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75 Jahre Grundgesetz: Das ewige Provisorium: Ein Spaziergang durch die Bonner Republik

1949 wurde Bonn Hauptstadt und blieb es für 50 Jahre. So sieht es im Bonner Regierungsviertel heute aus, rechts der Ex-Bundesminister Jürgen Rüttgers.
Foto: Benedikt Dahlmann, Rosaria Kilian
75 Jahre Grundgesetz

Das ewige Provisorium: Ein Spaziergang durch die Bonner Republik

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    Wahlplakate säumen die Franz-Josef-Strauß-Allee in Bonn. Sie führt über den Helmut-Schmidt-Platz zur Helmut-Kohl-Allee. Olaf Scholz (SPD), Sahra Wagenknecht (BSW) und die Augen von Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) werben von großen Standaufstellern für ihre Parteien um Stimmen bei der Europawahl. Die Skyline aus dem "Langen Eugen", dem 17-stöckigen Marriott-Hotel und dem 162 Meter hohen Post Tower verleihen dem alten Diplomatenviertel am Rhein etwas Weltläufiges. Wer einen oberflächlichen Blick in die Vergangenheit wirft, könnte diagnostizieren, dass die einstige Bundeshauptstadt hier versucht, ihren Bedeutungsverlust zu kompensieren.

    "Halb so groß wie der Friedhof von Chicago, aber doppelt so tot", "Entweder sind die Bahnschranken unten oder es regnet" oder schlicht und ergreifend "Bundesdorf": Bonn mangelte es noch nie an unschmeichelhaften Umschreibungen. Die Bonnerinnen und Bonner haben sich damit abgefunden. Als Provisorium startete die Stadt am Fuße des Siebengebirges 1949 in ihre Hauptstadtkarriere. Wobei der Begriff Hauptstadt stets eher vermieden wurde. Kein Kanzler kam ohne Relativierung oder Umschreibung aus. "Vorübergehend", "vorläufig" und "Regierungssitz" waren die Begriffe, die Bonn offiziell bezeichneten.

    Der "Lange Eugen" ist heute der Sitz des UN-Campus in Bonn.
    Der "Lange Eugen" ist heute der Sitz des UN-Campus in Bonn. Foto: Oliver Berg, dpa (Archivbild)

    Von der provisorischen Bundeshauptstadt zur UN-Stadt

    Jürgen Rüttgers (CDU) sieht die Sache heute nicht mehr so eng. Eingepackt in Pullover, Daunenweste und Mantel schlendert der Bildungsminister des letzten Kohl-Kabinetts die sonnige Rheinpromenade unterhalb des ehemaligen Plenarsaals entlang. Der Rheinländer spricht immer noch von der "ehemaligen Bundeshauptstadt". Hinter vorgehaltener Hand sagt er allerdings, dass sich Bonn nicht auf diesem Titel ausruhen, sondern einen zweiten Frühling als eine Art UN-Stadt anstreben sollte. Schließlich haben neben den Bundesministerien und 150 Nicht-Regierungsorganisationen mittlerweile auch mehr als 20 UN-Organisationen ihren Sitz in Bonn.

    Dem Zuzug der UN-Organisationen vorausgegangen ist eine emotionale Entscheidung des Deutschen Bundestags 1991. An der Hauptstadtfrage zog sich ein Riss quer durch die Fraktionen. Und Rüttgers? Als Bonn-Befürworter lieferte er sich ein heißes Scharmützel mit dem damaligen PDS-Abgeordneten Gregor Gysi (Die Linke). Dieser warf dem Bundestag vor, sein Versprechen zu brechen, wenn Bonn den Regierungssitz behalten würde. "Das ist doch Quatsch", rief Rüttgers ihm entgegen. Direkt im Anschluss hielt Wolfgang Schäuble eine der berühmtesten Reden der Nachkriegszeit. "Es geht um unser aller Zukunft. [...] Um unsere Zukunft in Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will. Und deshalb bitte ich Sie herzlich: Stimmen Sie mit mir für Berlin", sprach Schäuble damals. So sollte es kommen. Mit 337 zu 320 Stimmen setze sich Berlin gegen Bonn durch.

