i
Foto: Christof Jakob
Foto: Christof Jakob

Das sind die sechs Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2023. Unter ihnen: Ulrike Sterblich mit ihrem Roman "Drifter".

Deutscher Buchpreis
15.10.2023

Vergabe des Deutschen Buchpreises: So liest sich "Drifter" von Ulrike Sterblich

Von Felicitas Lachmayr

Zum Start der Frankfurter Buchmesse wird der Deutsche Buchpreis vergeben. Auch "Drifter" von Ulrike Sterblich steht zur Wahl. Hat sie mit ihrer Satire Chancen?

Sechs Bücher stehen zur Auswahl, aber welches wird gewinnen? Mit Spannung erwarten Literaturfans, welcher Roman in diesem Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wird. Vor dem Auftakt der Frankfurter Buchmesse am Dienstag wird schon am Montagabend, 16. Oktober, der Gewinner verkündet. Nominiert sind sechs Autorinnen und Autoren: Terézia Mora, Necati Öziri, Anne Rabe, Tonio Schachinger, Sylvie Schenk und Ulrike Sterblich. 

Am bekanntesten dürfte die in Ungarn geborene Terézia Mora sein, die bereits 2013 den Buchpreis gewann. Mit ihrem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ über eine toxische Liebesbeziehung steht sie zum zweiten Mal auf der Shortlist. Der Österreicher Tonio Schachinger ist für seinen Coming-of-Age-Roman „Echtzeitalter“ nominiert. Die französisch-deutsche Autorin Sylvie Schenk geht mit ihrer Familiengeschichte „Maman“ ins Rennen. Mit den Werken von Necati Öziri und Anne Rabe haben es zwei Erstlinge in die Auswahl geschafft. Öziri bildet in „Vatermal“ deutschtürkische Realitäten ab, Rabe erzählt im autofiktionalen Werk „Die Möglichkeit von Glück“ von der Migration aus der DDR. 

"Drifter" von Ulrike Sterblich - ein skurriler Ritt durch die Social-Media-Welt

Chancen auf die Auszeichnung hat auch die Berliner Politologin Ulrike Sterblich, die mit „Drifter“ einen satirischen Kommentar auf die Gegenwart und eine Hommage an die Freundschaft liefert. Worum es konkret geht? Unmöglich zu beschreiben, denn Sterblich verwebt reale Bezüge mit fantastischen Elementen, entwirft Verschwörungsszenarien und seziert den Wahnsinn des Internetalltags. 

i
Foto: Dorothea Tuch, Rowohlt Verlag
Foto: Dorothea Tuch, Rowohlt Verlag

Ulrike Sterblich zeichnete schon Comics für das Satiremagazin Titanic. Jetzt hat sie mit "Drifter" ihren zweiten Roman geschrieben.

Aber von vorn: Eine Begegnung in der S-Bahn stellt das Leben von Wenzel auf den Kopf. Der Ich-Erzähler sitzt einer Frau im goldenen Kleid gegenüber, die das neue Werk seines Lieblingsautoren Drifter liest. Er recherchiert im Netz, aber findet nichts. Woher hat die Frau das Buch? Und warum wird Wenzels bester Freund Killer kurz darauf vom Blitz getroffen und ist völlig wesensverändert? 

Damit beginnt ein skurriler Ritt durch die Medienwelt, durch Kommentarspalten und Social-Media-Kanäle. Denn die Frau im goldenen Kleid betreibt eine Firma, die peppige Web-Videos mit versteckter Anlageberatung produziert und Smart-Watches verhökert, die das Gedächtnis ihrer Träger anzapfen. So weit, so abgedreht. 

Lesen Sie dazu auch

Ulrike Sterblich hat schon für das Satiremagazin Titanic Comics gezeichnet

Deutlich greifbarer wirkt dagegen die innige Freundschaft, die Wenzel und Killer von Kindheit an verbindet. Später, da arbeitet der eine schon als PR-Chef und der andere betreut Social-Media-Kommentare bei einem TV-Sender, sitzen sie abends oft zusammen, zocken oder trinken Bier. Doch der Blitzeinschlag verändert die Dynamik. Killer kündigt den Job, zertrümmert sein Handy und zieht in den Wohnblock ihrer Kindheit zurück. Er hat zwar noch alle Tassen im Schrank, aber das Geschirr neu sortiert, resümiert Wenzel. Die anfängliche Verwirrung wandelt sich im Laufe des Romans in gegenseitiges Verständnis. Sie lassen die Veränderung zu, begegnen sich neu und wachsen daran. 

i
Foto: Rowohlt Verlag
Foto: Rowohlt Verlag

Mit ihrem Roman "Drifter" ist Ulrike Sterblich eine von sechs Nominierten für den Deutschen Buchpreis.

