Es war einmal Europa ...?

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02.10.2022

Es begann mit einem unfassbaren Erasmus-Jahr in Rennes. Damals war Europa noch eine Verheißung. Dann kamen die Rückschritte. Viele. Was vor allem fehlt: ein Gefühl.

Am Anfang war und ist ein Gefühl. Realistisch gesehen ist dergleichen leider Gedöns. Aber gerade deshalb ist das für hier, vielleicht, kein schlechter Ansatz. Mangel an Realpolitik ist in der Europäischen Union nun wirklich nicht zu beklagen.

Am Anfang war eine richtig schöne Tüte, eine perfekt gekühlte Flasche Muscat und da war Frankreich. Die Westküste, mit ihren Winden, der Atlantik in luzidem blau. Am Anfang war Rennes, das Institut d’études politiques, der Beginn dieses unfassbaren Erasmus-Jahres.

Da waren Micuzzo (Italien), Camille (Frankreich), Anna und Katrin (Deutschland), Guzmán (Spanien) Jemma (Großbritannien) oder Sebastian (Frankreich). Wir waren ein paar Dutzend Teilnehmer eines Studentenaustauschs, gefördert von der Europäischen Union. Wir kamen vom ganzen Kontinent, von Übersee, aus Australien und Mexiko. Zwei Russinnen waren auch dabei. Leider habe ich ihre Namen vergessen.

"L´auberge espagnole" von Cédric Klapisch war der Film dieser Erasmus-Generation

Der Anfang, mon dieu, liegt 20 Jahre zurück. Liberté toujours? Lange her. Länger noch als die allerletzte Gauloise rouge. Am Anfang war Cédric Klapischs „L´auberge espagnole“, ein Film, der das Gefühl einer ganzen Erasmus-Generation einfing. Eine WG mit einem Italiener, einer Engländerin, einem Deutschen, einer Katalanin, einem Dänen, einer Belgierin und einem Franzosen. In Barcelona. Dieses Jahr, unser Jahr, war so wie in diesem Film. Nur nicht in Katalonien, sondern in der Bretagne. „Erasmüüüüs“? – Mais oui!

Am Anfang meiner Zeit als Europäer war eines der glücklichsten Jahre meines Lebens. Und ich weigere mich zu glauben, dass aus dem, was davon geblieben ist, nichts mehr werden könnte. Auch wenn der Feind im Kreml dagegen mobil macht. Das hier ist eine Verlust-Recherche. Im Rückwärtsgang nach vorne, wenn man so will. Auf der Suche nach meinem Europa: Was war es für mich damals? Für die anderen? Was ist es heute? Und was nur soll aus ihm werden?

In Kurzform: Es war eine Verheißung. Dann kamen die Rückschritte. Und heute müssen wir uns zusammenreißen. Heute steht Italien, Gründungsland der Europäischen Union, die drittgrößte Volkswirtschaft Europas, vor der Machtübernahme durch Rechtsextreme.

Anna schreibt: Europa war damals für mich die „United States of Europe“. So war ich da drauf. Euphorie. Alle sind eins. Nie wieder Krieg. Krieg ist was für Anfänger, Tiere. Heute habe ich das Gefühl, es war nur eine Illusion. Und dass ich dumm war.

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Foto: Roman Babakin, AdobeStock
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Rennes ist der nostalgisch verklärte europäische Sehnsuchtsort



Es ist für mich schwer zu trennen, was war. Das Jahr in Rennes ist so verklärt, dass es ein bisschen dauert, die Nostalgie-Schichten abzutragen. So viele neue Menschen, so viele neue Geschichten. Das bis dahin allgegenwärtige – und von dem ein oder anderen Schüleraustausch nur umso spürbarer gewordene – Fernweh endlich gestillt. Fast jeden Tag gab es irgendwo ein Fest, ein Abendessen, Micuzzo, Sizilianer, hatte wieder gekocht. Die bis dahin beste Pasta habe ich in Frankreich gegessen. Gefeiert, klar, wurde viel. Wir haben jedes Studenten-Klischee summa cum laude erfüllt. Terranova auf den Transmusicales. Midnight Melodic.

