Unter der heißen ungarischen Sonne bewegt sich der endlose Menschenstrom langsam, aber unaufhaltsam die Autobahn entlang. Frauen und Männer, Alte und Kinder, Familien, Menschen mit Krücken, ohne Schuhe – Abertausende von Flüchtlingen sind am 4. September 2015 vom Bahnhof Keleti in Budapest aufgebrochen und marschieren Richtung Österreich, Richtung Deutschland. Wenige Stunden später, in der Nacht auf den 5. September, öffnet Ungarns Präsident Viktor Orbán die Grenze zu Österreich. Kurz darauf beginnt am Hauptbahnhof München das Chaos: Die Flüchtlingskrise erreicht Deutschland.
So war das damals.
Wir haben uns nun, fünf Jahre danach, auf den gleichen Weg gemacht. Eine Reise zurück auf den Spuren von 2015 – und in umgekehrter Richtung: von München aus nach Budapest, über damals wichtige Stationen wie Freilassing und Wien, Parndorf, Nickelsdorf und Straß-Sommerein. Um zu erfahren, wie es gewesen und was daraus geworden ist. Wir haben Helfer und Polizisten, Bahn-Chefs und Politiker getroffen, die ihren Blick auf die Geschehnisse von 2015 und die Entwicklungen seitdem schildern – und mit einem damals Flüchtenden gesprochen.
Gehen Sie mit auf eine Schicksalsreise.
München: Das Chaos
Tausende Menschen in Not zu versorgen und unterzubringen, ist schwer. Erst recht, wenn die Regierung den Helfern nicht hilft.
An die Tage nach dem Anruf vor fünf Jahren erinnert sich Robert Schmitt noch heute genau. Es waren lange Tage. Sein Telefon klingelte in der Nacht auf den 5. September 2015. Helfer, die sich routinemäßig am Münchner Hauptbahnhof um Flüchtlinge kümmerten, informierten den Präsidenten des Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks MHW, dass plötzlich hunderte von ihnen eintrafen. Schmitt fuhr sofort los. „Erst war ich einfach nur überrascht, dass es immer mehr wurden. Dann habe ich begriffen, dass das eine wirklich große Geschichte ist“, sagt er. „Wenn wir die Situation nicht sofort selbst angepackt hätten, wären die Flüchtlinge bald bis zum Marienplatz hin gestanden.“
Schmitt, heute in Jeans und Turnschuhen, das MHW-Logo auf der Brust, macht einen entspannten Eindruck. Er passt gut zur gemütlich-verschlafenen Stimmung, die gerade am beinahe menschenleeren Gleis 26 des Münchner Hauptbahnhofs herrscht. Doch die Atmosphäre scheint sich zu ändern, als er zu erzählen beginnt, wie damals die Züge regelmäßig ein- oder zweitausend Flüchtlinge ausspuckten. „Wenn ein Zug ankam, standen die Menschen hier dicht an dicht.“ Er weist mit einer ausladenden Geste den fast leeren Bahnsteig entlang. „Dass damals keiner ins Gleisbett gefallen ist, war ein Wunder.“
Der Hauptbahnhof München: zwei Wochen, 78.000 Flüchtlinge
78.000 Flüchtlinge seien innerhalb von zwei Wochen am Münchner Hauptbahnhof angekommen, sagt Schmitt. Dass ein solcher völlig unangekündigter Ansturm nur sehr schwer in den Griff zu bekommen war, liegt auf der Hand: Helfer und Material mussten aufgetrieben, die unübersichtliche Situation gut strukturiert werden. Mit der Unterstützung von der Bundesebene wollte es aber nicht so recht klappen. Umso wichtiger sei die Hilfe von anderer Seite gewesen, sagt Schmitt: „Wir hätten es nie geschafft ohne die Münchner Bürger.“
Sobald sich die Nachricht verbreitete, dass eine Flüchtlingswelle über den Hauptbahnhof hereinbrach, seien die ersten Menschen aufgetaucht, die helfen wollten. Sie brachten Lebensmittel und Kleiderspenden, viele packten selbst mit an. „Die Sicherheitskräfte haben viel zu wenig Personal gehabt, um die ankommenden Flüchtlinge zu ordnen und zu leiten. Das machten oft freiwillige Helfer in Warnwesten.“ Die Bürger hätten auch eine Volksküche betrieben, den Müll weggeräumt, die Spenden sortiert und verteilt und vieles mehr. Nach wenigen Tagen habe sich die Organisation eingespielt.
Viele der Ankommenden seien sehr erschöpft gewesen, hungrig und durstig. Als Erstes bekamen sie zu essen und zu trinken, manche brauchten außerdem Kleidung. Unter den bis zu 300 ständig anwesenden Helfern des MHW waren auch immer 50 Ärzte: Hautkrankheiten waren an der Tagesordnung, berichtet Schmitt, weil viele sich auf der Flucht nur sporadisch hätten waschen können. Einige hätten auch unversorgte Schuss- oder Stichverletzungen gehabt, die dringend behandelt werden mussten.
Und das waren nur die von außen sichtbaren Zeugnisse der strapaziösen Flucht aus Kriegs- und Krisengebieten. Schmitt erzählt von einem Erlebnis, das ihm klargemacht habe, wie sehr das Erlebte auch die Psyche vieler Flüchtlinge belastet haben müsse: „Flüchtlingskinder haben Bilder gemalt, von denen einige da hinten an eine Wand gehängt wurden. Es gab fast kein Bild ohne Blut, Tod, Panzer.“ Eigentlich hätten die meisten Flüchtlinge eine psychologische Betreuung gebraucht, um ihre Traumata aufzuarbeiten. Aber das sei bei der Erstversorgung am Bahnhof unmöglich gewesen. Sobald sie die Stationen für Verpflegung und medizinische Versorgung durchlaufen hatten, wurden sie mit Bussen vom Bahnhof gefahren, um Platz für ihre Nachfolger zu schaffen. Sie wurden zu Unterkünften in der Umgebung gebracht, von wo aus sie deutschlandweit verteilt wurden.
Weil es viel zu wenige Einsatzkräfte und oft nur dürftige Informationen gab, lief nicht immer alles glatt. „Mit 2000 Flüchtlingen auf einmal sind wir gut zurechtgekommen“, sagt Schmitt. „Aber manchmal sind zwei Züge gleichzeitig gekommen. Einmal sind 2000 Flüchtlinge aus Wien und 2500 aus Budapest ausgestiegen.“ Wenn zu viele Menschen auf einmal ankamen, sei ein Teil von ihnen ohne jede Verpflegung direkt zur S-Bahn gebracht worden. Die fuhr die Menschen zu einer Werkstatt der Deutschen Bahn in der nahen Richelstraße, die in aller Eile zu einem Versorgungsstützpunkt umfunktioniert worden war. Erst dort habe man sich dann um die Menschen kümmern können.
Doch nicht alle wollten sich helfen lassen. „Einige Flüchtlinge haben sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht und sind über die Bahngleise davongelaufen“, sagt Schmitt. Er deutet auf das Gleis neben ihm. „Hier haben wir immer wieder Pässe gefunden, die einfach weggeworfen wurden.“ Offensichtlich hatten auch Menschen, die nicht vor Krieg und Chaos flohen, das allgemeine Durcheinander genutzt und sich in die Menge gemischt.
Beinahe wurde das Oktoberfest abgesagt
Während gelegentlich ein Zug hinter ihm über die Schienen rollt, versetzt sich Schmitt weiter zurück in die Situation vor fünf Jahren. „Ich bin sehr beeindruckt von den Münchner Bürgern, sie sind in dieser Zeit über sich selbst hinausgewachsen“, lobt er seine Mitbürger. Von der Bundespolitik gibt er sich jedoch enttäuscht. Münchens Bürgermeister Dieter Reiter habe ihn von Anfang an nach Kräften unterstützt, habe aber zunächst wenig erreichen können. Erst, als Reiter damit gedroht habe, das Oktoberfest abzusagen, sei Hilfe vom Bund gekommen.
Für die Zusammenarbeit mit der Polizei findet Schmitt lobende Worte – zunächst. Sowohl die bayerischen als auch die Bundesbeamten seien sehr hilfsbereit gewesen, Schmitt spricht von einer familiären Atmosphäre. „Aber das ist nach neun Tagen gekippt, als die Bundespolizei neue Anweisungen bekam.“ Sie durfte viele Informationen nicht mehr weitergeben: Zum Beispiel wusste einige Tage lang niemand mehr, wie viele Flüchtlinge im nächsten Zug sitzen würden.
Bürgermeister Reiter habe sich in Berlin beschwert, nach zwei Tagen sei die Funkstille endlich wieder aufgehoben worden. Doch der Umgang mit der Bundespolizei sei danach nicht mehr derselbe gewesen. Während Schmitt eben noch durchaus stolz auf die gemeisterte Krisensituation wirkte, macht er nun einen eher unglücklichen Eindruck. Dass die Helfer von der Politik so im Stich gelassen wurden, habe ihn am meisten getroffen, sagt er. „Tagelang haben wir zum Beispiel darum gekämpft, dass die Bundeswehr uns hilft. Immerhin hat sie dann 25 Soldaten geschickt.“
Derzeit ringt Schmitt wieder mit einer Krise am Münchner Hauptbahnhof, doch diesmal sind die Bilder nicht dramatisch: An der Corona-Teststation stehen an diesem Vormittag nur wenige Menschen an, alles ist ruhig und kontrolliert.
Der Flüchtling: Majd Bakar
Dank eines Schreibfehlers und mit ein wenig Sekundenkleber schaffte er es nach München.
