Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten
Gesellschaft
Icon Pfeil nach unten

„Migräne hat mir schon so viel versaut“: Wie Betroffene leiden

Frauen sind deutlich häufiger von Migräne betroffen als Männer, denn hormonelle Schwankungen sind ein schwerwiegender Auslöser. 
Foto: Oliver Killig, picture alliance, dpa (Symbolbild)
Unwetter im Kopf

„Migräne hat mir schon so viel versaut“: So sehr leiden Betroffene

    • |
    • |
    • |

    Katharina hat immer Migräne. Das erzählt sie ganz nebenbei, als sie mit einigen Studierenden der Uni Heidelberg nach dem Seminar im Campus-Café zusammensitzt. Gerade hat sie von einer schwierigen Gruppenarbeit berichtet, bei der sie ihre Aufgabe nicht ganz fertigstellen konnte - wegen der Migräne. Als sie gefragt wird, wie oft sie das hat, antwortet die 30-Jährige nüchtern: „30 Tage im Monat.“ Was erwidert man auf eine solche Aussage? Tut mir leid? Das muss schlimm sein? Das weiß Katharina selbst. Sie hat das Problem. 30 Tage im Monat.

    Migräne, das bedeutet für viele: Kopfschmerzen. Für Außenstehende zeigt sie sich oft nur in einem leeren Stuhl im Meeting oder einer kurzfristigen Absage beim Familienfest. Aber Migräne ist nicht einfach nur Kopfschmerz, sondern eine neurologische Erkrankung. Jede vierte Frau zwischen 25 und 55 leidet hierzulande daran, jeder fünfzehnte Mann. Eine Minderheit? Nicht wirklich. Trotzdem ist die Krankheit oft nur für Eingeweihte sichtbar, manche Betroffene versuchen sie zu verheimlichen, dabei wirkt sie sich auf den Beruf und Beziehungen aus. Aber dazu gleich mehr.

    Laut WHO ist Migräne eine der neurologischen Krankheiten, die am stärksten einschränken

    Als Katharina im Juli 2023 aus dem Nichts durchgehend Kopfschmerzen bekam, war ihr die Ursache schleierhaft. „Das kam von null auf hundert“, sagt sie. Anfangs ignorierte sie die Schmerzen, bis ihr Freund sie zum Arzt schickte. Dieser überwies sie an eine Neurologin, einige Monate später lautete die Diagnose Migräne. Die Attacken gehörten da längst zu Katharinas Alltag.

    Nicht zu jeder Tageszeit ist sie da. Aber irgendwann am Tag rollt sie wie eine Welle heran, so beschreibt Katharina es im Gespräch. Dann reichen Kleinigkeiten - Lautstärke, Stress, Reize - und alles wird lauter, intensiver. Irgendwann setzt die Attacke dann ein. Manchmal fühle es sich an, als würde sie vom Zug überrollt.

    Für die Weltgesundheitsorganisation WHO stellt Migräne heute eine der am stärksten einschränkenden neurologischen Krankheiten dar. Das war nicht immer so. Eine der Frauen, die Migräne erstmals auf die Agenda der Wissenschaft brachte, ist Colette Andrée, Neurowissenschaftlerin und Pharmazeutin. „Die Migräne ist in mancher Hinsicht ähnlich wie eine Epilepsie – beides sind Reizweiterleitungsstörungen“, erklärt die 64-Jährige. Jeder Betroffene habe eine eigene Migräneschwelle. Wird diese überschritten, wird eine Attacke ausgelöst. Doch nicht bei jedem Menschen ist diese Schwelle vorhanden. „Entweder, man hat ein Migränehirn, oder man hat keins“, sagt Andrée. Das sei genetisch bedingt.

    1994 kam das erste Mittel gegen Migräne auf den Markt

    Dass die Schweizerin Migräne-Expertin wurde, liegt an ihrer eigenen Erfahrung mit der Krankheit – zu einer Zeit, als noch kaum jemand davon wusste. Als junge Frau mit Ende 20 bekam sie erste schlimme Anfälle, sie war gerade als einzige Frau in einem Förderprogramm einer großen Pharmafirma aufgenommen worden. Ein befreundeter Arzt erklärte ihr damals, sie leide an Migräne, aber Andrée wollte das nicht wahrhaben. „Für mich war ganz klar, dass ich das nicht habe“, erinnert sich Andrée. „Ich habe gesagt, ich bin nicht hysterisch. Ich hatte solche Vorurteile.“

    Damals wurden Betroffene als überempfindlich und nicht belastbar abgestempelt. Sie selbst dachte, in ihrer Familie kenne niemand dieses Leiden. Doch als sie ihrer Mutter davon erzählte, reagierte diese bestürzt - und erzählte ihrer Tochter, dass die Oma manchmal auf den Speicher ging und man sie zwei, drei Tage nicht sah. „Wahrscheinlich lag sie im Dunkeln und hat einfach nur gebrochen“, sagt Andree. Damals glaubte man, dass sie etwas an der Galle hatte und schwächlich war, die Familie vertuschte es.