Die prägendste Erfahrung: Zum ersten Mal auf französisch denken

Gelesen wurde auch. Viel mehr als jemals später, viel diskutiert. Meine WG-Mitbewohner im an betonierter Hässlichkeit kaum zu überbietendem Quartier-Villejean waren sehr hilfsbereite Französisch-Lehrer. Sous-le-Soleil de St. Tropez schauen half, Camille auch. Eine der prägendsten Erfahrungen war der Moment, als ich zum ersten Mal auf französisch dachte, später dann träumte. Eine neue Welt tat sich auf. Das war der Anfang.

Während dieses Jahres tagte übrigens auch der Konvent. Zwischen Februar 2002 und und Juli 2003 wurde ein Verfassungsentwurf für Europa erarbeitet. Das Ergebnis ist bekannt: 2005 lehnten ausgerechnet die Franzosen den Entwurf via Referendum ab. Der damalige Präsident Jacques Chirac hatte sich verzockt. Es war der Anfang vom vorläufigen Ende. Zurück in Deutschland schrieb ich meine Abschlussarbeit. Es ging um die invocatio dei, die Diskussion um einen Gottesbezug in der Präambel dieses nie ratifizierten Europäischen Verfassungsentwurfs. Egal wie man dazu steht, ein bisschen Hilfe von oben hätte der EU damals nicht geschadet. Heute erst recht nicht.

Anna hat noch mal nachgedacht: Tatsächlich macht mich das ganze EU-Thema echt traurig. Aber desillusioniert bin ich nicht, das wäre falsch zu schreiben. Ich sehe alles differenzierter, aber das Potenzial ist mehr denn je sichtbar. Eigentlich unsere einzige Chance.

Mit dem TGV von Rennes nach Paris und zurück

Ist das so? Ist Europa, die Europäische Union, unsere einzige Chance? Woran fehlt es? – Mein bester Freund war damals an der Sciences Po Paris. Der TGV ist von Rennes schnell in der Hauptstadt. Jochen wohnte damals bei einem Maler im 17. Arrondissement. Der ältere Herr war sehr diskret und es störte ihn nicht, wenn wir bis tief in die Nacht an Konzepten für eine europaweit erscheinende Tageszeitung feilten. Ohne eine europäische Öffentlichkeit, keine europäische Identität. 

Nicht unsere Idee, schon klar, aber das umsetzen, Jürgen Habermas dabei helfen, das war die Mission. Wenn das geklärt war, die Zukunft Europas dank unseres bescheidenen Zutuns vorgezeichnet schien, konnte man ab dem frühen Morgen bei Baguette und Rotwein zum Frühstück „Verhandlungssache“ schauen. Samuel L. Jackson in einer seiner bombastischeren Auftritte. Aus der Zeitung wurde nichts, wir aber Journalisten. Ob es eine europäische Öffentlichkeit inzwischen gibt? Tendenz, eher nicht.

Katrin: Europa war für mich in Rennes vor 20 Jahren so viel mehr, als es heute für mich ist. Das ist vielleicht dem jugendlichen Leichtsinn geschuldet, aber tatsächlich auch dieser ganz, ganz besonderen Stimmung aus Freiheit und Neuanfang, das Leben mit einer vollkommenen Selbstverständlichkeit mit anderen zu teilen. Europa war für mich ein großes Projekt, mehr als ein Staatenbund, natürlich noch kein Bundesstaat, aber es war auf dem Weg zu einer Vervollkommnung. Ich hätte mir damals gut vorstellen können, dass die Leute, mit denen wir damals studiert haben, Europa zu dem machen, was es auch institutionell sein sollte, nämlich eine Gemeinschaft mit großen Idealen, basierend auf einem gemeinsamen Wertesystem. Heute glaube ich das nicht mehr. Liegt vielleicht am Alter, liegt vielleicht auch an den Pandemiejahren, die einen so in die eigene Minigeografie reduziert haben, an dem kleinen Ort, an dem man einfach ist. Europa ist für mich als Idee nicht gescheitert, aber in den großen Fragen ist Europa irgendwie nicht weitergekommen. Im Gegenteil, mir macht das alles große Angst. Schweden, jetzt Italien. Ich habe Angst vor dem Rückfall in alte düstere Denkweisen, die allem widersprechen, was ein der Menschenwürde verpflichtetes Europa sein sollte.

