Das Ganze lädt förmlich zum Witzeln ein. Denn ist es nicht so, dass Eltern vom Anbeginn des Pop- und Rockzeitalters an ihren Nachwuchs warnen, sie würden ganz sicher irgendwann noch taub von diesem Lärm? Aber der Befund ist längst ernst und ganz aktuell ziemlich alarmierend. Es droht nichts weniger als eine Schwerhörigkeitsepidemie.
Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bereits heute 1,6 Milliarden Menschen in ihrem Hören eingeschränkt, weil sie zu oft zu lange Lärm ausgesetzt waren – davon 430 Millionen in schwerem Ausmaß.
. Und zusätzlich. Denn lautLaut wie ein Düsenjäger im Konzert: Wer ist die lauteste Band der Welt?
Aber was heißt da Lärm? Gemeint ist damit nur übermäßige Lautstärke – und die allermeisten setzen sich dem nicht etwa in der Arbeit auf Baustellen oder im Straßenverkehr aus, sondern tun dies vor allem dauerhaft freiwillig. Als Musik. Und dazu braucht es nicht etwa „die lauteste Band der Welt“, als die sich die alten Metal-Recken von Manowar (auch beim mit "faster, harder, louder" für sich werbenden Wacken-Festival) noch immer preisen dürfen, weil sie im Guinness-Buch mit einer Lärm-Leistung von unfassbaren Düsenjäger-artigen 139 Dezibel verzeichnet sind und stolz ja auch ein Album mit „Louder than Hell“ betitelt haben. Wobei gerade in diesem Genre klar sein dürfte: Am lautesten war es bis zu seinem Tod immer im Teufelsdreieck der Verstärker um Lemmy Kilmister von Motörhead. Aber auch die vergleichsweise zarten K-Pop-Jünglinge von BTS feiern schon mal „Louder than bombs“.
Empfohlen jedenfalls ist eine Belastung von nicht dauerhaft und nur in Ausnahmen nicht mehr als 80 Dezibel – was etwa dem Schreien eines Babys oder klassischem Telefonläuten entspricht. Normale Gespräche haben ungefähr 55 Dezibel. In Konzerten und Diskotheken aber herrsche durchschnittlich ein Schallpegel zwischen 104 und 112 Dezibel. Zum Vergleich: 100 Dezibel entsprechen dem Kreischen einer Kreissäge. Aber am dauerhaftesten ist die gesundheitsgefährdende Beschallung mit inzwischen allgegenwärtigen Kopfhörern. Tatsächlich lassen sich die Nutzer von Kopfhörern im Durchschnitt mit 105 Dezibel bedröhnen. Das haben Untersuchungen von Forschern um die Lauren Dillard der Medical University of South Carolina ergeben.
Das verstärkt eine Sorge, die seit dem Auftauchen der Kopfhörer im öffentlichen Raum durch den Walkman vor mit Beginn der 80er. Gemeint ist nicht etwa der damals schon grassierende Argwohn bei Erwachsenen, die im Grunde ja zu Hause wie im öffentlichen Raum nicht unfroh sind, die Musik der Jugendlichen nicht mithören zu müssen: Diese seien mit den Dingern in oder auf den Ohren in ihrer Blase für die Wirklichkeit nicht mehr erreichbar, würden zu wandelnden Zombies… – während diese selbst betonten, die Welt begleitet durch ihren Soundtrack viel intensiver wahrzunehmen. Statt sozial oder psychologisch ist das Problem des Kontaktverlusts schlicht medizinisch.
WHO spricht von bald 2,5 Milliarden Betroffenen weltweit
Schon 2021 hatte die WHO Alarm im „World Report on Hearing“ geschlagen: Bis zum Jahr 2050 könnte diese Zahl auf rund 2,5 Milliarden steigen, wenn der Prävention von Hörverlust keine Priorität eingeräumt werde. Und Forscher warnten im Journal of the Acoustical Society of America, vor allem die durch Schädigung im Wachstum am meisten von Folgen betroffenen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen hörten täglich mehrere Stunden Musik in einer Lautstärke, die empfohlene Grenzwerte deutlich überschreite.