    Regieren in Bonn: Vom Ruderklub zum Kanzleramt in unter fünf Minuten

    "Schäuble hat mit seiner Rede den Unterschied gemacht. Davor war die Mehrheit noch für Bonn", erinnert sich der ehemalige Redaktionsleiter des ARD-Hauptstadtstudios, Marcel Pott. Beinahe deckungsgleich zur Amtszeit von Jürgen Rüttgers als Minister hatte der Nahost-Experte Pott die Redaktionsleitung in Bonn inne. Dass man sich damals kannte – selbstredend: "In der Nähe des Ruderklubs marschierte immer irgendein Minister die Rheinpromenade auf und ab", sagt Pott. Man lief sich quasi zwangsläufig über den Weg in dieser Stadt, in der man alles in 20 Minuten bequem mit dem Fahrrad erreicht. Zumindest, wenn einem die Bahnschranke keinen Strich durch die Rechnung macht.

    Das ist auch heute noch so. Es dauert keine fünf Minuten, da trifft Jürgen Rüttgers an der Rheinpromenade auf eine alte Bekannte. "Frau Dieckmann?" – "Herr Rüttgers, na das ist ja ein Zufall!" Von 1994 bis 2009, als Rüttgers zunächst Bundesminister und später Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen war, war Bärbel Dieckmann Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn. Ihr Mann, Jochen Dieckmann, war zu Rüttgers Zeiten Landesvorsitzender der oppositionellen SPD in NRW. So klein ist die Welt in Bonn. Und ein Gesprächsthema ist auch schnell gefunden. "Ein tolles Konzert war das gestern", sagt Dieckmann. Am Vorabend hatten sich Rüttgers und die Dieckmanns beim Kölner Männergesangsverein getroffen.

    ARD-Hauptstadtstudioleiter Pott: "Bonn war klein, fein und langweilig."

    Diese Nähe, dieses Provinzielle und häufig auch Kleinbürgerliche, genau das war es, was Bonn 1949 so attraktiv als vorübergehenden Regierungssitz gemacht hatte. Damals gewann das Rheinland knapp gegen die hessische Konkurrenz aus Frankfurt am Main und Kassel. "Bonn war klein, fein und langweilig. Aber eben auch ungefährlich. Genau das wollte man", sagt der ehemalige ARD-Hauptstadtstudioleiter Pott. Nach dem Zweiten Weltkrieg strahlte Bonn die nötige Bescheidenheit aus, die die Welt von Deutschland verlangen durfte.

    Bonns Ex-Bürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) und Nordrhein-Westfalens Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) vor dem Alten Wasserwerk an der Rheinpromenade, das übergangsweise den Plenarsaal des Deutschen Bundestags beheimatete.
    Bonns Ex-Bürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) und Nordrhein-Westfalens Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) vor dem Alten Wasserwerk an der Rheinpromenade, das übergangsweise den Plenarsaal des Deutschen Bundestags beheimatete. Foto: Rosaria Kilian

    Vor allem Konrad Adenauer (CDU) setzte sich für Bonn als neuen Regierungssitz ein. Dass Adenauer im Bad Honnefer Stadtteil Rhöndorf und damit in Sichtweite zu Bonn gewohnt hat, mag für seine Stimme nicht unerheblich gewesen sein. Wer die Bonner Republik verstehen will, muss in eben jenes Rhöndorf. Zurück zu den Wurzeln.

    Konrad Adenauer war ein begeisterter Gärtner. Der Garten an seinem Rhöndorfer Haus ist auch heute noch sehr sehenswert.
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    Seit 1937 wohnte Konrad Adenauer (CDU) im Bad Honnefer Stadtteil Rhöndorf. Sein Haus dort dient heute als Museum.