Die Leichtigkeit ist so was von weg. Katrin, Anna, Micuzzo und ich vor 20 Jahren nachts auf der Kaimauer von Saint-Malo. Auflaufende Flut. Der Tidenhub hier ist gewaltig. Die Küstenwache wird auf uns aufmerksam. Wenn da eine Gefahr war, haben wir sie nicht bemerkt. Wellen sind Wunder, solange sie nicht über einem brechen.

Wie sollte Europa sein, wenn es nicht ist, was es sein könnte? Die institutionellen Unzulänglichkeiten, die außenpolitische Schwäche. Der Überfall Russlands auf die Ukraine. Die tausenden Toten. Die tausenden toten Flüchtlinge im Mittelmeer, die Lager, Frontex, die Pushbacks. Von außen betrachtet ist das lange so friedliche Europa fraglos ein Sehnsuchtsort. Mehr denn je. Aber ist es sich – außer in der Abwehrbewegung und der damit einhergehenden tief traurig machenden Überforderung – seiner selbst überhaupt hinreichend bewusst? Es gibt so große Probleme wie nie. Die permanenten Krisen waren aber zugleich lange auch der größte Treiber aller EU-Reformen. Müsste nicht jetzt, wann, wenn nicht jetzt, endlich ein gestaltendes, mutiges Selbstbewusstsein entstehen? Ein Ende der Zaghaftigkeit?

Ist Europa erwacht, Herr Sloterdijk?

„Falls Europa erwacht – Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence“ ist der Titel eines Essays von Peter Sloterdijk. Geschrieben 1994, aktueller denn je. Ein Treffen in Berlin. Sloterdijk bittet auf die Veranda. Im Garten steht noch Kinderspielzeug herum. Bis vor kurzem hatten die Sloterdijks ukrainische Flüchtlingsfamilien beherbergt. Er blättert ein bisschen in dem Essayband, die mitgebrachte Ausgabe kennt er nicht. Der Philosoph hat sich viel Zeit genommen. 

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Foto: Roland Schlager, APA, dpa
Foto: Roland Schlager, APA, dpa

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat schon vor Jahrzehnten danach gefragt, ob Europa erwacht.

Es wird ein längeres Gespräch. Auf die Frage, ob Europa also am 24. Februar endgültig erwacht, aus der „Absenz-Phase“ herausgetreten sei, antwortet Sloterdijk: „Der Ausdruck „Erwachen“ ist in diesem Zusammenhang am Platz. Die vage große Konstruktion ist in der Seele der Teilnehmer an der Basis nicht einfach zu verankern. Ohne Weckrufe, anders gesagt: Ohne exogenen Stress, also Identitätsbildung unter äußerem Druck, kann das Unternehmen sich nicht so leicht im Bewusstsein der Bürger einprägen. 

Dies entspricht der psychopolitisch fast allgemeingültigen Erkenntnis, dass Nationen und Bündnisse von Nationen besonders dann ein Identitätsgefühl entwickeln, wenn sie einen Feind haben. Sobald man sich gegen etwas positioniert, entsteht ein stärkerer Zusammenhalt, als wenn man kein Wogegen hat.“ Und er fügt hinzu: „So gesehen hat Putin den Europäern am 24. Februar ein riesiges Geschenk gemacht. Er hat sie daran erinnert, dass es manchmal darauf ankommt, Differenzen zurückzustellen und ein gemeinsames Projekt, einen gemeinsamen Kampf zu bestreiten.“

Europas Seele pflegen? Der Sound ist realpolitisch.

Das Problem, mein Problem, ist: Ich finde Sloterdijk hat recht, die Europäer bestreiten ihr gemeinsames Projekt, einen gemeinsamen Kampf, aber – zurück zum Anfang – man spürt so wenig davon. Politisch ist in den vergangenen Monaten sicher viel mehr Gemeinsames erreicht worden, als gedacht. Die Sanktionen gegen Russland, die Aktivierung der Massenzustromrichtlinie, um die ukrainischen Flüchtenden unkompliziert zu versorgen. Es geht viel, wenn es sein muss. Aber der Sound ist realpolitisch. Das ist die allermeiste Zeit auch gut so. Kein Mensch braucht leidenschaftliche Sonntagsreden, die Hoffnungen ohne Aussicht auf Erfüllung wecken.

