Tage dauert das Symposium, dieses Klassentreffen der Autoren und Bühnenkreativen. Sie lesen und diskutieren in kleinen, intimen Runden, sprechen auch mit Studierenden der Uni Augsburg. Und dann treten sie bei der „Langen Nacht“ vor Publikum. Einen glasklarer Text zur Weltlage liest Sprecherin Katja Schild vor – die Autorin Olga Grjasnowa („Der Russe ist einer, der Birken liebt“) hat ihn verfasst. Seit dem 24. Februar 2022, als erste russische Panzer die ukrainischen Grenzen überrollten, hat sie keinen Zweifel: „Der Zusammenhalt kann nicht mehr warten“, schreibt sie. Doch diese Solidarität mit den Ukrainern und Ukrainerinnen entdeckt sie nicht wieder, in der Politik der EU-Länder: Schutz nur manchen zusichern, den anderen aber verweigern? Das widerspricht den Menschenrechten, davon zeigt sich Grjasnowa im Gespräch mit BR–Moderator Nils Beintker überzeugt: „Sie gelten für alle.“
Dass Menschen oft erst dann einander stützen und sich helfen, wenn die Katastrophe längst entbrannt ist, das beobachtet Grjasnowa – und auch Katja Petrowskaja. Die Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises schrieb in „Vielleicht Esther“ 2014 über den Horror des Holocausts in Kiew durch NS-Kräfte. Die Deutsch-Ukrainerin sagt heute: Zusammenhalt „entsteht immer in der Zeit der Unglücks“. Und was könnte nun das gerade wütende Unglück in ihrer Heimat beenden? „Frieden ist nur mit unseren Händen zu schaffen“, sagt sie – und kritisiert die deutsche Zögerlichkeit bei Waffenlieferungen, die jahrelange Beschwichtigungs-Politik der EU, Pipeline-Deals mit Diktaturen. Dabei sei der Ukraine-Krieg kein regionales Randereignis und keine Überraschung. Beide Autorinnen fürchten einen Großbrand vieler alter Konflikte, die vielleicht betäubt, aber nie gelöst waren. „Putin eskaliert“ und es brennt im postsowjetischen Raum, von Bergkarabach bis Kasachstan.
Theresia Walser: "Wenn Theater gelingt, ist es Gedankenbelebung"
Zwischen die Worte des Abends fällt Musik: „Ich kann deinen tragischen Geschichten ein Happy End verpassen“, singt Rainer Hartmann alias Rainer von Vielen. Mit Kehlkopfgesang brummt er wie ein Didgeridoo und so begleitet er mit herzvollen Texten und Akkordeon den Abend. Michael Schönmetzer steht ihm bei, als Gitarrist und zweite Stimme. Urig, poetisch, Weltschmerzmusik aus Kempten.
Doch Zusammenhalt, wo lernt man das? Als Fach in der Schule? In Büchern? Im Theater? Die Dramatikerin Theresia Walser („Die Empörten“) erklärt in der nächsten Talk-Runde, einem Trio: „Wenn Theater gelingt, ist es im schönsten Fall eine Gedankenbelebung“. Wirbel im Talk löst neben ihr dann Salome Dastmalchi aus. Wie laut darf es in der Kunst knallen, fragt der Moderator? „Natürlich maximal laut“, sagt die Regisseurin aus Berlin. In der Kunst liebe sie Konfrontation, Gefühlsexplosionen. Aber hinter den Kulissen wünscht sie sich mehr Harmonie, in Vielfalt. „Es herrscht am Theater ein toxisches Klima“, findet sie. „Das System baut meist auf der Alleinherrschaft der Intendanz auf, auf Hierarchien. Warum gibt es denn keine Basis der Liebe am Theater?“ Ego übertrumpft Miteinander, der österreichische Dramatiker Thomas Köck ist sich sicher: „Dieses Problem reicht über die Theater hinaus.“ Auch mit Blick auf die Klimakrise fordert er eine Solidarität, „die auch quer durch die Zeit greift, auch in die Zukunft“.
Nora Bossong diskutiert in Augsburg mit Markus Ostermair
Es knistert in der folgenden Debatte, die Autorin Nora Bossong und Autor Markus Ostermair zusammenbringt. Bossong führt die Debatte einmal mehr zum Krieg in der Ukraine – und findet: Politik muss man ernstnehmen, mit ihren Chancen, ihrem Potenzial. Auch ein Parlament kann in dieser Krise dazu beitragen, Probleme zu lösen. Ostermair sieht das skeptischer: „Welche Leute werden in dem Parlament denn repräsentiert?“
In seinem Romandebüt „Der Sandler“ (2020) beschreibt Ostermair das Leben von Menschen ohne Obdach. Seinen Zivildienst hatte der Autor aus Pfaffenhofen an der Ilm an einer Bahnhofsmission absolviert. Dagegen hat Bossong für ihr Buch „Schutzzone“ im politischen Milieu von UN und NGOs recherchiert. Auch dort fand sie – Menschen. Mal zerbrechlich, rücksichtslos, mal hilfsbereit, gut. „Genau davon erzählt Literatur“, schreibt sie in ihrem Text des Abends. „Literatur darf zweifeln und auch verzweifeln.“ Zuversicht garantiere sie nicht – „auch wenn es schön ist, wenn sie das kann.“
Rainer von Vielen besingt den Weltuntergang im Sensemble
Und Rainer von Vielen? Besingt am Ende des Abends Untergang und Wiederauferstehung der Erde: „Ich hisse meine Fahne für die Welt, die aufs Neue entsteht.“ Diese „Lange Nacht“ war nicht der nächste offene Brief von Intellektuellen, einer von vielen in jüngster Zeit. Sie bot ein offenes Gespräch, im Namen des Zusammenhalts.