Herr Schneider, wie sieht Ihr Alltag aus in der Zeit der Covid-19-Pandemie?
Helge Schneider: Ich habe monatelang aufgeräumt. Ich habe ein Lager aufgelöst und woanders wieder aufgebaut. Und ich habe mein Archiv durchgeguckt: VHS- und U-Matic-Bänder mit Film neben Kassetten und Tonbändern. Manchmal höre ich da rein, zum Beispiel in eine Live-Aufnahme von 1976 oder ´77. Ich hatte damals eine Band mit meinem Freund Charly Weiss: El Snyder und Charly McWhite. Er hat toll Schlagzeug gespielt. Leider ist Charly vor zehn Jahren gestorben.
Sie beherrschen sämtliche Musikstile von Jazz über Rock bis hin zu Schlager. Gibt es für Sie auch „doofe“ Musikstile?
Schneider: Eigentlich ist Swing mein Ding. Techno kann man sich normalerweise nicht anhören, vor allem, wenn einer an der Ampel neben einem steht. Trotzdem kann ich aus Gründen des Zeitgeistes manchmal irgendetwas mit ihm anfangen. Sprich: persiflieren.
Was schätzen Sie insbesondere an Schlagermusik?
Schneider: Gar nichts eigentlich, aber sie gehört speziell bei mir mit zum Erwachsenwerden. Aber ich hätte es auch als angenehm empfunden, wenn es nur Bill Haley oder Fats Domino gäbe – oder natürlich Elvis. Ich habe sein Konzert aus Hawaii live im Fernsehen in Farbe gesehen. Nachts um vier. Man kann sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, dass es so was mal gab.
Ein Schifferklavier für 15.000 Mark und nie darauf gespielt
Warum nehmen Sie Ihre Alben nicht in den legendären Hansa Studios in Berlin auf, wo David Bowie und U2, aber auch Bernd Clüver und Marianne Rosenberg gewirkt haben?
Schneider: Das ist für mich nicht möglich, weil ich das ganz alleine machen muss. Das ist so intim, da kann nicht noch einer hinter der Glaswand sitzen, den ich nicht so gut kenne wie mich selbst. Außerdem habe ich unheimlich viel Spaß an der Technik hier bei mir. Das gibt es ja kaum noch. Die Bandmaschinen zum Beispiel sind noch voll funktionsfähig. Eine stammt vom WDR und eine von den Bavaria Filmstudios in München. Und eine dritte stammt noch von Giuseppe Verdi, eine Wachsrollenaufzeichnungsmaschine von der Firma Osram. Und zum Beispiel bei dem Stichwort „Bouillon de Paris“ im neuen Song „Forever At Home“ habe ich sofort an ein Akkordeon gedacht. Dann habe ich mein Scandalli-Schifferklavier herausgeholt. Das habe ich mir vor 30 Jahren für 15000 Mark gekauft – und nie drauf gespielt. Das ist nämlich so schwer, dass man es gar nicht hochgehoben kriegt. Es steht jetzt wieder im Keller.
Denken Sie zuweilen: Die Stille ist eigentlich sehr schön, ich will gar nicht mehr auf Tour gehen?
Schneider: Das wäre schön für eine gewisse Zeit. Aber in zwölf Monaten ist mein Geld alle. Und wenn ich dann nicht auf Tournee gehen kann, muss ich wieder arbeiten: als Zahnarzt, Paketzusteller oder Pferdeschmied.
Sie sind kürzlich bei Stefan Raabs „Free European Song Contest“ unangekündigt für Deutschland aufgetreten. Haben Sie versucht, bei „Forever At Home“ die Struktur eines typischen ESC-Liedes zu kopieren?
Schneider: Stefan Raab und ich sind Freunde. Ich habe ein Lied gemacht und es für dieses Medium bereitgestellt. Diesen Ausflug in die Fernsehwelt bereue ich nicht. Wenn ich selber mal den Apparat einschalte, wollte ich etwas Schönes hören. Das war lustig, aber auch anstrengend. Es ist nicht einfach, in einen riesigen, leeren, abgedunkelten Raum hineinzusingen.
Was ist das für ein Gefühl, für Deutschland zu singen?
Schneider: Ich bin ja Deutscher, ich liebe Deutschland und kann ruhig für Deutschland auftreten. Ich könnte ja theoretisch auch Bundespräsident, Außen- oder Innenminister werden wollen, wenn ich Abitur hätte, aber ich bin nun mal Musiker. Das ist mein Beruf. Ich fahre regelmäßig durchs Land und erfahre die Deutschen als offene Gesellschaft. Gerade heute ist es sehr wichtig, für eine offene Gesellschaft die Stimme zu erheben, weil es hier auch einige Leute gibt, die davon überhaupt nichts halten. Denen sage ich, ich halte viel von einer offenen Gesellschaft. Ohne eine offene Gesellschaft würde es so tolle Musik nicht geben, die wir so lieben.
Wollen Sie die Menschen mit Ihren Liedern „verführen“?
Schneider: Ich weiß nicht, ob Musik die Welt verändern kann oder auch sollte, aber es ist so. Ich strebe das nicht an, ich möchte einfach nur in meinem Umfeld positiv sein. Das ist aber nur ein Gefühl. Genauso wie Musik, die zur Gefühlswelt der Menschen gehört. Sie hat einen großen Anteil an dem Stimmungsbild, das die Menschheit abgibt.