    Andrée akzeptierte ihre Diagnose, hielt sie aber geheim, aus Angst, den Job zu verlieren. Gleichzeitig wusste sie: Es muss sich etwas ändern. Wer kennt diese Krankheit? Wie viele haben sie? Das musste wissenschaftlich belegt werden – sonst würde Migräne immer in diesem Schattendasein existieren.

    Das war im Jahr 1987. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine internationale Klassifikation von Migräne. In der Wissenschaft kannte man die Krankheit als solche zwar, doch ihr wurde wenig Beachtung geschenkt. Andrée wollte das ändern – erfolgreich. Sie bekam EU Fördergeld für das erste große, europäische Forschungsprojekt zu Kopfschmerzerkrankungen und untersuchte die Krankheit in zehn Ländern. Die Ergebnisse waren überwältigend und änderten nicht nur die Sichtweise der WHO auf Migräne, sondern auch die Pharmafirmen interessierten sich daraufhin plötzlich. „Wenn zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung unter der Krankheit leidet, ist das verständlich “, sagt Andrée.

    1994 kam das erste Migränemittel auf den Markt, auch in der Neurologie gewann das Thema zunehmend an Bedeutung. „Früher hieß es: Migräne, was kann daran spannend sein? Heute heißt es immer mehr: Was gibt es Spannenderes als Migräne?“, so die Expertin.

    Expertin sagt: Betroffene müssten oft lange ausprobieren, welches Hilfsmittel wirkt

    Inzwischen ist viel über die Krankheit bekannt. Sie äußert sich sowohl bei Frauen wie auch bei Männern, allerdings sind Frauen deutlich häufiger betroffen. Denn hormonelle Schwankungen können schwerwiegende Auslöser sein. Was Betroffenen hilft, ist Andrée zufolge sehr individuell. Migränebetroffene müssten oft lange ausprobieren, was ihnen eine bessere Lebensqualität verschafft, vorbeugend als auch akut – seien es Nahrungsergänzungsmittel, Ausdauersport, Blutdrucksenker, Botox oder eine vorbeugende Migränespritze. „Es ist ein langer Weg zur Lösung, manche verzweifeln und stoppen“, sagt Andrée. Doch es sei wichtig, dranzubleiben. Andernfalls könne es chronisch werden. 

    Auch bei der Behandlung von chronischer Migräne kommt Botox zum Einsatz.
    Auch bei der Behandlung von chronischer Migräne kommt Botox zum Einsatz. Foto: Karl-Josef Hildenbrand, dpa/dpa-tmn

    Bis heute ist Migräne nicht heilbar. Leicht vermittelbar ist das für Betroffene nicht. Wenn Menschen Katharina nach ihrem Befinden fragen, sei da oft die Erwartung, dass es ihr besser geht, erklärt sie. Ihre Freunde bemühten sich, verständnisvoll zu sein. Aber viele wüssten nicht, wie sie damit umgehen sollen, dass das „immer noch so ein Ding“ ist. Im Gespräch spürt die junge Bayerin das oft unterschwellig. „Sie fragen mich: Warum ist das noch da?“, sagt sie. „Was für mich da ein bisschen mitschwingt: Warum schaffst du es nicht, dass es besser wird?“

    Sie fühle sich dann fast ein wenig in der Verantwortung, die Emotion der anderen zu managen, sagt Katharina. Denn bei einer ehrlichen Antwort seien die anderen oft betroffen und sie selbst nach solchen Gesprächen ausgelaugt. „Ich bin dann damit beschäftigt, wegen der Krankheit, die ich habe und die mich sehr belastet, auch noch diese emotionale Arbeit zu leisten.“ Manchmal ist sich die Studentin auch nicht sicher, wie viel das Gegenüber an Antwort erwartet. „Wenn jemand fragt, wie es mir geht und noch mal nachfragt, muss ich eigentlich schon ausholen. Da frage ich mich: Wolltest du so viel wissen – und wollte ich so viel antworten?“

    Und dann sind da noch die vielen, gut gemeinten Ratschläge. „Die Leute lesen die verrücktesten Tipps im Internet und erzählen mir davon“, sagt Katharina. Da sei bis zur Schwurbelei alles dabei. „Das wirkt manchmal so an den Haaren herbeigezogen und vieles stimmt einfach nicht.“