Nein, das eine Schlüsselerlebnis, das Majd Bakar zur Flucht getrieben hat, das gab es nicht. Die Situation in Damaskus sei aber immer schlechter geworden, erzählt er. „Junge Männer wurden einfach mitgenommen und zwangsrekrutiert. Dann mussten sie in den gefährlichen Gebieten kämpfen.“ Und dann sei einmal auch direkt neben seinem Zimmer im Erdgeschoß eine Bombe gelandet. Bakars Eltern jedenfalls baten ihn immer wieder, das Land zu verlassen. Schließlich willigte der damals 18-Jährige ein.
Heute ist er 23, lebt in München, spricht sehr gut Deutsch, arbeitet in einem Restaurant. Er rechnet damit, 2021 eine unbefristete Niederlassungserlaubnis zu bekommen.
Wie lange er unterwegs war, kann er heute nicht mehr genau sagen – „zwischen 20 und 26 Tage waren es“. Seine Flucht verlief anfangs verhältnismäßig ruhig: Mit einem Linienschiff reiste er nach Mersin in der Türkei, durchquerte das Land mit dem Bus, setzte nach Griechenland über. Durch Mazedonien und Serbien fuhr er mit dem Zug. An der ungarischen Grenze stand er dann mit seiner Gruppe vor einem Zaun. „Ich wäre schon durchgekommen, aber wir hatten auch Kinder dabei und mussten die Grenze an einer Tür überqueren, hinter der schon die Polizei wartete.“ Ein Beamter lief dann vor den Flüchtlingen, einer hinter ihnen. „Ich bin mit acht anderen bei Szeged in den Wald geflohen. Dort haben wir eine Frau auf einem Pferd getroffen. Erst hatten wir Angst vor ihr, aber sie hat uns geholfen und uns erklärt, wo wir hinmüssen.“
Im Zug nach Budapest wurde die Gruppe wieder festgenommen. Im Gefängniswagen wurden alle gezwungen, einen Asylantrag zu stellen. „Als sie mein Formular ausfüllten, haben sie zum Glück meinen Namen falsch geschrieben. Und als sie meine Fingerabdrücke nehmen wollten, habe ich vorher meine Hände mit Sekundenkleber eingerieben. Dann hat es nicht funktioniert. Sie haben mich gefragt, was ich gemacht habe und ich habe behauptet, ich hätte mir in Griechenland die Hände verbrannt.“
Weil auch seine Freunde den Sekundenkleber-Trick machten, habe ihnen die Polizei nicht geglaubt und sie zwei Tage in einem Gebäude festgehalten. Während dieser Zeit habe er lange mit einem Professor gesprochen, der dort vorbeikam. „Ich habe ihn gefragt, warum er uns so hasst. Er sagte ’Ihr nehmt uns die Arbeit weg‘ und solche Sachen. Dabei werde ich bestimmt keine Arbeit machen, die er als Professor haben wollte. Er sagte auch ’Die Araber sollten euch helfen, nicht wir.‘“
Die Grenze nach Österreich überquerte Bakar bei Nickelsdorf. Dann wurde er nach Linz gebracht, am nächsten Tag war er in München. Unterwegs sei ihm von Helfern und Mitreisenden immer wieder empfohlen worden, sich als minderjährig auszugeben, weil er dann besser behandelt werde. Doch er folgte ihrem Rat nicht. „Ich war 18, als ich hier angekommen bin. Ich wollte mich nicht als jünger ausgeben, weil ich in Deutschland studieren wollte. Ich will Journalist werden. Darum habe ich meinen Ausweis und meinen Reisepass behalten wollen.“
Überall auf seiner Flucht traf er auch hilfsbereite Menschen
In Deutschland und Österreich seien die meisten Menschen sehr hilfsbereit gewesen. „Sonst waren die Leute eher genervt, weil die Welle so groß war, mit der ich gekommen bin.“ Aber weil Bakar Englisch konnte und viel mit Fremden gesprochen habe, sei er überall auch auf freundliche Menschen gestoßen. Ab Griechenland habe es auch Hilfsorganisationen gegeben, die Wasser, Essen und manchmal eine Unterkunft zur Verfügung stellten, sagt er. „In Mazedonien habe ich das erste Mal Sprudelwasser bekommen, das hat sehr komisch geschmeckt.“ Er lächelt. „Jetzt trinke ich nur noch Sprudelwasser.“
Zweimal ist Majd Bakar während seiner Flucht betrogen worden, erzählt er. „In Serbien hat ein Taxifahrer 120 Euro verlangt, damit er mich und drei andere zum Bahnhof fährt. Das waren dann aber nur eineinhalb Kilometer.“ Und in Ungarn habe ihm am Bahnhof ein Tunesier angeboten, das Zugticket zu lösen. Er habe sich 50 Euro geben lassen, sei aber nicht wiedergekommen. „Ich habe das Ticket dann selber gekauft, es hat nur 13 Euro gekostet.“ Manchen seiner Reisegefährten sei irgendwann das Geld ausgegangen. „Wir haben aber niemanden zurückgelassen und denen etwas gegeben, die nichts mehr hatten.“ Sein eigenes Geld hat Bakar in seinen Schuhen versteckt.
„Ich würde es wieder machen“
Schleppern sei er nicht begegnet, sagt er, und ist sichtlich froh darüber: „In Ungarn hatten wir viel Angst vor ihnen.“ Auch Gewalt habe er unterwegs nicht erlebt. Ob er das Risiko noch einmal auf sich nähme? „Ich würde es wieder machen“, sagt Bakar, ohne zu zögern. „Der Weg war hart, aber das war es wert. Syrien ist nicht nur jetzt zerstört, sondern wird lange zerstört bleiben. Der Diktator sitzt noch immer auf seinem Stuhl. Wenn ich nicht zum Militär gegangen wäre, wäre ich dort sehr schlecht behandelt worden.“
Seine Eltern und seine Schwester seien noch immer in Damaskus, weil die Familie keine 8000 Euro pro Person aufbringen könne. So viel würde ein Gästevisum laut Bakar ungefähr kosten, mit dem seine Familie ihn besuchen und dann hier Asylanträge stellen könnte.
Freilassing: Die Anwohner
Viele Menschen leisteten ihren Beitrag, spendeten Lebensmittel oder packten nach der Arbeit eine Weile mit an. Das Engagement kam nicht überall gut an.
Die Grenze, die Freilassing und Salzburg trennt, ist 2020 eine Nicht-Grenze. In knapp hundert Metern Abstand überqueren zwei Brücken die Saalach, den hellgrün schimmernden Fluss, der die Ufer in sanftes Rauschen hüllt. Über die eine fahren Autos und Lastwagen, über die andere radeln Ausflügler und laufen Fußgänger. Eine Fahne tänzelt in der spätsommerlichen Brise, am Horizont erheben sich die Alpen. Es ist ein friedvolles Panorama im Berchtesgadener Land.
Christine von Hake, 56 Jahre alt, blondes Haar, brauner Teint, geht die Anhöhe zur Fußgängerbrücke hinauf. Sie leitet das Freilassinger Tierheim, es liegt einen Steinwurf von der Saalach und vom Grenzübergang entfernt. Den Fußweg, der über einem Wasserkraftwerk verläuft, nutzt sie nur selten. Nun, fünf Jahre danach, steht sie wieder hier. Wenn sie wie damals an das andere Ende der Brücke schaut, in Richtung Österreich, sind die Bilder schnell wieder da. Die Bilder von entkräfteten Flüchtlingen, hilflosen Polizisten und nächtlichem Blaulicht. Die Bilder aus jenen Tagen, als hier eine Grenze war, an der tausende Menschen abprallten. „Mei, Wahnsinn“, flüstert von Hake vor sich hin und schüttelt den Kopf.
Wegen der steigenden Flüchtlingszahlen führte Deutschland am 13. September 2015 verschärfte Grenzkontrollen ein. Flüchtlinge wurden zwar weiterhin ins Land gelassen, wegen strikterer Registrierungsmaßnahmen jedoch nur mehr in kleinen Gruppen. Die Deutsche Bahn stellte den Zugverkehr von und nach Salzburg vorübergehend komplett ein. Ziel der Maßnahmen war ein Dominoeffekt: Wenn die Bundesrepublik ihre Grenzen stärker kontrolliert, sollten die Staaten auf der Balkanroute nacheinander folgen und Flüchtlingsströme versiegen.
Viele Flüchtlinge harrten am Salzburger Hauptbahnhof in der Hoffnung aus, von dort mit dem Zug nach Deutschland zu kommen. Andere, tausende, machten sich in den Tagen nach dem 13. September zu Fuß auf den Weg zum Grenzübergang. Dort wurden etwa alle 30 Minuten 20 Migranten auf Zuruf der Bundespolizei über die Brücke gelassen – zu wenig, um einen massiven Menschenstau zu verhindern.
Sie brachte den Flüchtlingen in der Hitze Wasser
Als von Hake am 14. September, einem Montag, ins Tierheim kam, standen bereits hunderte Flüchtlinge auf der Autobrücke, blockiert von deutschen Bundespolizisten. „Es war relativ heiß, also haben wir nicht lange rumgetan und Wasser rübergebracht“, erzählt sie in einem Tonfall, dessen Gelassenheit auf unbedingter Überzeugung gründet. „In so einer Situation überlegt man nicht, da hilft man.“
Was die meisten Migranten an der Grenze zunächst nicht bemerkten: Der Fußweg nebenan war frei. „Ein paar Flüchtlinge haben uns auf Englisch gefragt, ob man da nach Deutschland kommt. Und wir haben geantwortet: ,Ja, scho‘“, sagt von Hake und grinst verschmitzt. Ein Triumph im Kleinen. „Die haben dann ihr Zeug gepackt und sind wie nebenbei rübergegangen. Die Polizisten auf der anderen Brücke“, von Hake zeigt Richtung Norden, „haben es gesehen, aber nichts unternommen. Das war skurril, wahnsinnig komisch.“ Ein paar Tage sei der Übergang offen geblieben, bis sich die Polizei auch dort postiert habe.