Sterblich, die für das Satiremagazin Titanic Comics zeichnete und mit „The German Girl“ 2021 ihren ersten Roman vorlegte, hat einen wunderbaren Sprachstil. Die Dialoge klingen authentisch, der lockere Ton erinnert an Wolfgang Herrendorfs „Tschick“. Bei Sterblich werden Listen von ungelesenen Büchern zu „Mahnmalen eines schockierenden Missverhältnisses zwischen Lebenszeit und Wissensdrang“ und ein Krawall-Johnny, der von nichts eine Ahnung, aber zu allem eine Meinung hat, wird zum Destillat der bundesweiten Kommentarspalten-Gesellschaft. 

Die Effekthascherei der Medien, der Hass im Netz, die Welt der Influencer, die mit fröhlicher Fassade sich selbst und sinnlose Produkte vermarkten – all das kritisiert Sterblich. Trotzdem kommt ihre Erzählung nie verbittert, sondern liebevoll daher, getragen von der tiefen Freundschaft zwischen Wenzel und Killer. Sterblich macht klar, was den Menschen im Zeitalter der unerklärlichen Merkwürdigkeiten Halt gibt: Ein warmherziges, soziales Miteinander. 

Am Ende scheint auch das Geheimnis um Drifter gelüftet. Hinter dem Pseudonym steckt ein abgehalfterter Autor, der sein eigenes Werk als albernen Quatsch abtut und sich um mediale Aufmerksamkeit einen feuchten Kehricht schert. Die Rechte an seinem neuen Roman wurden an die Social-Media-Firma der mysteriösen Frau verkauft, die es mit einem billigen PR-Gag pompös zu vermarkten weiß. Ein satirischer Kommentar auch auf den Literaturbetrieb. 

Die Auswahl der Bücher sorgt immer wieder für Verwunderung

Da wirkt es fast ironisch, dass Sterblichs Roman jetzt für den Buchpreis nominiert ist, bei dem es laut Statuten primär darum geht, Aufmerksamkeit zu generieren. Dafür setzt die Jury vor allem auf Überraschungseffekte. So landen üblicherweise eher abseitige Werke und Neuentdeckungen auf der Shortlist, was im Vorfeld immer wieder für Verwunderung sorgt. Denn mit dem Preis soll laut Statuten auch der deutschsprachige „Roman des Jahres“ prämiert werden. Dass es renommierte Schriftsteller wie Maxim Biller oder Thomas von Steinaecker nicht mal in die Vorauswahl schafften, irritierte einige Vertreterinnen und Vertreter des Literaturbetriebs. 

Neu ist die Debatte über die Ausrichtung des Buchpreises nicht. Der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann forderte schon mal dessen Abschaffung. Sein neuer Roman „Lichtspiel“ erschien letzte Woche und wurde vermutlich nicht mal eingereicht, vielleicht auch bewusst. Denn manche namhafte Autorinnen und Autoren meiden das Rampenlicht inzwischen ganz gezielt. Sie werden auch ohne Buchpreis gehört und gelesen. 

Einfach mal in andere Welten abschweifen, wer wünscht sich das nicht

Doch für junge oder unbekanntere Autorinnen und Autoren ist der Buchpreis eine Chance, denn er gilt immer noch als eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche. Wer es in die engere Auswahl schafft oder gewinnt, wird medial wahrgenommen, wie zuletzt Kim de l’Horizon mit seinem Roman „Blutbuch“. Zudem ist der Preis mit 37.500 Euro dotiert und damit auch finanziell attraktiv für angehende Autorinnen und Autoren. 172 Romane von 111 deutschsprachigen Verlagen wurden heuer eingereicht. Eine siebenköpfige Jury, die jedes Jahr von der Akademie Deutscher Buchpreis neu gewählt wird und aus Buchhändlern, Kritikerinnen, Journalisten, Literaturwissenschaftlerinnen oder Publizisten besteht, traf die Vorauswahl.

Ulrike Sterblichs Romans „Drifter“ sei „eine meisterhafte Geschichte über das große Nichts“, urteilte die Jury. Tatsächlich weiß man am Ende nicht, was man da gerade gelesen hat. Nur so viel: es hat unheimlich Spaß gemacht. Der Ich-Erzähler und sein vom Blitz getroffener Freund bleiben in Erinnerung. Und auch so schöne Sätze wie: „Der Makel liegt nicht in der lädierten Vollkommenheit, der Makel liegt darin, Vollkommenheit zu wollen.“ Man muss die Fantasie nicht zu erklären versuchen, man kann sich einfach daran erfreuen. Das Englische „drift“ bedeutet so viel wie sich treiben lassen. Einfach mal in andere Welten abschweifen und der Realität entkommen, wer wünscht sich das nicht.

Facebook Whatsapp Twitter Mail