    Rhöndorf ist eine kleine, verschlafene Gemeinde mit etwas mehr als 2000 Einwohnern. Ab 1935 gehört der frühere Kölner Bürgermeister Adenauer zu ihnen. Er bezog bald ein Haus in Hanglage mit Blick nach Westen auf den Rhein und die Landschaft dahinter. Dort schuf er sich ein Refugium mit einem großen Garten samt Boccia-Bahn. Hochrangige Politiker kehrten daraufhin in Rhöndorf ein und aus. Mit kaltem Braten, schwerem Rotwein und der Sahnetorte des ortsansässigen Konditors Profittlich überzeugte er bei einem Abendessen über 20 Unionspolitiker in seinem Wohnhaus von einer bürgerlichen Koalition mit der FDP. Nach diesem Festmahl und den sinngemäßen Worten "jetzt, wo wir hier alle so beisammen sitzen, sind wir uns doch einig, dass ich der neue Parteivorsitzende werde" gab es für die Gegenkandidaten wenig Raum für Widerspruch. So sorgte Adenauer dafür, dass er zum ersten Kanzler der jungen Bundespolitik gewählt wurde.

    Wie Profittlichs Sahnetorte Bundespolitik machte

    Rhöndorfs größte Touristenattraktion – neben dem Wohnhaus von Konrad Adenauer – ist der Drachenfels, der berühmteste Berg des Siebengebirges. Von seinem Haus aus hatte Adenauer einen freien Blick darauf. Auf dem Drachenfels thront die markante Ruine der Burg Drachenfels, die man schon von Weitem sehen kann. Hier soll einmal der Drache gehaust haben, den der Ritter Siegfried laut der Nibelungensage erschlagen und in dessen Blut er gebadet haben soll, um unsterblich zu werden. Darum gibt es in Rhöndorf auch heute noch die Drachenfelsstraße, die zum Brunnen der Drachenfelsquelle führt. Hier, an diesem Brunnen, scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Das Wasser plätschert, in der Ferne hört man Vogelgezwitscher und Passanten grüßen freundlich.

    Um den Brunnen herum stehen ein paar gut erhaltene Fachwerkhäuser. Auf einem prangt die Aufschrift des "Café Profittlich", von dem Adenauer seine Torten bezog. Alles an diesem Café schreit förmlich nach alter Bundesrepublik. Der Verkaufsraum mit einem halben Dutzend feinster Sahne- und Buttercremetorten, Holzmobiliar mit Buntglasfenstern und ein Außenbereich samt Metallstühlen mit Gummibandrückenlehne. Man traut sich gar nicht, eine Tasse Kaffee zu bestellen, denn vermutlich gibt es "draußen nur Kännchen".

    Konditormeister Peter Profittlich vor seinem Traditionscafé in Rhöndorf bei Bonn.
    Konditormeister Peter Profittlich vor seinem Traditionscafé in Rhöndorf bei Bonn. Foto: Rosaria Kilian

    Inhaber des alteingesessenen Cafés ist Peter Profittlich. Mit karierter Bäckerhose und weißem Oberteil sitzt er auf einem der Metallstühle und erzählt in rheinischem Singsang von früher. Als Profittlichs Großvater, Peter Profittlich senior, einst dem späteren Bundeskanzler mit seiner Sahnetorte zum Parteivorsitz verhalf, waren die beiden Herren noch gute Bekannte.

    Der Kanzler und der Konditor streiten sich

    Ein paar Jahre später zerstritten sie sich. Profittlich senior wollte eine Seilbahn von Rhöndorf zum Drachenfels bauen, um den Tourismus anzukurbeln. "Mein Großvater hatte alles vorbereitet, Aufträge, Zustimmungen und so weiter. Und dann hat Adenauer seine Beziehungen spielen lassen und die ganze Geschichte zunichtegemacht. Daraufhin hat mein Großvater zu Adenauer gesagt 'Herr Bundeskanzler, Sie können mich mal.' Ein Eklat zur damaligen Zeit." Sechs Jahre redeten die beiden kein Wort miteinander. Peter Profittlichs Vater wurde sogar aus der CDU geworfen. Er fand parteipolitischen Unterschlupf bei der CSU. "Darum haben wir auch heute noch gute Kontakte nach Bayern", sagt Profittlich, der heute Zweiter Bürgermeister ist. Natürlich für die CDU. 

