Erst alle Älteren? Oder besser Ärzte und Krankenschwestern? Vorrangig die am stärksten betroffenen Länder oder alle gleichzeitig? Noch ist kein umfassend geprüfter Impfstoff gegen Sars-CoV-2 verfügbar. Doch schon jetzt wird darüber diskutiert, nach welchen Kriterien ein möglicher Impfstoff einmal verteilt werden und wer diesen zuerst bekommen sollte. Ein Vorschlag kommt von einem Team internationaler Ethiker: Im Fachblatt Science stellen sie ein dreistufiges Modell vor, das sich vor allem daran orientiert, Todesfälle und die Folgen einer schweren Covid-19-Erkrankung zu verhindern.
Derzeit wird weltweit an mehr als 170 Impfstoffkandidaten gearbeitet, bei denen unterschiedliche Ansätze verfolgt werden. Als einziges Land hat Russland bereits einen Impfstoff freigegeben und will in Kürze mit Impfungen beginnen – ungeachtet der internationalen Kritik aufgrund der unzureichenden klinischen Prüfung des Wirkstoffs. Welche der anderen Testkandidaten letztendlich zugelassen und wie effektiv diese sein werden, ist derzeit noch unklar. Viele Experten gehen davon aus, dass ein oder mehrere Kandidaten bis Anfang 2021 in der Europäischen Union zur Verfügung stehen werden. Erkennbar ist aber schon jetzt, dass die Menge an Impfstoffen zumindest zu Beginn begrenzt sein wird. Umso lauter werden die Forderungen an die Weltgesundheitsorganisation WHO, an Regierungen und Impfmittel-Hersteller nach einer fairen und gerechten Verteilung.
Sind "übliche erwartete Lebensjahre" bei der Verteilung von Impfungen ausschlaggebend?
19 internationale Ethiker um den Mediziner Ezekiel Emanuel von der US-amerikanischen University of Pennsylvania schlagen nun ein von ihnen "Fair Priority" getauftes Modell vor. Es umfasst drei zentrale Werte, die als Leitlinien bei der Impfstoff-Verteilung unter den Ländern gelten sollten: der Nutzen für die Menschen und die Begrenzung von Leid, die Priorisierung von Benachteiligten und die gleiche moralische Sorge für alle Menschen.
Die Anwendung dieser drei Werte bedeutet im Modell der Wissenschaftler, sich auf die Minderung von drei Folgeschäden von Corona zu fokussieren. Erstens müsse es darum gehen, den Tod und dauerhafte Organschäden von Betroffenen zu vermeiden. Der zweite Faktor umfasse die indirekten gesundheitlichen Folgen durch Belastungen des Gesundheitssystems sowie drittens schließlich wirtschaftliche Schäden.
Aus der Priorisierung jener drei Faktoren ergeben sich für die Autoren des Science-Artikels drei Phasen der Impfstoff-Verteilung. In der ersten Phase sollte es vor allem darum gehen, vorzeitige Tode und schwerwiegende gesundheitliche Folgen zu verhindern. Daher sollten für jedes Land die zu erwartenden vorzeitigen Todesfälle durch Covid-19 mittels Berechnung der "üblichen erwarteten Lebensjahre" ermittelt werden, einer häufig verwendeten globalen Gesundheitsmetrik. Jene Länder, in denen eine Impfstoff-Dosis mehr übliche erwartete Lebensjahre erhalten würde, sollten Priorität bekommen.
Zuletzt werden Länder mit erhöhten Übertragungsraten priorisiert
Für Phase zwei schlagen die Autoren vor, zwei Metriken zum Maßstab zu nehmen, nämlich zum einen die gesamtwirtschaftliche Verbesserung und zum anderen das Ausmaß, in dem Menschen durch eine Impfung von Armut verschont blieben. In der dritten und letzten Phase sollten zunächst Länder mit höheren Übertragungsraten priorisiert werden, aber alle Länder schließlich genügend Impfstoffe erhalten, um die Übertragung zu stoppen – was vermutlich voraussetze, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung eine Immunität aufgebaut hat.
Medizinethiker Emanuel und seine Kollegen stellen sich damit gegen andere Vorschläge, denen zufolge etwa zunächst vor allem das medizinische Personal eines Landes oder Angehörige von Hochrisiko-Gruppen wie etwa Ältere geimpft werden sollten. Gerade das medizinische Personal in wirtschaftlich starken Ländern habe oft bereits Zugang zu hinreichend wirksamen Schutzmaßnahmen gegen das Virus, sodass deren Impfung vermutlich keine große Wirkung zeigen würde. Darüber hinaus hätten gerade Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen häufig weniger ältere Einwohner und weniger medizinisches Personal. "Am Ende geben Sie den reichen Ländern viel Impfstoff, was nicht das Ziel einer fairen und gerechten Verteilung zu sein scheint", erklärt Emanuel.