Manche wollten durch den Fluss nach Österreich schwimmen
Wer auf seiner Flucht ein Zelt dabeihatte, schlug es auf einer der umliegenden Wiesen auf, andere richteten sich mit Decken ein. Der Rest stand oder saß auf der Brücke. „Es war merkwürdig still“, erinnert sich von Hake. Manche Flüchtlinge versuchten ans andere Ufer zu schwimmen und brachten sich in Lebensgefahr. So flach und ruhig, wie der Fluss wirkt, ist er nicht. Ob tatsächlich jemand das andere Ufer erreichte, weiß niemand. Wichtig ist, dass kein Mensch bei dem Versuch starb.
Christine von Hake hat auf einer Bank im Innenhof des Tierheims Platz genommen. Wursti, eine junge, gefleckte Chihuahua-Hündin, tollt übermütig über das graue Pflaster. Aus dem Tierheim tönt Vogelgezwitscher, ein Hund bellt, in einem umzäunten Weiher schwimmen bunte Fische.
Neben von Hake sitzt Daniel Peyerl, ein sportlicher Mittdreißiger, dem man seine Herkunft anhört: Bad Reichenhall. Bis 2015 war er Hausmeister im Tierheim, ab Mitte September organisierte er auf der österreichischen Seite die freiwillige Flüchtlingshilfe. „Außer uns hat sich neun Tage lang niemand um die gekümmert“, sagt er. Dabei sei der Zustand der Flüchtlinge teilweise erbärmlich gewesen: „Die hatten nichts zu essen, nichts zu trinken, keine Klos. Viele sind auf dem Weg hierher misshandelt worden. Da gab es viele Geschichten, vor allem über die Behörden in Ungarn.“
Frauen mit ungeborenen toten Babys liefen einfach immer weiter
Was Peyerl besonders in Erinnerung geblieben ist: die gelben Augen der Frauen, die ein totes Kind in sich trugen und bereits eine Blutvergiftung hatten. „Die waren irgendwann so im Marschieren drin, dass sie ihre toten Babys einfach ignoriert haben. Für sie gab es nur: weiter, weiter, weiter.“ Selbst schwer Erkrankte oder Verletzte wollten sich nicht im Krankenhaus behandeln lassen – aus Sorge, weitere Grenzschließungen könnten in der Zwischenzeit den Weg nach Deutschland endgültig verbauen.
Bis Ende des Jahres überquerten täglich rund 1000 Migranten bei Freilassing die Grenze. Bevor sie mit Bussen in eine Notaufnahmestelle gebracht wurden, ein ehemaliges Möbellager, warteten sie zu Hunderten vor dem Tierheim. Äußerlich zeugt davon noch ein Trampelpfad. Innerlich wühlt Tierheimleiterin von Hake die Erinnerung noch immer auf, als die Menschen, erschöpft, krank, traumatisiert. „Ich dachte damals: Im Tierheim leben die Katzen in einem schön eingerichteten 20- Quadratmeter-Zimmer – und die Menschen hier vor meiner Nase haben nichts außer den Kleidern am Leib. Ich habe mich geschämt, und das tue ich bis heute.“ Auch, weil bald der Dezember 2015 folgte.
Wegen einer Spendenaktion bekam das Tierheim viel Ärger
Rechte Gruppen machten Freilassing zum Symbol für ungezügelte Einwanderung, für drohende Islamisierung und riefen zu Kundgebungen in der 17.000-Einwohner-Stadt auf. Bürgermeister Josef Flatscher lud deshalb alle Flüchtlingshelfer zum Glühwein auf dem Christkindlmarkt ein. Auch das Tierheim betrieb dort einen Stand. Der Erlös sollte an die Flüchtlingshilfe gehen. „Wir hätten das Geld heimlich, still und leise spenden sollen“, sagt von Hake. Stattdessen ging sie an die Öffentlichkeit. Die Reaktion: „Die Leute haben angerufen, uns aufs Übelste beschimpft, Mitgliedschaften gekündigt. Einer hat unseren Vorstand wegen Veruntreuung angezeigt.“
Es ist kurz vor 15 Uhr, gleich öffnet das Tierheim. Christine von Hake muss los, doch eines möchte sie noch anfügen. Den Flüchtlingen damals zu helfen, so spontan, so bedingungslos, sei die einzig richtige Entscheidung gewesen. Der Vergleich verbiete sich zwar, doch gelte in der Not für Tiere wie für Menschen ein einfaches Prinzip: „Man hilft oder man hilft nicht.“
Wien: Die Zwischenstation
Fast alle Flüchtlinge wollten nach Deutschland oder noch weiter. Österreich kannten viele nicht einmal. Trotzdem versetzten sie Wien in den Ausnahmezustand.
Knapp fünf Kilometer östlich vom Freilassinger Tierheim und etwa 20 Meter tiefer liegt die Parkgarage des Salzburger Hauptbahnhofs. Von der tiefen Decke säuselt eine Entlüftungsanlage, etwa 100 der 150 Stellplätze sind belegt, vorwiegend mit hochpreisigeren Modellen. Das gelb-rot-graue Farbkonzept ist um Moderne bemüht, doch es bleibt ein Ort, der einen Zweck erfüllen soll. Jetzt, an einem gewöhnlichen Montagnachmittag, heißt dieser Zweck: Auto abstellen. Damals hieß er: Wohnen, Warten, Überleben.
Ende August erlaubte die ungarische Regierung kurzzeitig, dass Flüchtlinge per Zug nach Deutschland und Österreich reisen konnten. Wenig später wurde diese Entscheidung wieder aufgehoben, doch der Zeitkorridor reichte vielen Flüchtlingen. Rund 1500 landeten in der Nacht vom 31. August auf den 1. September in Salzburg. Da keine Anschlusszüge mehr nach Deutschland gingen, war der Hauptbahnhof vorläufige Endstation. Die Flüchtlinge mussten am Bahnhof übernachten, konnten am nächsten Tag aber Richtung Deutschland weiterreisen. Es sollte ein erster Vorgeschmack sein auf das, was folgte.
„Wir waren ein veritabler Hotelbetrieb“
Nachdem Deutschland am 13. September die Grenzkontrollen verschärft hatte, sammelten sich tausende Flüchtlinge aus allen Richtungen an den großen Bahnhöfen in Wien und Salzburg. Die Hauptstadt wurde zur zentralen Drehscheibe, die Mozartstadt zum Nadelöhr. Züge fuhren nur noch über die Grenze, wenn in deutschen Grenzbahnhöfen Kapazitäten zur Registrierung der Flüchtlinge da waren. Das dauerte manchmal Stunden, oft Tage. Die Salzburger Tiefgarage wurde so zum Transitlager, in dem hunderte Menschen Schutz fanden.
Fünf Jahre danach ist die Flüchtlingsbewegung von 2015 Erinnerung und Statistik: 300.000 Menschen wurden per Zug und Bus durch Österreich transportiert, 70.000 Menschen übernachteten von September bis Oktober an österreichischen Bahnhöfen. „Wir waren ein veritabler Hotelbetrieb, wenn ich das so salopp sagen darf“, konstatiert Erich Pirkl am Wiener Hauptbahnhof. Pirkl war 2015 Mitglied des Krisenstabs der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) und damit einer derjenigen, die die Krise organisatorisch bewältigen mussten.
Pirkl tritt als Sachlichkeit in Person auf, adrett gekleidet, sonore Stimme, nüchtern in Geste und Wort. Ein Manager nach innen und außen, der sich in seiner 35-jährigen Karriere ein Repertoire an Krisen-Lehren angeeignet hat: „Man muss Themen und Situationen versachlichen“, „Die Frage nach der Schuld oder dem Warum darf keine Rolle spielen“, „Emotionen müssen außen vor bleiben“. Pirkl ist Geschäftsführer der ÖBB-Immobilienmanagement GmbH, die in Österreich für alle Hochbauten, sprich Bahnhöfe zuständig ist. Krisen des Alltags sind Unwetter, Lawinenabgänge, gestrandete Schulklassen. Und dann war da der Herbst 2015.