Zum Glück musste keiner hierzulande bisher den Satz sagen: Ich brauche kein Taxi, ich brauche Waffen. Aber von Wolodymyr Selenskyj lernen heißt auch: reden lernen. Die europäische Seele pflegen. Emmanuel Macron kann das. Angela Merkel konnte es eher gar nicht. Olaf Scholz’ Auftritt an der Karls-Universität in Prag ist, gemessen an Merkel, ein Fortschritt. Gemessen am tatsächlichen Bedürfnis aber unzureichend.

Das Absurde ist, dass ich mein Europäischsein als die Überwindung jedes Nationalismus, eines irgendwie gearteten Stolzes, empfunden habe, mir genau dieser aber für Europa fehlt. Nicht die Sorte Stolz einer Giorgia Meloni, den sie in der Nacht ihres Wahlsieges den Italienern, die sie tatsächlich gewählt haben, meinte, einreden zu müssen. Ich meine eher die Freude, die man als Fan von etwas empfindet. Ich hatte schon feuchte Augen als ich mit einer deutschen, einer französischen und einer italienischen Fußballnationalmannschaft gefiebert habe. Vielleicht bin ich einfach nah am Wasser gebaut, aber dieses Gefühl, das eine Gemeinschaft braucht, hängt nur an den Leuten, die einem wichtig sind. Egal wo. 

Aber um diese Erfahrung zu machen, muss man woanders gelebt haben. Dann lernt man, den Wert dessen zu schätzen, was gerade existenziell bedroht ist. Und man übernimmt im Alltag die Perspektive des anderen, versteht, warum zum Beispiel die mit den Flüchtenden viel zu lange allein gelassenen Südeuropäer auf belehrende Töne aus dem Norden gerne verzichten.

Erasmus+ ist wichtiger als jeder EU-Vertrag

Erasmus, „Erasmus+“, wie es heute offiziell heißt, gibt es dankenswerterweise nicht nur für Studierende. Es gibt es für Azubis, für Handwerker, wer will, kann. Ein persönlicher Aufbruch nach Europa hängt nicht am wirtschaftlichen Hintergrund oder am Alter. Das Programm ermöglicht seit 35 Jahren vielen die Chance. Man muss sie nur ergreifen. Erasmus, so wie ich es erleben durfte, ist für Europa wichtiger als jeder Vertrag. 

Micuzzo: Vor zwanzig Jahren waren wir alle davon überzeugt, dass wir in zwanzig Jahren alle Europäer sein würden. Warum hat sich in all diesen Jahren nichts verändert? Sicher hat unsere Generation nichts bewirkt, aber auch die Struktur der Europäischen Union funktioniert nicht. Sie gleicht eher einem bürokratischen Apparat. Das Problem liegt in der DNA, der Struktur. Die Macht der nationalen Regierungen ist entscheidender. Das starke Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich ist verschwunden. Vor allem aber fehlt der Wille, etwas zu ändern.

Geert Mak: "Der Albtraum ist jetzt Realität"

Wer wie kaum ein anderer seit Jahrzehnten Europa, seinen Veränderungen, nachforscht, ist Geert Mak. Der niederländische Publizist hatte sich vor 20 Jahren auf eine einjährige Reise gemacht und folgte damals dem, was das vergangene Jahrhundert aus unserem Kontinent gemacht hat. Verdun, Versailles, Stalingrad, Auschwitz. Es war nicht nur eine Reise zu den Orten unbeschreiblichen Leids, unvergesslicher Schuld. Aber den Sinn Europas, den Urgrund der Union – Frieden zu halten – versteht man nur dort.

Knapp zwei Jahrzehnte später war der 75-Jährige wieder unterwegs: „Große Erwartungen – Auf den Spuren des Europäischen Traums“. Mak schreibt über das, was seit 1999 verpasst wurde, die Verwerfungen der Finanzkrise, beschreibt das multiple Scheitern bis in die Pandemie. Es ist eine kritische Bilanz, aber mit einem warmen Blick für die Europäer.

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Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

Niederländischer Autor Geert Mak kennt Europa wie kaum ein Zweiter.