Der WHO-Bericht enthält keine länderspezifischen Daten. Laut Bundesverband der Hörsysteme-Industrie allerdings geben in Deutschland zehn Millionen Menschen an, mit einer Schwerhörigkeit zu leben. Der Verband erklärt zudem, dass eine unversorgte Hörminderung in jeder Lebensphase schwerwiegende Konsequenzen habe: von verzögerter Sprachentwicklung in Kindheit und Jugend über soziale Isolation bis hin zu einem höheren Risiko für Arbeitslosigkeit im Erwerbsalter. Darüber hinaus sei Schwerhörigkeit im mittleren Lebensalter der größte modifizierbare Risikofaktor für eine Demenzerkrankung. Schon 2014 teilte die Bundesärztekammer mit, dass Hörstörungen durch Umwelt- und Freizeitlärm bei Kindern und Jugendlichen zunähmen.
Wie die Autorinnen um Lauren Dillard aus South Carolina betonen, berücksichtige ihre Analyse, nach der eine Epidemie im Milliarden-Ausmaß drohe, noch nicht einmal die einkommensschwachen Länder weltweit. Aber gerade dort sei die Gefahr vermutlich sehr hoch, weil es kaum Vorschriften gebe, geschweige denn, dass deren Einhaltung überprüft werde. Wenn aber nun eine regelrechte Epidemie der Schwerhörigkeit drohe mit beträchtlichen psychologischen und sozialen Folgen, sei es umso dringender, Maßnahmen zum Schutz des Gehörs in den Vordergrund zu stellen.
In-Ear- oder On-Ear-Kopfhörer? Die Forscher geben eine klare Empfehlung
Was passiert, wenn ein hoher Schallpegel aufs Gehör trifft? Schall wird im Ohr als Impulswelle über das Trommelfell und die Gehörknöchelchen zur Hörschnecke geleitet. Dort liegt das sogenannte Corti-Organ mit rund 15.000 Haarzellen. Der Schall streicht wie eine Wasserwelle über die Haarzellen, welche den Reiz in bioelektrische Impulse umwandeln und als Hörinformation ans Gehirn leiten.
Werden die Haarzellen Lärm ausgesetzt sind, können sie ermüden – das erklärt, warum man nach einem Konzert oft zunächst nur noch dumpf hört oder gar einen Tinnitus erleidet. Bei anhaltend hoher Schallbelastung oder kurzen, sehr hohen Schallpegelspitzen drohen Dauerfolgen: So wie bei einem Getreidefeld leichte Windböen keinen Schaden anrichten, heftige Windstöße aber Halme abknicken lassen, können einzelne Härchen im Innenohr bei einer starken Welle der Flüssigkeit dauerhaft umgeknickt bleiben und damit ihre Funktion verlieren.
Kaputte Härchen wachsen nicht nach, auch im Jugendalter verlorene nicht – lärmbedingte Hörschäden können lebenslang nicht mehr geheilt werden. Und klar sollte sein: Ob Vereinsamung, höheres Sturzrisiko oder deutlich früher einsetzende Demenz – wer schon früh Hörschäden hatte, ist im Alter gefährdeter, Probleme zu bekommen. Den Ohren sollten darum nach großen Lärmbelästigungen, aber auch grundsätzlich Pausen gegönnt werden, empfiehlt der Deutsche Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte. „Von Zeit zu Zeit sollte man dem Lärm der Umwelt gezielt entgehen. Hierzu ist ein Leseabend genauso geeignet wie ein Spaziergang in der Natur.“
Die WHO rät, Musik über 100 Dezibel nicht länger als eine Viertelstunde am Tag zu hören. Beim Besuch von Veranstaltungen und lauten Orten sollten Ohrstöpsel getragen werden. Bei Kopfhörern solle auf aufliegende (On-Ear-) anstatt In-Ear-Modelle zurückgegriffen werden. Wenn diese Umgebungsgeräusche reduzieren (Noise-Cancelling), könne man bei bleibendem Genuss die Lautstärke niedriger einstellen. Und tatsächlich sind die meisten Smartphones mittlerweile auch in der Lage, bei bestimmten Kopfhörermodellen die Lautstärke einzuschätzen und zu warnen, wenn die Musik zu laut sei. (mit dpa)