Unterschiedliche Todesfall-Zahlen und ökonomische Folgen bei gleicher Ländergröße
Ebenso lehnen die Autoren den Vorschlag der WHO ab, die Menge der Impfdosen an der Bevölkerungsgröße eines Landes auszurichten. "Die Idee, Impfstoffe nach Bevölkerungsgrößen zu verteilen, scheint eine gerechte Strategie zu sein", so Emanuel. "Tatsache ist jedoch, dass wir die Dinge normalerweise danach verteilen, wie schwer das Leiden an einem bestimmten Ort ist, und in diesem Fall argumentieren wir, dass das primäre Maß für das Leiden die Anzahl der vorzeitigen Todesfälle sein sollte, die ein Impfstoff verhindern würde." Der WHO-Plan lasse außer Acht, dass die Situation in verschiedenen Ländern unterschiedlich sei: Länder mit ähnlicher Bevölkerungsgröße hätten dramatisch unterschiedliche Todesfall-Zahlen und ökonomische Folgen.
Möglichen Kritikern, die meinen, ethische Maßstäbe seien angesichts des zu erwartenden "Impfstoff-Nationalismus" ohnehin irrelevant, entgegnen die Autoren, dass ihr Modell spätestens dann an Bedeutung gewinne, wenn der R-Wert – die Reproduktionszahl – innerhalb eines Landes unter 1 falle. Das bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel weniger als eine weitere Person ansteckt und die Epidemie damit langsam abflaut. Dann gebe es für Regierungen kein Grund mehr, einen Impfstoff zurückzuhalten. "Wenn eine Regierung die Grenze der nationalen Präferenz erreicht hat, sollte sie Impfstoffe für andere Länder freigeben", schreiben die Autoren.
Schon jetzt ist allerdings zweifelhaft, ob alle Länder nach dieser Maxime handeln würden. So haben etwa die USA angekündigt, sich nicht an der internationalen Impfinitiative Covax zu beteiligen. Covax wird federführend von der WHO sowie den Impf- und Forschungsallianzen Gavi und Cepi getragen und soll einen weltweiten und fairen Zugang zu einem wirksamen Impfstoff gewährleisten. Die Europäische Union will die Initiative mit Garantien in Höhe von 400 Millionen Euro unterstützen. Gleichzeitig hatte sich die EU-Kommission bereits im Frühjahr auf das Ziel eines "Impfstoffs für alle" verständigt. In diesem Rahmen ist geplant, rund zwei Milliarden Impfstoff-Einheiten bis Ende 2021 von verschiedenen Herstellern gemeinsam einzukaufen, um eben den befürchteten „Impfstoff-Nationalismus“ gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Wie reaktionsfähig, sicher und effektiv werden die Impfstoffe sein?
Innerhalb Deutschlands befasst sich die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut (RKI) mit den ethischen Aspekten der Verteilung eines möglichen Impfstoffs. Dazu gehörten auch Empfehlungen zur Priorisierung bei vermutlich limitierten Impfstoffmengen, heißt es in einer Stellungnahme. "Bei der Covid-19-Impfung sind ethische Aspekte von besonderer Bedeutung, weil die Pandemie in vielen Lebensbereichen der Menschen einschneidend wirkt und daher ein besonderer Bedarf einer gerechten Verteilung der Impfstoffe bei limitierten Impfstoffmengen besteht." Ziel einer Priorisierung sei es vor allem, durch eine gezielte Nutzung bei möglicherweise eingeschränkter Verfügbarkeit der Impfstoffe zur bestmöglichen Vermeidung von schweren Erkrankungen und Todesfällen beizutragen. Ein Modell zur Bewertung des maximalen Nutzens einer Impfung werde vom RKI derzeit in enger Abstimmung mit der STIKO erarbeitet.
Zu den Unsicherheiten eines solchen Modells gehört die Frage, wie effektiv ein möglicher Impfstoff sein müsste, um die Pandemie wirkungsvoll eingrenzen zu können. Hierzu gibt es bereits erste Modellszenarien. So berechneten US-amerikanische Wissenschaftler um Laura Matrajt vom Fred Hutchinson Cancer Research Center, dass ein Impfstoff mit einer Wirksamkeit von 50 Prozent bereits ausreichen würde, um die Pandemie erheblich einzudämmen. Dafür müsse allerdings ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung optimal geimpft sein, so die Forscher in einer bisher noch nicht von unabhängigen Gutachtern geprüften Preprint-Veröffentlichung. Allerdings, das betonen auch deutsche Experten, sei das Modell stark vereinfacht und gehe zum Teil von Annahmen aus, die nicht unbedingt der Realität entsprächen oder auf die Situation in den USA zugeschnitten seien.
"Die Wahrheit ist, dass uns immer noch Informationen für eine genaue Planung und/oder die Ableitung universeller Strategien oder Empfehlungen für Covid-19-Impfungen fehlen", sagt etwa Carlos A. Guzman, Leiter der Abteilung Vakzinologie und Angewandte Mikrobiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. So seien beispielsweise der Prozentsatz der infizierten Personen, die schwer an Covid-19 erkranken, sowie die Sterblichkeitsraten je nach lokalen und regionalen Faktoren sehr unterschiedlich. Darüber hinaus variierten die Immunreaktionen nach einer Infektion zwischen leichten und schweren Covid-19-Infektionen. "Vor allem fehlen uns aber wesentliche Informationen über die Reaktionsfähigkeit, Sicherheit und Effektivität der potenziellen Corona-Impfstoffe."
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