Wegen einer Besichtigungstour war Pirkl am 31. August zufällig am Wiener Hauptbahnhof. Ihm fielen die vielen Polizisten und Rettungskräfte auf, also fragte er beim Sicherheitsdienst nach. Die Antwort: Ein übervoller Railjet-Schnellzug sei auf dem Weg von der ungarisch-österreichischen Grenze nach Wien. „Die Fahrtzeit von dort liegt bei einer knappen Stunde. Das war unsere Vorwarnzeit“, sagt Pirkl, ohne Groll. Themen versachlichen, keine Schuldfragen stellen, Emotionen außen vor lassen. Managen. „Mir war schnell klar, dass da etwas Großes auf uns zukommt. Da musste man Entscheidungen treffen.“
Helfer brachten die Flüchtlinge mit Autos zum Hauptbahnhof
Der Wiener Hauptbahnhof wurde im Oktober 2014 eröffnet. Knapp ein Jahr später war ein ganzer Stadtteil rundherum noch im Entstehen. Die Kapazitäten für Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge schienen begrenzt. Während am 1. September die meisten am Westbahnhof ankamen, entstand in den Folgetagen ein zweiter Schwerpunkt am Hauptbahnhof – ungeplant, denn viele Freiwillige brachten die Flüchtlinge selbst organisiert in Autos oder Bussen dorthin. Was wohl gut gemeint war, stellte die Organisatoren vor große Probleme. „Das hat sich schnell eingebürgert, auch über soziale Medien. Die haben die Flüchtlinge aussteigen lassen und gesagt: ,Das ist der Bahnhof, von dort geht es nach Deutschland.‘ Einmal kamen um 2 Uhr morgens vier volle Busse. Die Busse waren weg, und wir standen dann da. Das war ein Problem.“
Ein weiteres war die schlechte Informationslage. Während die Abstimmung mit der deutschen Seite nach Ansicht von Pirkl gut funktionierte, sei die Kommunikation mit den ungarischen Kollegen „stark verbesserungsbedürftig“ gewesen. „Wir wussten oft erst durch unseren Fahrdienstleiter im Grenzbahnhof, wie viele Menschen in einem Zug sitzen.“ Da gleichzeitig auch der reguläre Pendlerverkehr weiterlaufen musste, wurde eine Urlaubssperre für die Bahnhofsmitarbeiter verhängt. Sie direkt anzuordnen, sei aber nicht notwendig gewesen, betont Pirkl. Die Mitarbeiter hätten freiwillig auf Urlaub verzichtet.
Zwei Wochen herrschte an West- und Hauptbahnhof Ausnahmezustand. Flüchtlinge warteten und schliefen in Fahrradgaragen, Rohbauten, Verteilerhallen im Bahnhof, in einem leer stehenden Bürogebäude der ÖBB. Jeder freie Quadratmeter, den der Krisenstab damals ausfindig machte, wurde genutzt.
Es hieß, ein totes Kind liege im Zug nach Wien
Auch an der Karl-Popper-Straße, die gleich hinter dem Hauptbahnhof durch eine Unterführung verläuft, kamen Menschen unter. Wo jetzt der Verkehr vorbeirauscht, lag damals ein Hauch von Orient in der Luft. Das Essen, das die Hilfsorganisation Caritas an Flüchtlinge verteilte, war den kulturellen Gewohnheiten angepasst worden. „Ich habe das gerochen und mich gefragt: Bin ich jetzt im Urlaub oder nicht?“, erinnert sich Pirkl, als er durch die Unterführung geht. „Wenn ich daran denke, was hier los war – das ist heute schon ein Gefühl der Leere.“ Er meint die räumliche, nicht die emotionale.
Dabei war der Herbst 2015 auch für den Menschen Erich Pirkl eine Herausforderung. Pirkl hat Anfang September Geburtstag. Dreimal lud er damals Freunde und Bekannte ein, dreimal musste er absagen. Beim letzten Versuch hatte ihn kurz zuvor ein Anruf erreicht: In einem Zug, der bald in Wien ankomme, sei ein totes Kind in einer Ikea-Tüte. Der Manager fuhr an den Bahnhof. Der Zug wurde geräumt, damit nach dem Kind gesucht werden konnte. Dann fanden Mitarbeiter das Kind. Lebend. „Das war ein gehbehindertes Kind, das in einer Ikea-Tüte die Flucht bewerkstelligt hat und eingeschlafen war.“ Es ist eines der Bilder, die Pirkl nicht aus dem Kopf gehen.
Flüchtlinge liehen Pirkl in der Nacht ein Ladekabel für sein Smartphone
Geblieben sind ihm auch viele Begegnungen. Die schönen, „die ein motivierendes Feedback gaben“: mit dem syrischen Bub im Kasperl-Kostüm, das eine Familie gespendet hatte. Oder mit Flüchtlingen, die ihm ein Smartphone-Ladekabel liehen, weil sein Akku zu später Stunde leer war. Da waren aber auch schwierige Momente. Wieder ein Anruf, einer von vielen nächtlichen. Die Infos: Die Deutsche Bahn hat einen Zug für 1000 Flüchtlinge abgesagt, angespannte Stimmung am Hauptbahnhof. „Da waren hunderte aufgebrachter Flüchtlinge, die etwas gerufen haben, was ich nicht verstanden habe. Ich dachte: Respekt, da darfst du jetzt keinen Fehler machen.“
Über Dolmetscher nahm Pirkl Kontakt mit den Meinungsführern auf. Sie begegneten ihm mit Misstrauen, zu schlecht waren vorherige Erfahrungen mit Behördenvertretern. Doch nach rund eineinhalb Stunden hatte sich die Situation beruhigt. Was half, das Vertrauen der Flüchtlinge zu gewinnen? „Mein Outfit. Ich bin damals mit kurzer Hose, T-Shirt und Flipflops hingefahren. Es war ein wichtiger Punkt, kein hierarchisches Gehabe an den Tag zu legen.“
„Außer einer Scheibe ist damals nichts kaputt gegangen“
Pirkl steigt die Treppen hoch, die zu Gleis 8 führen. Hier stiegen vor fünf Jahren mal 450, mal 1000 Flüchtlinge in Züge Richtung Deutschland. Heute sind es wenige Dutzend, Pendler, Touristen, Senioren. Ein Inlandszug schnauft los in Richtung Wiener Neustadt. Wie Pirkl auf 2015 blickt? „Außer einer Scheibe ist damals nichts kaputt gegangen.“ Kein Stolz? „Ich sehe das ganz emotionslos, das ist für mich nicht Wehmut oder Befriedigung. Heut’ ist halt eine andere Situation.“
Die Politik: Christian Kern
Das sagt Österreichs Ex-Kanzler, damals Bahn-Chef, über 2015 und die Folgen.
„Niemanden konnte überraschen, was im Herbst 2015 passiert ist. Jeder wusste, was in Syrien los ist, die Zeitungen schrieben darüber. Trotzdem war die unmittelbare Resonanz, auch in politischen Kreisen: Das ist weit weg, das geht uns nichts an.
Dann waren – scheinbar aus dem Nichts – die Bilder aus Ungarn da: von der serbisch-ungarischen Grenze, wo eine Kamerafrau Flüchtlinge trat, oder vom Bahnhof Keleti in Budapest, wo Menschen zusammengepfercht wurden und Erinnerungen an unsere dunkelsten Stunden hochkamen. So viele Frauen und Kinder, dehydriert, verzweifelt – das widerstrebte jedem Verständnis von Respekt und Menschenwürde. Es war bedrückend, diese Szenen mitten in Europa zu haben.
Gleichzeitig war der Herbst 2015 einer der besten europäischen Momente überhaupt. Diese Eruption der Menschlichkeit, nachdem die Flüchtlinge vom Bahnhof in Budapest losmarschierten, hat bewiesen, dass die europäische Bevölkerung Verantwortung für Notleidende übernehmen will. Ein Auslöser dafür war sicher das Bild von Aylan Kurdi, dem Zweijährigen, der Anfang September tot an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Wie Hilfsorganisationen und die Zivilbevölkerung danach in Österreich und Deutschland zusammengehalten haben, um den Flüchtlingen zu helfen, war beeindruckend. Die Gesichter nach der Ankunft in Wien, diese Mischung aus Verunsicherung und Erleichterung, werde ich nie vergessen. Dieser Moment hat die europäische Seele bewahrt. Das war ein historisches Ereignis für meine Generation.
Kern erfuhr erst von den Flüchtlingen, als sie schon unterwegs waren
Die zutiefst menschliche Solidarität darf über das staatliche Versagen damals aber nicht hinwegtäuschen. Ich erinnere mich gut an einen Waldspaziergang mit meiner Familie. An einem Sonntag um etwa 15.30 Uhr bekam ich einen Anruf vom Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube. Er sagte mir, dass Deutschland in einer halben Stunde die Grenze sperren würde – da waren längst Züge mit tausenden Flüchtlingen unterwegs. Die Entscheidung war schon am Mittag gefallen.
In diesen Tagen sind auf politischer Ebene viele Abmachungen getroffen worden, von denen wir, die sie ausbaden mussten, als Letzte erfuhren. Nicht selten bekamen wir Informationen nur zufällig von Journalisten. Es gab damals in Österreich Regierungsmitglieder, denen Schlagzeilen wichtiger waren, als reale Probleme zu lösen. Die sich über die Eskalation freuten, weil sie ihnen politisch in den Kram passte. Die österreichische Politik hat sich damals nicht nur mit Ruhm bekleckert – das Vorgehen der ungarischen Seite war dagegen pure Willkür. Orbán ließ überraschend Züge über die Grenze fahren, nur um die nächsten unabgesprochen wieder zu streichen. Er hatte seine Freude an diesem Spiel. Ungarn war damals kein Partner.
„Wir mussten auch pragmatisch denken“
Die Entscheidung, schnell Spezialzüge und Busse an die Grenze nach Nickelsdorf zu schicken, war alternativlos. Der humanitäre Aspekt spielte eine Rolle, aber wir mussten auch pragmatisch denken. Wären die Menschen an den Gleisen entlanggelaufen, hätte das weitreichende Sperrungen zur Folge gehabt. Der Zugverkehr im ganzen Land wäre erlahmt, Millionen Menschen wären nicht mehr an ihr Ziel gekommen. Ein wichtiger Teil der Infrastruktur wäre zusammengebrochen. Das konnten wir nicht zulassen.
