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Wissenschaft: Warum wir im "Zeitalter der Pandemien" leben

Wissenschaft

Warum wir im "Zeitalter der Pandemien" leben

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    Blick auf neu gegrabene Gräber auf dem Friedhof Santa Ines in Chile inmitten der Corona-Pandemie.
    Blick auf neu gegrabene Gräber auf dem Friedhof Santa Ines in Chile inmitten der Corona-Pandemie. Foto: picture alliance/dpa/Agencia Uno | Miguel Moya (Archiv)

    Die derzeitige Corona-Pandemie ist wohl für viele Menschen in Deutschland die erste Epidemie, die sie unmittelbar stark betrifft. Aber die Welt – oder große Teile davon – war in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit Infektionskrankheiten konfrontiert, mit Aids, Sars, Ebola oder Zika. Der britische Medizinhistoriker Mark Honigsbaum beschreibt in seinem überaus lesenswerten Buch „Das Jahrhundert der Pandemien“ etliche davon, wobei sich das Jahrhundert auf die gut 100 Jahre zwischen 1918 und 2019 bezieht.

    Die aktuelle Sars-CoV-2-Pandemie wird also noch berücksichtigt – und er-scheint nach der Lektüre des Buches durchaus in einem etwas anderen Licht. Das liegt vor allem daran, dass der Autor nicht einfach nur einen simplen chronologischen Überblick über diverse Epidemien gibt, sondern nach zehnjähriger Recherche den Verlauf dieser Ausbrüche geradezu akribisch dokumentiert: Von der Beschreibung erster rätselhafter Fälle, von der Detektivarbeit mancher Forscher bei der Suche nach der Ursache, von falschen Fährten und dem Wirken mächtiger Lobbygruppen, die um ihre Pfründe fürchteten.

    Das begünstigt die Verbreitung von Pandemien wie Corona

    Das liest sich über weite Strecken spannender als ein Krimi – nicht zuletzt, weil jede Leserin und jeder Leser wohl die derzeitige Situation vor Augen hat.

    Aber Honigsbaum hat nicht nur ein spannendes Buch geschrieben, sondern auch ein sehr kluges. Darin zeigt er zwar detailliert auf, wie sehr sich einzelne Pandemien voneinander unterscheiden. Aber das zentrale Anliegen ist es, jene Faktoren herauszuarbeiten, die die Entstehung von Seuchen begünstigen, ihre Aufklärung verschleiern und ihre Bekämpfung erschweren – und da gibt viele Parallelen.

    Mark Honigsbaum: Das Jahrhundert der PandemienPiper, 480 S. 24 Euro
    Mark Honigsbaum: Das Jahrhundert der PandemienPiper, 480 S. 24 Euro Foto: Piper-Verlag

    „All diese Epidemien zeigen, wie rasch das anerkannte medizinische Wissen durch das Auftauchen neuer Pathogene auf den Kopf gestellt werden kann und wie ungewöhnlich erfolgreich solche Epidemien beim Verbreiten von Panik, Hysterie und Furcht sind, solange es keine Laborergebnisse, effektive Impfstoffe und wirksame Arzneimittel gibt“, schreibt er.

    Oft genug erschwerten medizinische Fehleinschätzungen die Aufklärung von Krankheitsursachen: im Falle der Spanischen Grippe dem Buch zufolge etwa der einflussreiche deutsche Bakteriologe Richard Pfeiffer, der glaubte, in dem von ihm entdeckten Bakterium Haemophilus influenzae die Ursache gefunden zu haben.

    In Westafrika weigerten sich 2014 viele Experten und sogar die Weltgesundheitsorganisation (WHO) lange, von einer Ebola-Epidemie auszugehen – mit verheerenden Folgen. Im Fall der von Vögeln ausgehenden Papageienkrankheit Psittakose um 1930 machte der US-Vogelzüchterverband die Fantasie der Presse verantwortlich. Und wie schnell eine Pandemie zur Stigmatisierung von Minderheiten führen kann, zeigt das Beispiel Aids.

    Das Buch von Honigsmann veranschaulicht, wie abhängig Pandemien von gesellschaftlichen, medizinischen und zeithistorischen Faktoren sind – über allem steht für den Autoren jedoch der ökologische Aspekt. Denn egal ob bei Psittakose, Aids, Ebola oder Sars: Es sind etliche Umweltbedingungen, die Erregern aus dem Tierreich den Sprung zum Menschen ebnen. Und es ist die Lebensweise des Menschen, die im Fall eines solchen Spillover dafür sorgen kann, dass ein Erreger rasch um die Welt ziehen kann.

    Lehren aus Corona: Ist der Mensch der Herrscher über die Naturkräfte?

    Auch die menschliche Hybris spiele eine Rolle, schreibt Honigsbaum und zitiert den renommierten Mediziner und Mikrobiologen René Dubois (1901-1982): „Der moderne Mensch glaubt, dass er sich zum fast völligen Herrscher der Naturkräfte aufgeschwungen habe, die seine Evolution in der Vergangenheit geformt haben, und dass er nun sein eigenes biologisches und kulturelles Schicksal kontrollieren könne. Aber das könnte sich als Illusion erweisen. Wie alle anderen Lebewesen ist er Teil eines ungeheuer komplexen ökologischen Systems und durch unzählige Verbindungen mit all seinen Komponenten verknüpft.“

    Man darf gespannt sein, wie Historiker in einigen Jahrzehnten auf die der-zeitige Pandemie zurückblicken werden. (dpa)

    Mark Honigsbaum: Das Jahrhundert der Pandemien, Piper Verlag, 480 Seiten, 24 Euro

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