    Betroffene sagt: Migräne wird in der Öffentlichkeit oft nicht ernst genommen

    Diese Erfahrung hat auch Sabrina Wolf gemacht. Die 30-Jährige ist die Begründerin des ersten Migräne-Podcasts in Deutschland, „Unwetter im Kopf“, im Vorstand der deutschen Selbsthilfe-Organisation Migräne-Liga und hat Bücher zum Thema geschrieben. An Migräne leidet sie, seit sie 16 ist, zwischendurch war sie bei 20 Migräne-Tagen im Monat. Sie kennt sich mit dem Thema aus, Tipps wie Wassertrinken und Spazierengehen bekommt sie dennoch. „Gerade bei Migräne hagelt es häufig unaufgeforderte Ratschläge“, sagt Wolf. „Viele begreifen nicht, wie komplex die Krankheit ist – und wie behindernd sie sein kann.“

    Denn Migräne ist mehr als nur die Attacken. Um die Krankheit in Schach zu halten, entwickeln viele Betroffene strikte Routinen. Hinzu kommt die ständige Angst vor einer möglichen Attacke, vor allem bei Events, auf die man sich freut: Konzerte, Geburtstage, Urlaube. Je mehr man fürchtet, die Migräne könnte einem den Tag vermiesen, desto wahrscheinlicher tritt genau das ein. Denn auch Stress ist ein Trigger. Ein Teufelskreis, findet Wolf. „Ich sage immer, Migräne habe ich durchgehend – die Attacken sind das, was anfallsartig auftritt.“

    Was Wolf auffällt: Viele in ihrem Umfeld kennen Menschen mit Migräne. „Die Zahl der Betroffenen ist riesig und die Dunkelziffer noch höher“, sagt die Personalreferentin. Dass die Krankheit trotzdem so unsichtbar ist, liegt aus ihrer Sicht daran, dass Migräne in der Öffentlichkeit nicht als das verstanden werde, was sie ist. „Deshalb wird sie auch nicht so ernst genommen“, sagt Wolf.

    Patienten wissen oft wenig über ihre Krankheit, weil die Aufklärung zu kurz kommt

    Gerade im Arbeitsalltag führe das mancherorts zu wenig Verständnis, weiß Wolf. Davon berichteten ihr viele Menschen, denen sie in ihrer Aufklärungsarbeit begegnet: Von seltsamen Reaktionen im Bewerbungsgespräch, über Druck, der aufgebaut wird, über verärgerte Kolleginnen und Kollegen und ungehaltene Reaktionen von Führungskräften bis hin zur Kündigung ist alles dabei.

    Auch die Migräne-Expertin Colette Andrée wünscht sich mehr Unterstützung, bessere Informationen zur Krankheit und Verständnis in der Berufswelt. Katharina etwa will ihren Nachnamen deshalb nicht nennen – aus Angst, später im Job diskriminiert zu werden. Viele Betroffene halten ihre Krankheit vor dem Arbeitgeber geheim, manche denken sich andere Ausreden für Fehlzeiten aus, um nicht abgestempelt zu werden. Denn Migräne gilt immer noch als Frauenkrankheit und wird mit Schwäche assoziiert.

    Denn Migräne gilt immer noch als Frauenkrankheit und wird mit Schwäche assoziiert. Für männliche Migräniker erschwert das den Umgang mit der Krankheit zusätzlich
    Denn Migräne gilt immer noch als Frauenkrankheit und wird mit Schwäche assoziiert. Für männliche Migräniker erschwert das den Umgang mit der Krankheit zusätzlich Foto: Christin Klose/dpa-tmn

    Für männliche Migräniker erschwert das den Umgang mit der Krankheit zusätzlich, weiß Andrée. Die Expertin betreut das von der Schweizer Organisation „Migraine Action“ eingerichtete „Kopfwehtelefon“, um Betroffenen Rat zu geben. Oft rufen Frauen für ihre Männer an. Sie bittet dann den Mann ans Telefon – denn der könne von der eigenen Krankheit dann doch besser erzählen.

    Generell merken Wolf und Andrée im Kontakt mit Betroffenen, dass viele zu wenig über ihre Krankheit wissen, weil die Aufklärung beim Arzt oft zu kurz kommt. Beide mahnen aber auch zur Selbstverantwortlichkeit. „Viele sagen, sie hätten schon alles ausprobiert“, sagt Andrée. Aber alles ausprobiert, das sei fast nicht möglich.