    Außer Adenauer hat Rhöndorf noch einen weiteren berühmten Sohn: den Journalisten Peter Scholl-Latour. Ihn kannte Peter Profittlich persönlich. Scholl-Latour soll Profittlich nach der Umzugsentscheidung des Bundestags eine Einschätzung zur politischen Lage gegeben haben, die nur im originalen Wortlaut dem rheinischen Charme gerecht wird: "Dä Scholl-Latour hätt hier auf dä Terrasse jesessen und jesacht, 'Profittlich, sei froh, datt dat janze unproduktive Beamtentum na Berlin jeht.'"

    Politikwissenschaftlerin über Bonner Architektur: "Ein Kessel Buntes"

    In der Retrospektive mag das verklärt sein. Schließlich wurde Rhöndorf mit dem Wegzug der Politik vom wahrscheinlich gefragtesten Dorf Deutschlands zu einer ganz normalen Gemeinde im Rheinland. Außerdem sind mit dem "unproduktiven Beamtentum" auch eine ganze Stange Fördergelder nach Berlin gegangen. Dennoch erinnern Scholl-Latours Worte aus Profittlichs Mund an Artikel 3 und 4 des rheinischen Grundgesetzes: "Wat fott es, es fott" (Was weg ist, ist weg) und "Et hätt noch emmer joot jejange" (Es ist noch immer gut gegangen). 

    Zuversicht und Genügsamkeit prägten die Anfangsjahre der Bonner Republik. Da Bonn vom Krieg vergleichsweise verschont blieb, gab es Infrastruktur, auf die die junge Bundesrepublik zurückgreifen konnte. "Es war eigentlich, so würde man im Rheinland sagen, ein Kessel Buntes", sagt Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach von der FU Berlin. Ehemalige Kasernen, historische Gebäude, dazu ein paar Neubauten. Die Gebäude für Politik und Verwaltung wurden im großen Stil gemietet und angebaut. Es gab kein Konzept, wie Bonn als Bundeshauptstadt aussehen sollte. Aber eine Devise: Keine Monumentalität ausstrahlen. Reuschenbach sieht dafür zwei Gründe. Einerseits sollte nichts den Eindruck erwecken, man knüpfe womöglich an dunkle Zeiten an. In der NS-Architektur hatten die Deutschen eine brutalistische, wuchtige Architektur kennengelernt. 

    Julia Reuschenbach forscht am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin zu Parteien und politischer Kommunikation. Davor beschäftigte sich die Rheinländerin auch mit Neuester Geschichte und politischer Architektur.
    Julia Reuschenbach forscht am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin zu Parteien und politischer Kommunikation. Davor beschäftigte sich die Rheinländerin auch mit Neuester Geschichte und politischer Architektur. Foto: Tobias Koch

    Aber es sei auch immer darum gegangen, "ja keinen Hauptstadtanspruch fest zu zementieren". Bonn habe sich sozusagen nie auf Dauer eingerichtet. Im neuen deutschen Grundgesetz stand schließlich das Wiedervereinigungspostulat. "Das kennen wir heute ganz anders", sagt Reuschenbach. "Wenn sich heutzutage Staaten repräsentative Gebäude bauen, denkt niemand darüber nach, ob man daraus, wenn man später wieder auszieht, nette Sozialwohnungen machen kann." Also: keine Staatsarchitektur für Bonn, sondern bis zuletzt eher Büroarchitektur.