Dann kommt der Krieg. Auch Geert Mak und ich brauchen keine Minute und das Gespräch verharrt beim russischen Überfall auf die Ukraine. Eine gute Weile später antwortet er auf die Frage, was denn nun aus dem europäischen Traum werde: „Für mich geht es nicht mehr um den Traum. Der ist vorbei. Der Albtraum ist jetzt Realität. Europa ist kein Ideal mehr, sondern ein System, um zu überleben. Wir leben in einer gefährlichen Realität. Wir müssen zusammenbleiben, um zu überleben.“ 

Er benennt die institutionellen Probleme, die Konstruktionsfehler beim Euro, bei der Flüchtlingspolitik und natürlich im politischen System: „Man hat eine halbe Föderation errichtet, ohne föderale Entscheidungssysteme.“ Die Europäische Union ist ein wichtiger geopolitischer Spieler, sagt Mak weiter, sie muss deshalb schnell reagieren können. „Europa ist eine Großmacht wider Willen, aber eine Großmacht.“ Die Reformdebatte zu den Institutionen ist endlos. Eines der Kernprobleme benennt natürlich auch er: In der Außen- und Sicherheitspolitik müssen Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Gerade das verhindert, sich von den USA als Schutzmacht, die bisher noch immer alle Probleme gelöst hat, zu emanzipieren. Dabei eilt es sehr, findet auch er: „Die Zeit, diese Fehler zu korrigieren, die ist jetzt. Das Zeitfenster ist klein, die USA wählen 2024 einen neuen Präsidenten.“

Wenige kennen Europa so gut wie Mak. Was auch er vermisst: Politiker, die den europäischen Traum verkörpern. Die in der Krise das Herz der Europäer erreichen. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben: „Wer hätte von Wolodymyr Selenskyj gedacht, dass er zu dem imstande ist, was er leistet.“

Es geht nicht um einen neue starke Frau, einen neuen starken Mann: Es geht darum, Europa besser zu erzählen

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Mir geht es nicht um die Sehnsucht nach einer starken Frau oder einem starken Mann, im Gegenteil: Es geht letztlich noch immer darum, Europa besser zu erzählen. Schon 2001, vor dem Konvent, schrieb Jürgen Habermas in einem Essay: „Die überwiegend ablehnende oder wenigstens zögernde Bevölkerung kann für Europa nur gewonnen werden, wenn das Projekt aus der blassen Abstraktion von Verwaltungsmaßnahmen und Expertengesprächen herausgelöst, also politisiert wird.“ Habermas erklärte dort, warum Europa eine Verfassung braucht. Eine seiner Antworten lautete: „Nur als politisches Gemeinwesen kann der Kontinent seine in Gefahr geratene Kultur und Lebensform verteidigen.“

21 Jahre später bleibt die Frage: Wann denn, wenn nicht jetzt?

An einem der letzten Tage, das Jahr war fast vorbei, sind wir zur Côte de Granit Rose gefahren. Ich weiß nicht mehr, wer alles dabei war, es waren die meisten. Aber ich weiß, dass das Licht perfekt war, die Felsen leuchteten. Rose. C´est trop? Zuviel? Natürlich ist das kitschig, war aber so. Weg wollte keiner. Aber alle fuhren. Zurück nach Europa. Selbst wenn das dann in Sidney lag.

Eine Neugründung der EU à la Macron? Ein neuer Verfassungskonvent?

2017 hatte Emmanuel Macron in seiner berühmten Sorbonne-Rede eine Neugründung Europas gefordert. Deutschland hat sich mit der Antwort fünf Jahre Zeit gelassen. Bis zu Scholz´ Prager Rede, wenn man so will. Fünf Jahre. Es gibt so viele gute Projekte und Ideen. Es gab gerade erst die Konferenz zur Zukunft Europas, dabei auch die Initiative „Jeder Mensch“ von Ferdinand von Schirach. Der legte im Frühjahr 2021 ein kleines Manifest vor, das beides hat. Macrons Leidenschaft, den Mut zu Träumen, und Merkels von Scholz fortgesetzte ausdauernde Sachlichkeit. Von Schirach und seine Mitstreitenden wollen der Europäischen Union sechs neue Grundrechte geben: „Die Politik scheint mit sechs der größten Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr zurechtzukommen: Umweltzerstörung, Digitalisierung, Macht der Algorithmen, systematische Lügen in der Politik, ungehemmte Globalisierung und Bedrohungen für den Rechtsstaat.“ Auch so kann man neu beginnen.

