i
Foto: Jan-Pieter Fuhr
Foto: Jan-Pieter Fuhr

Schwarz und weiß sind die dominierenden Farben von "Drei Schwestern nach Moskau", zu sehen im Martinipark des Staatstheaters Augsburg.

Premiere
01.05.2023

Eine ganze Gesellschaft blendet die Gewalt aus

Von Richard Mayr

Das Staatstheater Augsburg bringt Tschechows "Drei Schwestern" auf die Bühne und denkt mit ihm über das heutige Russland nach.

Ein Theaterklassiker aus Russland auf dem Programm des Staatstheaters Augsburg – und man fragt sich unwillkürlich, wie wird das jetzt auf die Bühne gebracht? Russland hat vor einem Jahr die Ukraine angegriffen und stellt seitdem die Weltordnung offen mit seinem Krieg infrage. Unter diesen Vorzeichen einfach und unkommentiert Tschechow spielen und für sich sprechen lassen? Nicht an diesem Abend, der den Klassiker aus dem Jahr 1901 mit weiteren Handlungssträngen aus der Gegenwart verknüpft – einer schrecklich brutalen Szene aus dem Ukrainekrieg und einem Kriminalfall aus Russland. So hieß das nun "Drei Schwestern in Moskau" nach Tschechow. 

Den kritischen Blick auf Russland warfen Regisseur Andreas Merz Raykov und seine Frau Ekaterina Merz Raykova (Mitarbeit am Text und der Dramaturgie) sowie Dramaturgin Sabeth Braun. Merz Raykov hat öfter in Russland gearbeitet, kann das aber seit Jahren wegen der Repression dort nicht mehr machen, seine Frau stammt aus dem Land. Gemeinsam analysieren sie mit Tschechow und dem Kriminalfall der Schwestern Chatschaturjan die strukturelle Gewalt im Land.

i
Foto: Jan-Pieter Fuhr
Foto: Jan-Pieter Fuhr

Yuliia Yermakova (rechts) hat die Intervention "Voices of Ukraine" für die Inszenierung geschaffen.

Drei Schwestern haben ihren Vater erschlagen

Die drei Chatschaturjan-Schwestern sind wegen Mordes angeklagt, weil sie zu dritt ihren Vater erschlagen haben. Der wiederum hat seine Töchter gequält, beschimpft, bedroht, terrorisiert, missbraucht – über Jahre. An einem besonders schlimmen Tag verabredeten die drei, ihren Vater umzubringen mit seinen Waffen, Hammer und Messer. In Russland gibt es keine Gesetze, die vor häuslicher Gewalt schützen. Immer noch wird den drei Schwestern der Prozess gemacht.

Und wie wird das nun zusammengebracht? In Form von Einschüben, immer zu Tschechows Aktwechseln, kommt auf der gruselig-weißen Bühne, die aus unzähligen Türen besteht, der dunkle Glas-Kubus in der Bühnenmitte zum Einsatz. Die Oberfläche wird transparent, und der Kubus erinnert an Glaskästen aus Gerichtsprozessen, in denen die Gefangen auch vor Gericht von den Anwesenden getrennt werden. Dort drinnen wird die Geschichte der Schwestern erzählt.

Tschechow beschreibt das Zarenreich kurz vor den Revolutionen

Tschechow blickt auf eine untergehende Welt, das Zarenreich kurz vor den einschneidenden Revolutionen. Die Schwestern träumen nach dem Tod ihres Vaters von einem besseren Leben in Moskau, sind aber unfähig, die Provinz zu verlassen. In das Vakuum, das der Tod ihres Vaters hinterlassen hat, stößt die anfangs verlachte Natascha vor, die Frau ihres Bruders, die am Ende das Sagen hat. Tschechow beschreibt Untergehende, Menschen, die antriebslos und selbstbezogen um sich und seinesgleichen kreisen, ohne mitzubekommen, was vor der eigenen Haustüre gerade passiert – also die idealen Bürgerinnen und Bürger einer jeden Diktatur, für die Freiheit immer nur ein Möglichkeitswort bleibt.

In der Augsburger Inszenierung kommt ein Drittes hinzu: die künstlerische Intervention "Voices of Ukraine – Stimmen eines Landes, das nicht erobert wurde" der Ukrainerin Yuliia Yermakova. Sie beschreibt eine Szene des russischen Angriffskriegs, eine Frau, deren Mann – ein Zivilist – im Vorgarten von russischen Soldaten erschossen wird, eine Frau, die danach mehrfach von russischen Soldaten bei vorgehaltener Waffe vergewaltigt wird. Der Krieg zeigt sich in seinem ganzen Ausmaß als Totalangriff auf alles, nicht nur die Regierung der Ukraine und ihre Selbstbestimmung, sondern auf die einzelnen und ihre Familien. Die Gewalt richtet sich gegen alles und jeden – willkürlich und exzessiv

In Fragen der Gewalt gibt es keine Zwischentöne

Der künstlerische Blick darauf gleicht einer Laborsituation. Es geht nicht um Anteilnahme, nicht um Sympathie, nicht um Mitfühlen und Läuterung, viel wichtiger ist das Verstehen. Weiß und Schwarz sind die dominierenden Farben, so als sollte von Anfang klargestellt werden, dass es in Fragen der Gewalt keine Zwischentöne gibt. Wie in einem Triptychon stehen die drei Teile nebeneinander und ergeben gemeinsam den Dreiklang: hier die untergehende Gesellschaft des Zarenreichs, die die Voraussetzung für die maximale häusliche Gewalt, aber auch den Krieg in der Ukraine ist, der als weiteres Übel einfach ausgeblendet wird. 

Geopfert werden im Angesicht des gedanklichen Überbaus allerdings Tschechows Charaktere, diese fein gezeichnete, gelähmte Gesellschaft in der russischen Peripherie. Im Stil des dominierenden Schwarz-Weiß-Kontrasts erscheinen stark stilisierte Typen, deren Wohlergehen und Schicksal weder der Regie noch dem Publikum größer am Herzen liegt. Das Ensemble spielt das entschieden und konsequent, sowohl die Männer in ihren überwiegend weißen Uniformen (Thomas Prazak, Klaus Müller, Sebastian Müller-Stahl, Kai Windhövel, Julius Kuhn) als auch die Schwestern und Natascha (Natalie Hünig, Katja Sieder, Joane Reimann, Sarah Maria Grünig). Verdienten Sonderapplaus bekommt am Schluss Reimann, eigentlich als Soufflage vorgesehen, die als Irina einspringt und ein verborgenes Schauspieltalent zum Vorschein bringt. Wenn sie das Textbuch nicht in der Hand gehalten hätte, man hätte es als Zuschauer nicht bemerkt. 

Nach knapp dreieinhalb Stunden endet der Abend – über einige Längen können die sich ähnelnden Slapstick-Einlagen (Marke Tür auf, Tür zu) nicht hinwegtäuschen. Trotzdem, aus dem Kopf bekommt man das Gesehene so schnell nicht mehr. Es schaltet den Kopf ein. Eine Empfehlung also für Ausdauernde.

Weitere Termine am 6. und 13. Mai im Martinipark des Staatstheaters Augsburg.

Facebook Whatsapp Twitter Mail