    Der Kanzlerbungalow ist Zeichen für einen transparenten Politikstil

    Eine Ausnahme bildet der Kanzlerbungalow. Ludwig Erhard, der Zeit seines Lebens starke Schmerzen beim Gehen hatte und schlecht Treppen steigen konnte, gab ihn in Auftrag. Wohn- und Arbeitsräume in einem ebenerdigen Haus zu verbinden, das war in der BRD-Architektur neu. Ein repräsentativer Bereich für offizielle Empfänge, wenige Schritte entfernt die privaten Schlafräume des Kanzlers und seiner Familie. 

    Glas, Stahl, Schiefer und Kalkstein: So sieht es heute im Kanzlerbungalow in Bonn aus.
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    Die zurückhaltende Architektur des Kanzlerbungalows steht symbolisch für den Politikstil der Bonner Republik. So sieht es im Inneren aus.

    "Ein architektonisches Juwel", sagt Reuschenbach. Zwei versetzte Kuben, je mit einem Atrium in der Mitte, Pool, fahrbare Wände, bodentiefe Fensterfronten. Der Münchner Architekt Sep Ruf entwarf den modernen Bau. Keine Festung, in die sich der Kanzler zurückzieht, sondern ein helles, ein transparentes Haus. Der Bungalow liegt auf 15 Hektar Grund zwischen dem vorherigen Kanzlersitz Palais Schaumburg und Rhein, quasi im Garten des Kanzleramtes und von keiner Seite des Grundstücks einsehbar.

    Der Bungalow war Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt ein Zuhause. Nicht immer haben die Kanzler und deren Familien den privaten Teil genutzt, aber der Architektur haben sie alle etwas abgewinnen können, sagt Reuschenbach. Erst Kohl änderte die Ausstattung des Bungalows grundlegend: Er habe sich an der offenen Architektur gestört. Gleichzeitig seien ihm die Räume zu eng gewesen, nicht wohnlich genug. Kohl ließ die transparenten Vorhänge gegen blickdichte tauschen, Holzpaneele mit grobem, weißem Stoff überziehen. Seit 2009 ist der Bungalow ein Ausstellungsraum für die Öffentlichkeit. Räumlichkeiten in beiden Stilen sind erhalten und stehen in direktem Vergleich nebeneinander.

    Architektonisch "waren die Bayern hier Trendsetter", sagt Denkmalschützerin

    Der Kanzlerbungalow ist nicht das erste Gebäude, das Sep Ruf im Bonner Regierungsviertel plante. Wenige Straßen vom Bundeskanzleramt entfernt steht bis heute eine Landesvertretung, die die „avantgardistische, moderne Handschrift“ des Architekten trägt. "Damit waren die Bayern hier Trendsetter", sagt Ursula Schirmer von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Drinnen unterteilen ein schwarzes Treppengeländer, rote Sitzmöbel und goldene Querbalken das Foyer in verschiedene Nutzungsbereiche. Mit klarer Formsprache flocht der Architekt ein neues deutsches Selbstverständnis in das Gebäude ein. Ein kleines, leises Zeichen für die Bundesrepublik. "Die Bayern setzten dann allerdings eine weißblaue Botschaft", sagt Schirmer. Als der Freistaat nämlich an Selbstbewusstsein innerhalb der Bundespolitik gewann, gab die Landesvertretung in Bonn den Türen einen neuen, bajuwarisch-blau-weißen Anstrich.

    Das wichtigste bauliche Detail der bayerischen Landesvertretung aber befindet sich – noch heute – gleich am Empfang rechts um die Ecke. Ein goldener Zapfhahn versorgte jahrzehntelang Gäste und Mitarbeitende mit frisch gezapftem, bayerischem Bier. "Jeder Abgeordnete hat Erinnerungen an die bayerische Landesvertretung", sagt Schirmer.