Bei ihrer „State of the Union“-Rede sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mitte September: „ Es ist an der Zeit, das europäische Versprechen zu erneuern. Und wir müssen auch die Art und Weise, wie wir handeln und entscheiden, verbessern. Manche sind vielleicht der Ansicht, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt sei. Aber wenn wir uns ernsthaft auf die Welt von morgen vorbereiten wollen, müssen wir auch in der Lage sein, die Dinge anzugehen, die für die Menschen am wichtigsten sind. Und da wir ernsthaft eine Erweiterung der Union ins Auge fassen, müssen wir uns auch ernsthaft um Reformen bemühen. Daher bin ich der Ansicht, dass – wie von diesem Parlament gefordert – die Zeit für einen Europäischen Konvent gekommen ist.“ Kein Widerspruch.

Für Geert Mak ist Odessa einer der europäischsten Orten

Geert Mak hat drei Orte, die für ihn sind wie für mich Rennes. Amsterdam, Berlin und Odessa. Die ukrainische Hafenstadt am Schwarzen Meer. „Odessa ist immer eine internationale Stadt gewesen, eine fantastische Kombination aus ukrainischer Kultur, russischer Kultur, jüdischer Kultur und französischer Kultur.“ Mak ist einige Male dort gewesen. „Es war immer eine sehr pulsierende Stadt, voll mit Literatur, voll mit Geschichte, tolle Leute. Es ist kein Zufall, dass sie den Ukrainern in diesen Zeiten so wichtig ist. Für mich ist Odessa immer ein Symbol für das lebende, leuchtende und inspirierende Europa gewesen.“

Katrin: Der europäischste Ort für mich ist kein geografischer Ort. Er befindet sich in den Köpfen von meinen engsten Freunden, die sich alle so als Europäer fühlen wie ich.

Ich bin nie nach Rennes zurückgekehrt. Ich wollte, aber ich konnte nicht. Ich sollte. Es wäre ein neuer Anfang.

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Lektüreempfehlungen in Sachen Europa

Wer sich Europa erlesen möchte, hat eine wirklich große Auswahl. Gerade, um die osteuropäische Perspektive besser zu verstehen, ist eines der aufschlussreichsten Bücher nach wie vor „Europadämmerung“ (Suhrkamp) von Ivan Krastev, ein extrem dichter Essay, in dem der Bulgare die Bruchlinien des Kontinents markiert. Krastev ist Politologe, Politikberater und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

Wer länger unterwegs sein möchte, kann das mit Geert Mak sein. Der weit über die Niederlande hinaus bekannte Journalist und Sachbuchautor hat unter anderem zwei große historische Analysen vorgelegt: „In Europa – Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“ und – zwei Jahrzehnte später: „Große Erwartungen – Auf den Spuren des Europäischen Traums“ (beide Siedler-Verlag). Auf seiner zweiten großen Reise ist man mit Mak zu Beginn im norwegischen Kirkenes, 50 Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Kirkenes sei das „Zentrum der Peripherie Europas“, eine Art Testlabor für das besondere Verhältnis zwischen Russland und Europa, sagt der Chefredakteur der örtlichen Internetzeitung zu Mak. Und fügt hinzu: „Alle Veränderungen spüren wir hier zuerst, viel früher als die Menschen in Berlin, Washington oder Moskau.“ Das war 2018. 

Mak holt aber viel weiter aus. Sein Buch ist eine sehr kritische Bestandsaufnahme der Zeit zwischen 1999 und 2019, gerade wenn es um die Ursachen (Gier) und Verwerfungen der Banken-, Schulden- und Eurokrise geht. Zugleich lernt man sehr viele Europäer kennen, denen man gerne persönlich die Hand schütteln würde. Mak erhielt 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 

Sehr zu empfehlen ist – immer, aber hier besonders – der bereits vielfach ausgezeichnete Deutsch-Iraner Navid Kermani: „Entlang den Gräben – Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“ (Beck). Kermani macht sich von seiner Heimatstadt Köln auf nach Isfahan, wo seine Eltern herkamen. Dabei führt ihn sein Weg auch durch die Ukraine.

Schließlich sei hier auf den für das Interview zentralen Essay von Peter Sloterdijk hingewiesen. Unter dem Titel „Falls Europa erwacht – Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence“ hat Sloterdijk 1994 eine immer noch aktuelle Analyse vorgelegt. Der Philosoph Sloterdijk, geboren 1947, ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Publizisten. Er ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er bis 2015 als Rektor leitete. Zuletzt erschien von ihm „Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre“ (Suhrkamp). 

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