Acht Monate nach den Ereignissen von Keleti wurde ich Bundeskanzler. Durch diesen Seitenwechsel verstand ich ein Dilemma besser, vor dem auch deutsche Politiker standen: Wir hatten die humanitäre Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen. Andererseits kippte die Stimmung in der Bevölkerung relativ schnell, das politische Klima wandelte sich nachhaltig. Die Bilder von den Grenzen und Bahnhöfen schürten den Eindruck, dass „die“ Politik die Situation nicht im Griff hat. Eigentlich neutrale Menschen wurden zu Skeptikern. So entstand der perfekte Nährboden für rechtspopulistische Strömungen. Der Rechtspopulismus ist impotent, wenn es um Lösungen für konkrete Probleme geht. Aber er hat den öffentlichen Diskurs über lange Zeit bestimmt. In manchen Ländern bis heute. Es ist nicht immer einfach, da dagegenzuhalten, aber es führt kein Weg daran vorbei. Es war sicher auch mein Fehler, zu wenig entschlossen für einen pragmatischen, vernünftigen Standpunkt argumentiert zu haben, um die Herausforderungen anzugehen, die mit der erheblichen Zuwanderung in kurzer Zeit einhergehen.
„Wir haben wenig gelernt“
Welche Lehren aus der Situation damals gezogen wurden? Wenige, fürchte ich. Wir sind als Gesellschaft nach wie vor nicht auf Integration vorbereitet. Das beginnt mit den Schulen, wo Lehrer mit vielen Nicht-Muttersprachlern komplett überfordert sind, und zieht sich letztlich durch viele gesellschaftliche Fragen. Wir sind entschlossener, Barrikaden zu errichten und Grenzen zu schließen, als gemeinsame Lösungen zu finden. Aber wir sind noch immer nicht in der Lage, die Ursachen an der Wurzel zu bekämpfen. Die Ereignisse im September 2015 haben Europa verändert. Blickt man heute aber nach Syrien, Jemen oder Libyen, wo nach wie vor Konflikte mit massiver Waffengewalt ausgetragen werden, Hunderttausende vertrieben werden, lässt das nur einen Schluss zu: Wir haben wenig gelernt.“
Parndorf: Das Drama
Viele Flüchtlinge vertrauten sich Schleusern an, um geschlossene Grenzen zu überqueren. Doch bei denen zählt ein Menschenleben wenig.
Wenn es nach der Politik ginge, bedeutete eine geschlossene Grenze, dass Asylsuchende warten müssen, bis sie eingelassen werden. Die Realität ist eine andere: Wer um sein Leben fürchtet, nimmt jedes Risiko auf sich, um es zu retten. Auf der Flucht vor Krieg und Gewalt geben deshalb viele Flüchtlinge ihr Schicksal in die Hände von zwielichtigen Schleppern, die versprechen, sie ins Nachbarland zu schmuggeln. Wie grausam das enden kann, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Parndorf.
Parndorf ist eine wachsende österreichische Gemeinde. Über die Autobahn sind es von dort nur etwa 40 Kilometer bis zur ungarischen Grenze. Am Ortsrand gibt es ein großes Industriegebiet, dahinter drehen sich zahllose Windräder in der heißen Luft. Aber den Namen der Gemeinde kennt die Welt nicht wegen der erneuerbaren Energien oder der Tatsache, dass dort die blau-weißen Hüllen für Labellos hergestellt werden. Eigentlich geht es bei Parndorfs internationaler Bekanntheit auch nicht um die Gemeinde selbst.
Es geht um eine kleine Notbucht an der Autobahn, die im Gemeindegebiet von Parndorf liegt. Dort fand man am 27. August 2015 einen fahrerlosen Kühllastwagen. Und in dessen engem, luftdichtem Stauraum 71 in der Hitze verwesende, ineinander verklebte Körper. Die Körper von 71 Menschen, die aus Ländern wie dem Irak oder Afghanistan vor dem Tod geflohen waren, es schon bis Ungarn geschafft hatten. Die, zum Teil mit ihren Freunden, Partnern oder Kindern zusammen, in den Schleuser-Lkw stiegen, um nach Österreich zu kommen. In dem sie bald merkten, dass sie keine Luft mehr bekamen, um Hilfe riefen, verzweifelt versuchten, die Türen aufzubrechen. Doch die Schleuser fuhren einfach weiter. Schließlich stellten sie das Fahrzeug in der Notbucht bei Parndorf ab und flüchteten. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Opfer längst tot.
Am Fundort gibt es heute keinen noch so kleinen Hinweis mehr auf das grausige Ereignis. Auch im Ort findet man zwischen den hübsch hergerichteten Häusern bunt gemischter Baustile kein Denkmal, keine Inschrift, kein Andenken an das Geschehene. Was keinesfalls daran liege, dass es ihm oder den Einwohnern egal sei, versichert Otto Lippert: „Es war die mit Abstand prägendste Geschichte meiner Amtszeit.“ Seit Juli 1978 ist er Gemeindeamtsleiter in Parndorf und damit zuständig für alle Angestellten der Gemeinde. „Bei uns gab es nicht mal im Zweiten Weltkrieg so viele Tote an einem Tag. Dabei wurden damals fast zwei Drittel des Ortes zerstört.“
Auf dem Gebäude an dem Platz mit Gemeindewappen-Mosaik prangt nicht nur der Schriftzug „Gemeindeamt“, sondern auch „Opcinski Ured“, das altkroatische Pendant. „Wir sind eine kroatische Minderheitsgemeinde“, erklärt Lippert. Themen wie Flucht und Einwanderung seien seit Jahrhunderten eng mit der Gemeindegeschichte verwoben. Um Flucht geht es auch beim Gespräch in seinem Büro oder, genauer, um das tragische Scheitern einer solchen. Lippert bewahrt die Erinnerungen an das Unglück in einem blauen Ordner auf. Die vielen Zeitungsartikel und Sonderbeilagen darin verraten, wie viel Aufmerksamkeit das Drama damals erregte.
Die Täter sind inzwischen verurteilt
„Seit den Urteilen habe ich nicht mehr hier reingeschaut“, sagt er und klingt dabei etwas überrascht. Das Gericht hat vor gut einem Jahr entschieden, dass die vier Haupttäter lebenslänglich in Haft bleiben. Lippert blättert durch die Seiten und zieht schließlich eine zusammengefaltete Karte heraus. Sie zeigt 71 Fotos in Passbildgröße. Dabei stehen Namen, Nationalitäten, Familienbeziehungen. Das ganze Ausmaß der Tragödie auf einem Stück Papier. In einem einzigen Augenblick werden 71 gesichtslose Opfer zu Mitmenschen und eine schlimme Geschichte zu bedrückender Wirklichkeit. In diesem Moment scheint es unbegreiflich, dass nirgendwo wenigstens eine Tafel an die Toten erinnert.
Lippert gibt dafür gleich mehrere Gründe. Gleichgültigkeit ist nicht darunter. „Ein Denkmal, das an der Autobahn steht, könnte sich niemand anschauen.“ Zu Fuß ist die Stelle nicht erreichbar und an der Bucht darf man nur im Notfall halten. „Und in Parndorf ist nicht der richtige Platz dafür, weil das Unglück mit dem Ort gar nichts zu tun hat.“ In der Tat: Fährt man über die Autobahn und passiert die Fundstelle, könnte das überall in Österreich sein. Und spaziert man durch Parndorf, ist die Autobahn weit weg.
Aber gar kein Symbol für das Geschehene, das wollte die Gemeinde auch nicht. Man einigte sich schließlich darauf, es in einem Theaterstück zu verewigen. Peter Wagner, ein österreichischer Künstler, übernahm das Projekt. Unter dem Titel „71 oder der Fluch der Primzahl“ formte er aus Autorentexten, Interviews mit Beteiligten und Bildmotiven von Künstlern ein Gemeinschaftswerk, das in Parndorf uraufgeführt und auch im Österreichischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. „Das ist viel besser als eine Gedenktafel, die niemand mehr anschaut“, sagt Lippert.
Er selbst braucht ohnehin keine Gedächtnisstütze – zu tief sitzt, was er erlebt hat. Während einer Autofahrt zur Fundstelle erzählt er: „Die Polizei hat den Kühllaster mit den Leichen nach Nickelsdorf geschleppt, da gibt es eine große Kühlhalle. Hier bin ich hinter dem Abschlepper eingeschert und bis zur Kreuzung hinter dem Kühllaster hergefahren, nur ein paar Autolängen dahinter. Es ist Verwesungsflüssigkeit rausgetropft, es hat bestialisch gestunken. Es war ein genauso heißer Tag wie jetzt, ich kann mich gut erinnern. Die Klimaanlage lief, die Fenster waren zu. Aber der Geruch war im Auto.“ Er habe ihn noch lange in der Nase gehabt, könne ihn bis heute nicht vergessen.
Das Drama von Parndorf hat die Debatte über Maßnahmen gegen Schlepper, Grenzöffnungen und Asylgesuche in der EU stark beeinflusst. Für Lippert kein Wunder: „Die Unglücke im Mittelmeer berühren die Leute nicht. Aber jetzt hatten sie es vor der eigenen Haustüre.“
Nickelsdorf: Die Grenzsituation
Für die Migranten war es ein Sieg, als sie österreichischen Boden betraten. Für die Österreicher war es eine Notsituation. Direkt hinter der Grenze.
Wer waren die Menschen, die im Lastwagen von Parndorf so grausam den Tod fanden? Die Suche nach Antworten fand in einem Rahmen statt, der makaberer kaum hätte sein können. Knapp 20 Autominuten östlich von Parndorf, an der Grenzstation Nickelsdorf, wurden die 71 Leichen in einer veterinärmedizinischen Halle untersucht – in Garage 3, einem gekühlten Raum, in dem sonst tote Tiere vorgefahren werden.
Manfred Schreiner erinnert sich gut an diese Tage. An den Lastwagen in der Halle. An die Gespräche mit den Kollegen, die von Unvorstellbarem berichteten. An den Auftrag, mit dem er deshalb am 4. September um 17 Uhr seinen Dienst als Einsatzleiter in der Polizeiinspektion Nickelsdorf antrat: Transporter kontrollieren, Schleuser ausfindig machen, Tote verhindern. Routine für die Polizei an der österreichisch-ungarischen Grenze. Eine Freitagabend-Schicht wie viele andere. Es wurden Stunden, die die Welt veränderten.
Fünf Jahre später: Brachland, Windräder und ein Maisfeld umgeben die Grenzstation. Es ist ein ruhiger Morgen, ein heißer Tag kündigt sich an. Eine Plastikflasche rollt über den weitläufigen Lkw-Parkplatz. Von der Autobahn nebenan das leise Surren der Motoren. In einer Ecke des Areals liegt die Polizeiinspektion. Major Manfred Schreiner, 48, uniformiert, Glatzkopf mit gepflegtem Bart, hat dort im ersten Stock Platz genommen. In seinem Rücken, etwa 500 Meter weiter, beginnt ungarischer Boden. „Ich werde frei von der Leber reden“, sagt Schreiner und legt seine blaue Tellerkappe ab. Ob Duzen oder Siezen, will er noch wissen. Dann beginnt er zu erzählen.
Schreiners Schicht am 4. September begann ereignislos. Es war ein verregneter Abend, nichts deutete auf Außergewöhnliches hin. Gegen Mitternacht kam in der Inspektion Unruhe auf, Schreiner spricht von einem „dynamischen Prozess, der sich verdichtet hat.“ Erstes Anzeichen war ein zusätzlicher Offizier, der nach Nickelsdorf abkommandiert wurde. Dann ein Funkspruch aus der Einsatzzentrale in Wien: Einige Flüchtlinge haben sich von Budapest aus zu Fuß auf den Weg in Richtung Grenze gemacht, demnächst sollen Busse kommen. Wann, wie viele, wer – unklar. Ein paar Informationen kamen unter der Hand von ungarischen Kollegen. Das bisschen, das Schreiner wusste, gab er an seine rund 30 Kollegen im Dienst weiter. „Dann ist es dahingegangen.“
Der erste Bus kam um 3.39 Uhr nachts. Er hielt im nächsten Dorf auf ungarischer Seite, Straß-Sommerein. In ihm: junge Männer, als Vorhut für die anderen Flüchtlinge unterwegs. Als sie weitergaben, dass sie an die Grenze gebracht und in keine Falle gelockt worden waren, stiegen auch die anderen Flüchtlinge in Busse und fuhren in Richtung Nickelsdorf. Durch das Tor, das sonst Lastwagen passieren, marschierten sie zu Fuß auf die Grenzstation. Es folgten 50 weitere Busse.
„Das geht einem unter die Haut“
Schreiner blickt in die Leere, dorthin, wo die Bilder von damals sind. „Ich wusste aus den Nachrichten, dass es diese Menschen gab. Da war aber keine gefühlte Nähe“, sagt der Vater von zwei Söhnen. „Und plötzlich steht man selbst mit den Frauen und Kindern im strömenden Regen, in der Kälte, im Dunkeln. Das geht einem unter die Haut.“ Es dauerte bis in die Morgenstunden, da bekamen Schreiner und seine Kollegen Verstärkung. Freiwillige Helfer und Hilfsorganisationen eilten herbei. Innerhalb von Stunden entstand auf dem Lkw-Parkplatz ein Aufnahmezentrum. Nickelsdorf war plötzlich ein Zentrum der Flüchtlingskrise und blieb es für Wochen.
Schreiner spricht gern von Bildern. Er weiß, welche Wirkung sie hätten entfalten können – etwa, wenn er und seine Kollegen damals Gewalt hätten anwenden müssen. Er weiß aber auch, welche Wirkung sie tatsächlich entfaltet haben. Wie dieses eine Bild, gleich am ersten Tag. „Da stand ein einzelner Kinderschuh, im Regen, auf dem riesigen Lkw-Parkplatz. Ich habe ihn hier gesehen und gedacht: Bist du narrisch? Es ist kalt, es ist nass – irgendein Kind hat doch jetzt keinen Schuh.“ Immer wieder sei das Bild auch in Medien transportiert worden, als Symbol für die tragische Situation vieler Flüchtlinge.
Für Schreiner steht der Kinderschuh aber auch für eine Entwicklung in den Tagen, die auf den 4. September folgten. Nach ungefähr drei Wochen habe sich das Bild der Flüchtlinge gewandelt. „Die Familienverbände sind weniger geworden, dafür waren die Neuen immer jünger, männlicher und weniger arabisch.“ Trotzdem sei medial weiterhin der Kinderschuh transportiert worden. „Irgendwann waren meine Eindrücke in Nickelsdorf und die Bilder, die man zu Hause gesehen hat, nicht mehr in Einklang zu bringen. Da waren die massiven Männerschuhe längst deutlich in der Überzahl.“
Manche Flüchtlinge waren rücksichtslos gegenüber den Familien
Auch das Verhalten der Flüchtlinge veränderte sich nach Schreiners Beobachtung. „Am Anfang – die waren dankbar. Denen hat man angemerkt, dass sie wirklich aus gefährlichen Situationen kommen und Angst hatten.“ Die später Ankommenden seien dagegen fordernder, „robuster“ aufgetreten. „Ich maße mir nicht an, mit einem Blick zwischen asylwürdig und nicht zu unterscheiden. Aber Menschen, die vielleicht eher wirtschaftliche Verbesserungen herbeiführen wollen, merkt man das an. Die waren gerade gegenüber Familien rücksichtslos.“
Drei Wochen dauerte Schreiners Einsatz in Nickelsdorf, dann wurde er nach Spielfeld in der Südsteiermark versetzt. Dorthin hatten sich die Flüchtlingsströme verlagert, nachdem der 175 Kilometer lange Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien fertiggestellt war. Migranten wichen über die Westbalkanroute aus und betraten bei Spielfeld österreichischen Boden. Auch dort tausende Flüchtlinge, nur auf weniger Raum. Die Haltung in der Bevölkerung war inzwischen eine andere: „In Nickelsdorf herrschte noch eine Aufbruchstimmung des Helfen-Wollens. Das war in Spielfeld nicht mehr so der Fall.“
In Spielfeld galt wie in Nickelsdorf: Bis auf Stichproben kamen die Flüchtlinge, ohne kontrolliert zu werden. Eine Ausnahmesituation, gerade für überzeugte Ordnungshüter wie Schreiner. „Gerade am Anfang ist das Ordnungsbewusstsein eher in den Hintergrund gerückt, da mussten wir den Menschen einfach helfen. In der Situation war das das einzig Richtige.“ Trotzdem ist in Schreiner ein Gefühl geblieben – das Gefühl, alleine gelassen worden zu sein.
„Dass ich hier eine normale Schicht beginne, und ein paar Stunden später stehen tausende Flüchtlinge vor der Tür – das ist Kontrollverlust, das ist Systemversagen. Und zwar auf sämtlichen Ebenen. Die sind ja in Ungarn nicht vom Himmel gefallen.“ Schreiner fügt an, vor fünf Jahren hätte er sich wohl nicht getraut, das so zu formulieren, aber: „Im Nachhinein glaube ich, nein, ich bin davon überzeugt: Jeder hat in Europa sein eigenes Spiel gespielt, ohne Abstimmung mit dem Nebenmann. Dann kann ich mit dem Ergebnis auch nicht zufrieden sein.“
„Jetzt ist es, als wäre nie etwas gewesen“
Schreiner setzt seine Tellerkappe wieder auf, geht die Treppe der Polizeiinspektion herunter und tritt auf den Parkplatz. „Da, wo jetzt die Lkw stehen, waren entweder Menschen, Zelte oder Müll. Jetzt ist es, als wäre nie etwas gewesen.“ Aus der Ferne kommt Schreiner ein Mann mit roter Hose und weißem T-Shirt entgegen. „Ach schau an, noch ein Schneckerl“, sagt Schreiner und meint die Glatze des Mannes im Roten-Kreuz-Outfit. Der, Tobias Mindler, war 2015 ebenfalls in Nickelsdorf im Dauereinsatz, als Helfer in der Akutbetreuung. Schreiner und Mindler kennen sich nicht, doch das Eis ist schnell gebrochen. Viel „Weißt du noch“ und „Da war doch“. Nickelsdorf verbindet.
Schnell ist das Thema bei den freiwilligen Helfern, die damals vor Ort waren. Polizist Schreiner sagt:
– „Da waren viele großartige Leute dabei. Aber gerade am Anfang gab es auch eine Art Wettstreit unter Freiwilligen: ,Ich will der Erste sein und allen auf Facebook zeigen, wie toll ich bin.‘ Die sind dann aber eher im Weg umgegangen, weil sie ihre Hilfe nicht mit uns abgestimmt haben. Als wir sie deshalb zurückgepfiffen haben, hieß es: ,Nazi-Polizist, du magst Ausländer nicht.‘“
– „Ja, es war ein Riesenproblem, dass diese selbst ernannten Weltretter sich wichtig gemacht haben. Die hatten vielleicht einen guten Willen, aber keine Ahnung davon, wie man Menschenmassen koordiniert.“
– „Gut, dass du das sagst, das Wort Weltretter lag mir auch auf der Zunge.“
Es ist kurz nach 11 Uhr, Schreiner verabschiedet sich. Der Dienst, „Ihr wisst’s schon. Servus“. „Servus.“
„Es fühlt sich ein bisschen wie ein Tatort an"
Tobias Mindler blickt um sich. Seit vier Jahren, seit Ende des Einsatzes, war er nicht mehr in Nickelsdorf. „Es fühlt sich ein bisschen wie ein Tatort an – nicht, weil hier so viele schlimme Dinge passiert sind, sondern weil es ein Ort ist, den man nie mehr vergessen kann.“ Mindler geht über den Parkplatz, dort entlang, wo einst auch die Flüchtlinge gingen: erst die medizinische Versorgung in einem Zelt, nebenan dann die Essensausgabe unter dem Flugdach. Heute ist das Zelt weg, unter dem Flugdach flattern Tauben. Ob die damals auch schon hier waren? „Ich weiß es nicht mehr. Wir hatten größere Sorgen.“
Nickelsdorf war ein Akutversorgungspunkt. Die Menschen, die dort ankamen, wurden mit dem Notwendigsten versorgt: Essen, Trinken, medizinische Versorgung oder Kleidung. Nach spätestens 48 Stunden wurden die Migranten dann per Bus in Erstaufnahmezentren gebracht. Insgesamt kamen knapp 300 000 Flüchtlinge durch die Grenzstation Nickelsdorf nach Österreich, an einem Tag waren es allein 20 000. Eine gigantische logistische Herausforderung. „Die meisten waren froh, endlich aus Ungarn raus zu sein. Sie riefen immer wieder ,Al-Nimsa‘, ,Al-Nimsa‘, ,Österreich‘, ,Österreich‘. Hier bleiben wollten viele aber auch nicht. Die meisten hatten Deutschland als Ziel“, sagt Mindler.
Mindler erinnert sich gut an die Lektion, die er und seine Kollegen damals lernten. „Es gibt etwas Wichtigeres als die Medizin und das Essen: Wenn tausende Menschen auf dem Gelände sind, muss Ordnung sein. Erst dann kann den Menschen wirklich geholfen werden.“ In der Praxis sah das manchmal gewöhnungsbedürftig aus: Um Gruppendynamiken zu verhindern, wurden die wartenden Flüchtlinge in 50er-Gruppen – Busgröße – auf den Boden gesetzt.
Gerade der Umgang mit Spenden aus der Zivilbevölkerung war eine große Herausforderung: Erstens, das Essen: „Es ist schön, wenn ein Bauer fünf Kisten Paprika spendet. Für einen Menschen, der tagelang nichts gegessen hat, geht sich das aber nicht gut aus. Der bekommt Magenschmerzen, dass es kracht.“ Zweitens, die Kleidung: „Teilweise wurden Schlittschuhe oder Reizwäsche für die Flüchtlinge abgegeben.“ Drittens, die Dimensionen: „Wenn ich 1000 Menschen hier habe, aber nur 200 SIM-Karten, dann kann ich die nicht rausgeben. Völlig unmöglich. Das gibt nur Unruhe.“
Mindler steht auf der Rampe unter dem Flugdach. Von hier hat man freie Aussicht auf das Gelände. Zollbeamte untersuchen einen Kleintransporter aus Nordmazedonien. Vor fünf Jahren begann dort die hungrige Menschenschlange, die nie zu enden schien. Welches Leid vielen widerfahren war, wurde oft im medizinischen Versorgungszelt, dem „Feldspital“, sichtbar: Erschöpfungsfälle, aufgeriebene Beine, Schusswunden, Diabetiker ohne Insulin. Kinderarme mit Brandwunden von Zigaretten, die Schlepper oder Wegelagerer dort ausgedrückt hatten, um von den Eltern Geld zu erpressen. „Vom psychischen Zustand haben wir nicht allzu viel mitbekommen. Das war auch besser so.“
Denn auch die Helfer waren am Limit. „Wir haben nur noch funktioniert. Aber dieser Einsatz hat Spuren hinterlassen.“ Mitarbeiter vom Roten Kreuz durften nur noch maximal zwölf Stunden pro Tag und viermal die Woche in Nickelsdorf helfen. Viele nahmen danach psychosoziale Angebote in Anspruch. Auch Mindler. Dass man einige Wochen vom Erlebten träume, sei normal. „Danach sollte das aber vorbei sein. Bei vielen war es das nicht.“
Straß-Sommerein: Das Nadelöhr
In Deutschland und Österreich klagen die Helfer über mangelnde Informationen aus Ungarn. Das ging Betroffenen in Ungarn nicht anders.
Obwohl Straß-Sommerein direkt an der Grenze zu Österreich liegt, ist es für Nicht-Ungarn schwierig, sich dort zu verständigen – selbst im Rathaus. Zwar hat Bürgermeister László Szöke früher mal als Grenzer gearbeitet, aber er kann nur sehr wenige Brocken Deutsch und kein Englisch. Auch für den Austausch mit der Nachbargemeinde Nickelsdorf auf der österreichischen Seite ist das sicher eine Hürde. Aber unterstützt von zwei Mitarbeitern, von denen der eine etwas Deutsch spricht, die andere etwas Englisch, erzählt Szöke doch, wie er die Ereignisse vor fünf Jahren erlebt hat. Dabei huscht immer wieder ein Lächeln über sein Gesicht, doch er wird stets schnell wieder ernst.
Die Flüchtlinge wurden ab dem 4. September eineinhalb Tage lang mit Bussen an die Grenze gefahren, berichtet Szöke. Die Einwohner bekamen davon kaum etwas mit. Doch dann richtete die Regierung Sonderzüge ein, die am Bahnhof in Straß-Sommerein (ungarisch: Hegyeshalom) endeten, täglich etwa sechs davon. Das Rote Kreuz hatte zwei, drei Stunden Zeit, die Menschen zu versorgen, bis die nächsten kamen. Vom Bahnhof mussten sie zu Fuß durch den Ort und bis zur Grenze gehen, rund vier Kilometer. Die Kolonnen, immer sechs Menschen nebeneinander, wurden von einem Polizeiwagen angeführt.
Die Ungarn wurden von der Regierung Orbán offenbar auch nicht besser informiert als Deutschland und Österreich: Bürgermeister Szöke erfuhr erst durch die Frage eines Journalisten, dass die Flüchtlinge nun mit Sonderzügen kämen. Er fuhr sofort zum Bahnhof, der erste Zug war schon da. Die Flüchtlinge hätten unbedingt rausgewollt aus Ungarn, sagt Szöke. Eine Frau habe hier ihr Kind zur Welt gebracht, aber darauf bestanden, dass es offiziell als in Österreich geboren gilt. Das habe sich letztlich auch einrichten lassen.
Der Bürgermeister schmunzelt bei dieser Anekdote amüsiert. Dagegen wirkt sein Lächeln eher hilflos, als er von dem Mann erzählt, der sich mit einem gebrochenem Bein über die Grenze quälte, weil er keinesfalls in Ungarn ins Krankenhaus wollte. Warum all diese Menschen so eilig sein Land verlassen wollten, scheint ihm noch immer ein Rätsel zu sein.
Erst war die Stimmung im Ort gut, doch das hielt nicht lange
Die ersten beiden Wochen war die Stimmung in Straß-Sommerein sehr positiv, erinnert sich Szöke. Viele halfen freiwillig, die Flüchtlinge zu versorgen. Als es aber immer so weiterging, wuchs die Angst. Wovor, das kann Szöke nicht sagen. Als die Schule anfing, machten sich jedenfalls Eltern Sorgen um ihre Kinder, die auf dem Schulweg den Menschenstrom kreuzen mussten. Die Dorfbewohner bildeten eine uniformierte Bürgerwehr.
Zudem kam Polizei von außen zur Hilfe, Straß-Sommerein selbst hat zusammen mit vier anderen Dörfern nur sieben Polizisten. Laut Szöke gab es aber keinen einzigen Vorfall, die Flüchtlinge liefen einfach nur vorbei. Es sei bloß sehr viel Müll liegen geblieben, der täglich eingesammelt wurde – mit Handschuhen, wegen der Infektionsgefahr. Und nachdem der Flüchtlingsstrom versiegt war, sei die Straße außerdem mit Reinigungsmittel gesäubert worden …
Die Einwohner in Straß-Sommerein machen einen sehr freundlichen Eindruck und geben bereitwillig auf Englisch Auskunft. Sobald aber das Wort „refugee“ fällt, „Flüchtling“, ist es, als würde eine Schalter umgelegt: Plötzlich verstehen sie nichts mehr, winken entschuldigend ab, müssen weiter. Zurück bleibt der Eindruck, dass das Thema sie noch immer verfolgt. Dabei ist kein einziger Flüchtling hier geblieben.
Szöke berichtet, dass einige Bürger Bedenken hatten, die Flüchtlinge könnten sich in Österreich niederlassen – und ihnen dort die Arbeitsplätze streitig machen. Wie in Grenzorten üblich wohnen viele Straß-Sommereiner im günstigen Ungarn und arbeiten im einkommensstärkeren Österreich. Trotzdem betont der Bürgermeister, dass bis zum Versiegen des Flüchtlingsstroms durch die Grenzschließung viele Einwohner geholfen hätten, die Flüchtlinge zu versorgen.
Es hätte nicht so sein müssen, wie es geschehen ist
Er selbst verliert kein böses Wort über die Menschen, die damals seinen Ort durchquerten. Es hätte aber nicht so sein müssen, wie es geschehen ist, sagt er. Die Durchreise sei in Ordnung gewesen, aber er sei dagegen gewesen, dass die Menschen ohne einen Pass oder andere Papiere passieren durften. Es sei eine gute Entscheidung von Orbán gewesen, die Grenze zu Serbien zu schließen.
1989, während der Wiedervereinigung, hat Szöke selbst als Grenzer gearbeitet. 2015 sei es ähnlich gewesen wie damals. Er selbst sei vor Ort gewesen, als der erste Bus die Grenze erreichte. Dort habe er einige Bekannte getroffen, die mit ihm schon 1989 zusammengearbeitet hatten. Auch die Abläufe hätten sich nicht sehr geändert: Zum Teil hätten die Menschen lange warten müssen, bevor sie passieren durften. Der Unterschied: 1989 seien alle in eigenen Autos gekommen und mit Papieren. 2015 habe niemand gewusst, wer die Menschen sind, die hier über die Grenze gehen.
Budapest: Der Anfang
Am Bahnhof Keleti wächst das Flüchtlingslager. Die Menschen sitzen fest. Als sie einfach losmarschieren, lösen sie eine Kette von Ereignissen aus.
Große Bahnhöfe wie Budapest Keleti stehen niemals still. Tag und Nacht fahren lärmend Züge ein und aus, Durchsagen schallen über die Gleise, Menschen rennen, um ihren Anschluss zu erwischen. Einheimische und Fremde kommen an, fahren fort, alles ist immer in Bewegung. Immer, nur nicht Anfang September 2015. Damals war Budapest Keleti kein Verkehrsknotenpunkt, sondern eine Sackgasse.
Viele Flüchtlinge hofften, dort in einen Zug nach Wien steigen zu können. Doch obwohl sie sich teilweise schon die Fahrkarte gekauft hatten, ließ man sie nicht an Bord. Immer mehr Flüchtlinge erreichten den Bahnhof, kamen aber dann nicht weiter. Sie lagerten überall, wo gerade Platz war, suchten Schutz vor der Hitze des Tages und der nächtlichen Kälte in den Gängen und überdachten Bereichen des Bahnhofs. Es wurden so viele Menschen, dass die Behörden den Zugverkehr schließlich aussetzten. Der Bahnhof war zu einem stetig wachsenden Flüchtlingslager geworden.
Erno Simon steht auf dem Vorplatz, hinter ihm die eindrucksvolle Fassade des Bahnhofsgebäudes. Den Rucksack lässig über der linken Schulter, die Brille an der Brust – der ungarische Pressesprecher des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, könnte ohne Weiteres als Tourist durchgehen. Er steigt die Stufen hinunter in den zum Himmel hin offenen Bereich in der Mitte des Platzes, der ein Stockwerk tiefer liegt. Hier gibt es einige Läden, Gänge führen zu den Gleisen und Straßen. Als er stehen bleibt, ist er umgeben von Menschen, Zelten, Helfern, Plastikmüll. Doch all das sieht nur er. Es sind Erinnerungen, die er heute noch lebendig vor Augen hat. Der Bahnhof, sagt er, komme ihm seit den Wochen im Spätsommer 2015 immer seltsam leer vor.
Tatsächlich ist er das an diesem Vormittag auch. Nur vereinzelt tauchen Menschen auf und verschwinden bald wieder in einem der Durchgänge. Am einen Ende des tiefergelegenen Platzes entstellt ein Straßenmusikant mit seiner Geige die immer gleichen klassischen Stücke fast bis zur Unkenntlichkeit. Zusammen mit Simons englischen Ausführungen zu der Situation von damals wirkt die Szenerie wie ein skurriler Dokumentarfilm.
Simon schildert ähnliche Zustände, wie sie bald darauf auch an den Bahnhöfen in München und Wien herrschten: Ehrenamtliche Helfer und engagierte Bürger versorgten die Migranten mit Essen, Wasser und Kleidung, Ärzte kümmerten sich um Kranke und Verletzte. Nur ging es danach für die Flüchtlinge nicht weiter. Sie harrten aus in der Hoffnung, bald in einen Zug nach Österreich zu steigen. Das hätten die Behörden nicht zugelassen, sagt Simon. Aber sie hätten die Menschen auch nicht dazu gedrängt, in Ungarn Asyl zu beantragen.
Obwohl Flüchtlinge und Helfer in Deutschland und Österreich erzählen, dass die ungarische Polizei besonders rabiat gewesen sei – immer wieder war auch von gebrochenen Knochen die Rede – gab es laut Simon am Bahnhof Keleti keine solchen Vorfälle. „Die Polizei evakuierte sogar einmal Teile des Bahnhofs, als nach einem Fußballspiel die Hooligans kamen, und schützte die Flüchtlinge vor ihnen.“ Er sagt aber selbst: „Es ist keine Schwarzweiß-Geschichte.“ Das gelte auch für die Reaktionen der Budapester: „Manche haben einen großen Bogen um den Bahnhof gemacht, weil sie die Flüchtlinge so gehasst haben. Andere haben ganze Familien bei sich zu Hause übernachten lassen und haben sie am nächsten Tag wieder zum Bahnhof gebracht, geduscht und ausgeschlafen.“
Als immer mehr Flüchtlinge kamen, sei deren Akzeptanz in der Bevölkerung deutlich gestiegen. „Die Menschen haben eigene Erfahrungen mit ihnen gemacht“, erklärt Simon. Aber in den Monaten danach habe Orbáns massive Anti-Flüchtlings-Propaganda Wirkung gezeigt. Dass ausgerechnet immer mehr Menschen die Migranten ablehnten, als sie bereits weitergezogen waren, verwundert Simon nicht: „Es war leichter, gegen Flüchtlinge zu hetzen, als sie nicht im eigenen Land waren und sich die Menschen kein eigenes Bild machen konnten.“
Trotz der Unterstützung durch die Bevölkerung wurden die Gestrandeten am Bahnhof Keleti immer unzufriedener, weil sie nicht weiterkamen. Am Vormittag des 4. September entschieden etwa 500 von ihnen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Dieser Moment gilt heute als Startschuss für das Chaos, das in den folgenden Wochen über Österreich und Deutschland hereinbrach. „Ich war hier mit Kollegen aus Genf“, erinnert sich Simon an diesen Tag. „Ich habe gerade ein Interview gegeben. Dabei hatte ich das Lager nicht im Blick. Es wurde auf einmal immer leiser im Bahnhof. Als das Interview nach 30 Minuten erledigt war, habe ich gesehen, dass plötzlich der halbe Platz leer war. Und viele Menschen haben gerade ihre Sachen zusammengepackt.“ Die erste Gruppe war zu Fuß nach Wien aufgebrochen. Nach und nach schlossen sich Tausende diesem „Marsch der Hoffnung“ an.
„Ich habe mich entschieden, sie zu begleiten“, sagt Simon. Er habe den Anfang des Zuges eingeholt, der gegen Mittag die Autobahn erreichte. „Die Einwohner haben sofort mitbekommen, dass die Flüchtlinge marschiert sind, und haben ihnen geholfen. Wie sie an der Straße gestanden sind und den Leuten Essen und Wasser gereicht haben, hat mich an die Tour de France erinnert. Da gibt es auch überall an der Strecke Erfrischungsstationen.“
Die Bilder der Flüchtlinge, die den ganzen Tag mitten auf der Autobahn liefen, gingen damals um die Welt. Als es dunkel wurde, hatten 5000 Menschen etwa 32 Kilometer zurückgelegt und richteten sich an der Ausfahrt Herceghalom für die Nacht ein. Bis Wien waren es noch 220 Kilometer. Doch die mussten sie nicht mehr laufen: Noch in der Nacht öffnete Orbán die Grenze zu Österreich und schickte Busse, die die erschöpften Flüchtlinge dorthin brachten. Und nicht nur sie: Auch die, die noch am Bahnhof Keleti und an anderen Orten festsaßen, durften endlich ausreisen. „Ich selbst bin heimgefahren, ich war sehr erschöpft“, sagt Simon. „Dann habe ich noch die Bilder von der Grenze gesehen: Alles klappte, die Flüchtlinge durften Ungarn verlassen.“
Der Weg durch Ungarn blieb nicht lange offen
Als Pressesprecher des UNHCR weiß er allerdings auch genau, wie die Geschichte weiterging: Vom 14. auf den 15. September schloss Orbán die Grenze zu Serbien. Über diesen Weg waren die meisten Flüchtlinge ins Land gekommen. Den Grenzzaun konnten sie nun nur noch an wenigen Stellen passieren, wo sogenannte Transitzonen eingerichtet waren. „Die haben wie Straflager ausgesehen, mit Containern und Stacheldraht“, sagt Simon. „Asylsuchende sind dort zum Teil über ein Jahr lang festgehalten worden, nur wenige Asylanträge sind angenommen worden.“
Diese Transitzonen schloss Ungarn erst im Mai 2020, nachdem der Europäische Gerichtshof zu dem Urteil gekommen war, dass sie illegal sind. „Jetzt müssen Flüchtlinge in einer ungarischen Botschaft einen schriftlichen Antrag auf einen Asylantrag stellen“, berichtet Simon. „Der wird bis zu 60 Tage lang bearbeitet. Nur wenn er angenommen wird, dürfen sie Ungarn betreten und dort überhaupt einen Asylantrag stellen. Das passiert praktisch nie. Dabei ist es gegen EU-Recht, Asylsuchenden das Betreten des Landes zu verweigern.“ Der Möchtegern-Geiger scheint Simons Kritik zu teilen, er schickt einige misstönende Takte über den Platz.
Orbáns Strategie geht auf, Flüchtlinge gibt es heute in Ungarn praktisch keine mehr. Schon gar nicht am Bahnhof Keleti. Nur wer sehr genau hinsieht, findet noch blasse Spuren des Ereignisses, das damals halb Europa spaltete: Unter der Farbe einer längst neu gestrichenen Wand zeichnen sich blass der Schriftzug „I want go to Germany“ und eine deutsche Flagge ab. Die Behörden haben längst alle sichtbaren Erinnerungen an 2015 getilgt.