    Das Parlament tagte in Bonn an drei verschiedenen Orten

    Zurück ins Hier und Jetzt. Wenige Schritte vom Kanzleramt entfernt steht das Bundeshaus. Einst Plenargebäude, heute ein Konferenzzentrum. Rüttgers grüßt den Pförtner, durchquert zielstrebig das Foyer. Im Plenarsaal ist noch alles so, wie er es in Erinnerung hat. Blaue Sitzbezüge, helles Holz, eine hohe Decke und Fensterfronten rundherum. Über alldem wacht der Bundesadler, liebevoll auch "Fette Henne" genannt. Rüttgers, ehemals Parlamentarischer Sprecher der Unionsfraktion, findet seinen Platz: "Erste Reihe, direkt neben Schäuble."

    Auf diesem Platz saß Politiker Jürgen Rüttgers (CDU) in seiner Zeit als Zukunftsminister im fünften Kohl-Kabinett.
    Auf diesem Platz saß Politiker Jürgen Rüttgers (CDU) in seiner Zeit als Zukunftsminister im fünften Kohl-Kabinett. Foto: Rosaria Kilian

    Den Ort, an dem die Bundesrepublik ihren Anfang nahm, gibt es heute nicht mehr. 1987 entschied sich der Bundestag, den alten Plenarsaal abzureißen und neu zu bauen. Auch wenn es aus heutiger Sicht absurd wirkt: Die Wiedervereinigung schien damals in weiter Ferne. Die Abgeordneten zogen übergangsweise ins Alte Wasserwerk, nur einen Steinwurf vom alten Plenarsaal entfernt. Hier hielt Schäuble 1991 seine berühmte Rede, ehe das Parlament ein Jahr später umzog.

    Ex-Minister Jürgen Rüttgers hält den Plenarsaal für "gelungene Architektur"

    Mit dem Abriss des alten Plenarsaals missachtete der Bund geltenden Denkmalschutz. Vielen fiel deswegen der Umzug in den Neubau schwer. Trotzdem befindet Rüttgers: "Gelungene Architektur." In der Mitte das Rednerpult, links davon saß das Kabinett, rechts der Bundesrat, kreisförmig angeordnet die Bundestagsfraktionen. Dass sich alle Abgeordneten bei der Diskussion in die Augen sehen mussten – ein demokratisches Zeichen und ein Novum in der politischen Architektur. "Es hat nie irgendwelche Streitigkeiten gegeben", sagt Rüttgers.

    Schon beim ersten Bonner Plenarsaal sei die Frage nach einer kreisrunden Sitzordnung aufgekommen, sagt Politikwissenschaftlerin Reuschenbach. 1949 haben sich wichtige Abgeordnete, unter ihnen auch Adenauer, dagegen ausgesprochen. In seinem Politikverständnis habe es eine klare Hierarchie gegeben. Dazu gehörte ein erhöhtes Rednerpult und Fraktionen, die dem Pult gegenüberstehen. Über den alten Plenarsaal sagte Adenauer sogar: "Es gibt nichts Ungemütlicheres, fast möchte ich sagen, Unerträglicheres, als einen Aufenthalt in einem solchen Glaskasten.“ Anders als Rüttgers hätte er sich höchstwahrscheinlich im neuen Plenarsaal unwohl gefühlt. Zeiten ändern sich.

    Über die "Pizza-Connection" lernten sich Schwarze und Grüne kennen

    Nicht nur die Architektur, auch der provinzielle Charakter Bonns war nicht für jeden etwas. Den Journalisten Marcel Pott hat die Enge der Stadt nach fünf Jahren Hauptstadtstudioleitung wieder ins Ausland getrieben: "Für mich war das nichts. Ich hatte die Nase voll vom innenpolitischen Klein-Klein. Als Fernsehfritze hat man stundenlang auf irgendwelchen Gängen gewartet, um Politiker-Statements einzuholen." Dadurch kamen sich alle näher: Journalistinnen und Journalisten, aber auch Politikerinnen und Politiker. Näher vielleicht, als es heute in Berlin der Fall ist. Der eine oder andere verlor darüber auch mal die professionelle Distanz.

    Zudem spielte sich vieles im Informellen ab. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die sogenannte Pizza-Connection. Im italienischen Restaurant "Sassella", unweit des Diplomatenviertels, trafen sich in den 1990er-Jahren junge Grüne- und CDU-Abgeordnete, um einander kennenzulernen. Mit dabei waren unter anderem Peter Altmeier und Armin Laschet für die CDU sowie Cem Özdemir und Volker Beck für die Grünen. Sie wollten die Positionen des politischen Gegenübers verstehen. "Wenn Sie heute CDU- und Grünen-Abgeordnete zusammen im Restaurant sehen, können Sie sicher sein, dass Sie am nächsten Tag die nächste Schlagzeile haben", sagt Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach, aber: "Politik braucht auch mal Vertraulichkeit."

    Ein Symbol für die Bonner Republik: das Bundesbüdchen

    Das Bundesbüdchen, inzwischen gegenüber dem Bundeshaus, ist ein Ort, der gewiss dazu beigetragen hat, Hierarchien abzubauen und Vertraulichkeit zu schaffen. In der Schlange vor Jürgen Rauschs Kiosk waren alle Menschen gleich. Tageszeitung, Kaffee, Wiener Würstchen. Wer Politik machte, musste auch mal Pause machen. Seit 1957 ist das Bonner Bundesbüdchen, ein Zeitungskiosk und Imbiss, eine der ersten Anlaufstellen dafür. Hier kaufte Joschka Fischer Asterix-Hefte, Hans-Dietrich Genscher Gummibärchen. Der Bestseller: "Die Bockwurst für zwei Mark", sagt Rausch. Für den Bau des Konferenzzentrums musste das Bundesbüdchen weichen, war einige Jahre auf einem Bauhof eingelagert. Seit 2020 steht der kleine 50er-Jahre Pavillon wieder im Regierungsviertel. Für die Renovierung und Wiedereröffnung ist ein Förderverein verantwortlich, der Kiosk steht unter Denkmalschutz.

    Jürgen Rüttgers am Bundesbüdchen. Nach kurzer Zeit hat sich eine Traube um den Ex-Minister gebildet. Hier hat er sich kurz mit seinem Gesprächspartner zurückgezogen.
    Jürgen Rüttgers am Bundesbüdchen. Nach kurzer Zeit hat sich eine Traube um den Ex-Minister gebildet. Hier hat er sich kurz mit seinem Gesprächspartner zurückgezogen. Foto: Benedikt Dahlmann

    Als Jürgen Rüttgers am Bundesbüdchen vorbeiläuft, wird er von ein paar Bonnern herbeigerufen: "Der Herr Minister! Schön, dass Sie hier sind." Richtig Lust hat Rüttgers zwar nicht auf den Plausch, aber nach einem kurzen Moment ist es, als hätte er einen Schalter umgelegt und er schwadroniert mit den Anwesenden über dies und das und jenes. Über die alte Zeit, was er heute so macht und ob er nicht für das eine oder andere Projekt ein gutes Wort einlegen könne. 

    Ein bisschen ist das Bundesbüdchen, wie es samt Ex-Minister im Diplomatenviertel so da steht, sinnbildlich für den Umgang der Bonner mit ihrer alten Republik. Sie freuen sich immer noch, wenn die alten Recken vorbeikommen. Ganz besonders, wenn etwas für sie herausspringt. Aber die Bonnerinnen und Bonner haben gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Und mit dem Wegzug der Bundespolitik umzugehen.

    Jeder Versuch, einen Vergleich zwischen der alten und neuen Republik zu ziehen, führt wahrscheinlich ins Leere. Bonn war klein, provinziell und provisorisch. Berlin ist groß, anonym und weltstädtisch. Aber was sich die einen zurückwünschen, war den anderen seit jeher ein Dorn im Auge. Oder wie Jürgen Rüttgers es beschreibt: "Es war nicht besser oder schlechter. Es war einfach anders."

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