    Die Expertin weiß: Es macht traurig, die Krankheit nicht im Griff zu haben. Sie will aber auch vermitteln: Migränehirne können wahnsinnig viel. Betroffene müssten das eigene Potenzial sehen. „Auf der einen Seite ist das Migränehirn wahnsinnig spannend, es kann sich fantastisch viel aufnehmen, besitzt eine hohe Sensibilität. Im Hirn ist eine starke Vernetzung vorhanden, die man als Schwäche oder Stärke nutzen kann.“ Viele Migräniker seien besonders sensibel, manche könnten das Wetter vorhersagen oder die kleinsten Geräusche wahrnehmen. Historisch gibt es viel begabte Migräniker, erklärt Andree. Marie Curie, Vincent van Gogh, Richard Wagner oder Friedrich Nietzsche, aber auch Albert Einstein oder Charles Darwin. Die Expertin verweist auf einen ihrer Patienten, der in der Reha zu malen begann und heute Bilder verkauft.

    Was bedeutet es für die Beziehung, wenn der Partner an Migräne leidet?

    Wird sie von jungen Menschen am „Kopfwehtelefon“ um Rat gefragt, weil diese um ihren Job fürchten, rät Andrée, den Fokus auf die positive Seite der Krankheit zu lenken. „Ich habe ein spezielles Gehirn. Wenn ich meine Konditionen – etwa kein Großraumbüro, Gleitzeit, kurze Pausen oder eine spezielle Brille - bekomme, dann kann ich reinhauen und wirklich unterstützen.“

    Ein offener Umgang mit Migräne wäre ihrer Ansicht nach wünschenswert - nicht nur am Arbeitsplatz. Doch Mythen um die Krankheit halten sich hartnäckig. Gesellschaftlich wird Migräne gern als Ausrede abgetan. Nicht zufällig singen die Wise Guys: „Anna hat Migräne, morgen geht’s ihr besser, keine Frage, doch dann kriegt sie sicher ihre Tage.“ Das Lied handelt davon, dass ein Mann im Bett nicht zum Zug kommt, weil seine Freundin Migräne hat. Ziemlich sexistisch. Aber wie ist es wirklich, wenn die Partnerin an Migräne leidet?     

    „Ich glaube nicht, dass mein Mann wusste, was auf ihn zukommt, als ich ihm zu Beginn unserer Beziehung erstmals von meiner Migräne erzählt habe“, schreibt die Journalistin Diana Ringelsiep in ihrer Migräne-Kolumne „Mittwochs ist Migräne“. Die 39-Jährige leidet seit über 20 Jahren an Migräne. Seit zwei Jahren führt sie eine Kolumne für die Novitas Krankenkasse, darin thematisiert sie auch die Rolle von Migräne in der Partnerschaft. Es sei manchmal ein „schmerzhaftes Beziehungsdreieck“. Zwar habe sie mit offenen Karten gespielt, als sie ihren Partner kennenlernte. Für sie sei damals jedoch klar gewesen: „Entweder nimmt er mich mit Migräne oder das wird nichts.“

    Dass ihr Partner Verständnis hat, ändert aber nichts daran, dass es die Beziehung phasenweise belastet. Besonders fies: Die Angewohnheit der Migräne, häufig an gemeinsamen, mühsam freigeschaufelten Abenden aufzutreten – es gibt sogar die arbeitgeberfreundliche Version der „Wochenendmigräne“. So wie andere am Anfang des Urlaubs erst mal krank werden, sei auch die nächste Migräne-Attacke durch den Stressabfall für viele Betroffene vorprogrammiert, erklärt Ringelsiep. Urlaubsbedingte Trigger wie Jetlag, grelles Sonnenlicht und Temperaturunterschiede kommen noch hinzu. Das treffe dann nicht nur einen selbst, sondern auch den Partner. „Der steht dann da und muss sich allein bespaßen. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil ich im Hotelzimmer liege, ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm den Urlaub verderbe“, sagt die Journalistin.

    Das gehe vielen Angehörigen von Migränikern so, erklärt sie. Bei einer Erkältung kann man mit Zwieback und Tee helfen. Aber was, wenn dem anderen die eigene Abwesenheit am liebsten ist? „Für viele ist das eine Spirale aus Schuldgefühlen und Scham“, sagt Ringelsiep. „Während ich mich frage, wie lange mein Partner das noch mitmacht, schämt er sich oft dafür, von meiner Migräne genervt zu sein.“