Helge Schneider wurde einmal 90 Sozialstunden verdonnert
„Ich will nicht funktionieren, ich will kreativ sein“, heißt es in Ihrer Autobiografie. Ein Leitsatz?
Schneider: Ja – und er gilt immer noch.
Als Kind hörten Sie immer heimlich unter der Bettdecke Radio. Später haben Sie Ihren Eltern von der Schule erzählt, obwohl Sie schon gar nicht mehr hingegangen sind. Was haben Sie in der Zeit getan?
Schneider: Ich bin jeden Morgen an der Ruhr spazieren gegangen. Von hier bis Kettwig – das sind acht Kilometer – und wieder zurück. Ich habe dabei im Kopf Klavier geübt und gesungen. Damit habe ich mit 14 angefangen. Ich bin auch nach Essen gelaufen und schwarz gefahren mit der Straßenbahn. Oft erwischt und zu 90 Sozialstunden verdonnert worden. Ich musste in einem Jugendheim den Fotokeller aufräumen. Seitdem mache ich meine Bilder und Plakate selber. Jetzt habe ich auch eine digitale Kamera.
Warum war die Zeit als Säugling eigentlich Ihre schlimmste Zeit?
Schneider: Ich habe daran nur fragmentarische Erinnerungen, zum Beispiel, wie ich im Kinderwagen lag und die Leute immer dachten, ich sei ein Mädchen. Im Kinderbett hatte ich mir mal den Kopf zwischen den Gittern eingequetscht. Später bin ich immer vom Schlafzimmerschrank aufs Bett meiner Eltern gesprungen. Als Mutter und Vater einmal in die Oper gehen wollten und ich bei einer Nachbarin bleiben sollte, habe ich so geschrien, dass sie zu Hause blieben. Da war ich etwa ein Jahr alt. Wir hatten einen Kohleofen. Es war alles unheimlich klein.
„Dann kamen plötzlich drei Kinder auf einmal“
Ihre Tante lebte mit bei Ihnen?
Schneider: Tante Erna hatte das Zimmer mit dem Telefon. Wir Kinder konnten da nicht dran. Mein Vater war aber auch sehr klein. Einmal haben sie ihn mit vier Mann nach Hause getragen, weil er so besoffen war. Er ging sonntags immer zum Frühschoppen. Ab dann durfte er das nicht mehr.
Wie musikalisch war die Familie Schneider?
Schneider: Meine Mutter hat Gitarre gespielt. Mein Vater war ein Witzemacher und sagte immer, er könne nur Radio. Nach der Taufe meiner kleinen Schwester ging er nie mehr in eine Kirche hinein, weil die Bänke so unbequem sind. Er war ein ganz cooler Typ.
Wollten Sie eigentlich selbst Vater werden?
Schneider: Da denkt man doch mit 26 Jahren noch nicht dran. Ich wollte immer nur Musik machen. Ich hatte 1000 Jobs und habe mal hier, mal da gespielt. Dann kamen plötzlich drei Kinder auf einmal. Die Mutter ist eine ziemlich taffe Frau, die sehr viel übernommen hat, weil ich öfter auf Tournee war.
Sind Ihre Kinder genauso rebellisch wie Sie selbst?
Schneider: Klar. Spätestens in der Pubertät fangen sie an, sich irgendwie von den Eltern zu entfernen und sich für ihren lustigen Vater eine Zeit lang zu schämen. Schlimm finde ich für die Kinder, dass eine Gesellschaft ohne Handy anscheinend nicht mehr funktionieren kann. Gerade jetzt durch Homeschooling merkt man, dass das Internet einen großen Anteil im Leben annimmt. Meine Enkeltochter macht zum Beispiel ihre gesamten Hausaufgaben am Handy.
Wie hat Ihr kleinbürgerliches Elternhaus Sie geprägt?
Schneider: Auf der einen Seite bin ich sehr ordnungsliebend und kann in einem kleinen Rahmen leben. Andererseits mache ich genau das Gegenteil: Ich habe 60 Gitarren, fünf Flügel, Kontrabässe, alte Autos und Motorräder. Meine kleinbürgerliche Herkunft hält mich aber auf dem Teppich. Ich versuche zum Beispiel, keine Schulden zu haben. Und Kinder kosten ja auch Geld.
Sie werden jetzt, mitten in der Corona-Krise, 65 – und können wahrscheinlich keine große Party feiern. Finden Sie das traurig?
Schneider: Nach der Party an meinem 50. Geburtstag habe ich vier Tage lang aufgeräumt. Das mache ich erst wieder, wenn ich 100 werde. Könnte sein, dass meine Kinder alle zu mir kommen, aber vielleicht ist das ja wegen Corona gar nicht möglich.
Überprüft man sein Leben in so einer Ruhephase?
Schneider: Naja, letztes Jahr habe ich in Spanien in einem Krankenhaus gelernt, mit ziemlich extremen Situationen umzugehen. Seitdem bin ich viel ausgeglichener. Jetzt geht es mir wieder gut.
Auch auf der Bühne?
Schneider: Ja, auch. Neulich haben mich fünf junge Radfahrer angepöbelt, da habe ich dem einen hinterhergerufen: „Schneid dir mal ordentlich die Haare!“ Worauf er sich umdrehte, zu mir zurückkommen und mich verprügeln wollte. Ich jedoch habe meine Arme wie Muhammad Ali lässig herunterbaumeln lassen. Ich fahre selbst mal Fahrrad, aber ich gebe Fußgängern, Hunden und Vögeln immer Vorrecht.
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