    Betroffene sagt: Es hilft, die Migräne zu personifizieren

    Um dem Dilemma zu begegnen, half es Ringelsiep, die Migräne zu personifizieren. Deswegen spricht sie auch von einem „Beziehungsdreieck“ - sie, er und „die unangekündigte Besucherin, die ab und zu auf der Matte steht“. Für die 39-Jährige ist das eine Erleichterung, denn: „In dem Moment, in dem man die Migräne als einen dritten Part in der Beziehung begreift, hat man das Recht, auf diesen Teil wütend zu sein, weil man nicht die andere Person angreift“, sagt sie. „So können wir beide auf die Migräne sauer sein, und beide müssen kein schlechtes Gewissen haben. Und ich muss mich auch nicht schuldig fühlen, weil ich sie nicht eingeladen habe.“

    Gerade in der freien Zeit ist eine Migräneattacke oft vorprogrammiert.
    Gerade in der freien Zeit ist eine Migräneattacke oft vorprogrammiert. Foto: Oliver Killig/dpa-Zentralbild/dpa-tmn

    Auch für den Alltag haben die beiden Strategien gefunden: Mit zwei Autos zum Konzert zu fahren etwa, damit Ringelsiep gegebenenfalls früher gehen kann. Den Urlaub plant sie inzwischen vor. „Denn mit Migräne im 12-Bett-Schlafsaal liegen ist eine Katastrophe“, weiß die 39-Jährige. Viele ihrer an Migräne leidenden Freunde würden gar nichts mehr buchen und planen, um niemandem abzusagen und zu enttäuschen. Das möchte Ringelsiep nicht. „Ich möchte von der Migräne nicht mein Leben bestimmen lassen“, sagt die Journalistin. Sie hat akzeptiert, dass sie ihr „dazwischenfunken“ kann. „Aber ich weigere mich, von vorneherein Dinge auszuschließen, weil ich Migräne bekommen könnte.“

    Wütend, wenn es dann passiert, ist Ringelsiep trotzdem oft. Zwar bringe es nichts, ständig gegen die Migräne anzukämpfen. „Das habe ich nach 20 Jahren auch verstanden“, so die 39-Jährige. Aber gleichzeitig müsse sie die Krankheit auch nicht lieben. „Weil sie mir schon so viel versaut hat - runde Geburtstage, Heiligabend, Urlaube. Ich möchte auch mal wütend sein dürfen. Danach kann ich weitermachen.“

    Expertin ist überzeugt: Betroffene können die eigene Lebensqualität verbessern

    Auch für Studentin Katharina ist klar: Sie muss sich mit der Migräne nicht anfreunden. „Dafür ist es echt zu mies“, sagt die 30-Jährige. In Gesprächen mit anderen versucht sie inzwischen, die Emotionen mehr auszuhalten. Sie antworte dann etwa, sie habe immer noch Migräne und es sei immer noch schwierig. Eine bestürzte Reaktion versucht sie neutral abzufangen. Was ihr und Wolf wichtig ist: Dass Menschen Betroffenen zuhören und ihnen glauben, wenn sie sich mitteilen – und sich mit Ratschlägen vielleicht erst mal zurückhalten.

    Colette Andrée ist heute dankbar für ihre Migräne. „Sie hat mich stärker gemacht und mich dazu gebracht, ein Leben zu führen, wie man es führen sollte“, sagt die Schweizerin. Sie hat kreativ kochen gelernt, statt fernzusehen, geht sie ins Fitnessstudio oder in die Natur. „Ich habe durch die Migräne mehr auf meine Bedürfnisse geachtet. Und sie lehrt mich immer noch.“ Die 64-Jährige hadert nicht damit, dass sie in ihrem Alter noch immer Migräne hat - obwohl die Krankheit eigentlich irgendwann verschwindet. „Vielleicht, damit ich die Menschen am Kopfwehtelefon besser verstehe“, sagt sie und lacht. „Aber sie dominiert mich nicht mehr. Ich habe meine Angst vor ihr verloren.“

    Andrée spricht von ihrem „Porsche im Kopf“. „Es ist toll, dass ich den im Gehirn habe. Und dass ich den Porsche fahren lernen durfte. Klar, ich muss ihm Benzin geben, aber wenn ich auf die Tube drücke, bin ich auf der Überholspur unterwegs.“ Sie ist überzeugt, dass jede Migränikerin und jeden Migräniker die eigene Lebensqualität verbessern kann – und dass die Forschung auf einem guten Weg ist. Heilen lasse sich die Migräne vielleicht nicht. Aber wenn es gelingt, die Schwelle immer höher zu setzen, fühlen sich Betroffene irgendwann vielleicht auch wie geheilt. „Ich bin im Nachhinein froh, dass ich ein Migränehirn habe“, sagt Andrée. „Aber nur, weil ich weiß, wie ich damit umgehe.“

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden