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Interview: Wie Pandemien in der Vergangenheit gewütet haben

Interview

Wie Pandemien in der Vergangenheit gewütet haben

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    Eine Mahnung, wie gefährlich die Masern sind: Im Rijksmuseum Boerhaave ist der Gipsabdruck eines Mädchens aus Dresden zu sehen, das schwer an Masern erkrankt ist. Durch die Impfung hat die Krankheit ihren Schrecken verloren.
    Eine Mahnung, wie gefährlich die Masern sind: Im Rijksmuseum Boerhaave ist der Gipsabdruck eines Mädchens aus Dresden zu sehen, das schwer an Masern erkrankt ist. Durch die Impfung hat die Krankheit ihren Schrecken verloren.

    Heer Haarhuis, Sie haben Ihre Ausstellung „Besmet!“ – Infiziert! lange vor Corona geplant. Wie alle Museen musste auch Ihr Haus wegen der Pandemie zeitweilig schließen. Die Schau in Leiden beginnt mit einem leeren Schaukasten, gewidmet der „unbekannten Krankheit X“. Sind Sie überrascht wie schnell Sie die Aktualität eingeholt hat?

    Amito Haarhuis: Sicherlich. Wir haben vor zwei Jahren mit der Vorbereitung für die Ausstellung begonnen. Schon damals gab es eine Warnung der Weltgesundheitsorganisation WHO vor der sogenannten Krankheit X, einem unbekannten Erreger, der eine weltweite Pandemie auslösen kann. Vorläufer hatten wir mit den Infektionswellen Sars und Mers gesehen. Jetzt hat Krankheit X mit Corona überraschend schnell ein Gesicht bekommen.

    Was hat Sie bewogen sich an eine Ausstellung über Infektionskrankheiten zu wagen?

    Haarhuis: Ähnlich wie in Deutschland haben auch wir in den Niederlanden eine gewisse Impfmüdigkeit bis hin zur Skepsis gesehen. Das drückte sich aus in sinkenden Impfraten für Krankheiten wie Masern oder Röteln, aber auch gegen den HBV-Erreger, der Gebärmutterhalskrebs auslösen kann. Als natur- und medizinhistorisches Museum haben wir deshalb nach den Ursachen gefragt und uns entschlossen, uns intensiver mit der Geschichte von Pandemien zu befassen. Dann stößt man bald auf so gewaltige Apparate wie die Eiserne Lunge, die an Polio-Erkrankten im vergangenen Jahrhundert das Atmen erleichterte. Das erzeugte damals gewaltigen Eindruck, sorgte aber auch dafür, dass die Impfraten gestiegen sind. Wir haben eine solche Eiserne Lunge in der Schau ausgestellt. Uns geht es darum, eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart zu schlagen.

    Sie hatten sinkende Impfraten angesprochen. Die Mehrheit der Menschen hielt die Gefahr, die von Infektionskrankheiten ausgeht, für überwunden. Was sagt das über unser Wissenschaftsbild aus?

    Haarhuis: Weil Impfstoffe gegen bekannte Krankheiten so gut wirken, verlieren wir häufig den Respekt vor Krankheiten. Beispiel Masern: Wir zeigen in der Ausstellung den Gipsabdruck eines an Masern erkrankten Mädchens aus Dresden aus dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Noch in den 1930er Jahren starben in den Niederlanden jährlich rund zweihundert bis dreihundert Kinder an Masern. Das wird leicht vergessen. Das Verletzliche durch Krankheiten war damals stärker im Bewusstsein.

    Die Geschichte zeigt, Maßnahmen wie Social Distancing sind gar nicht so neu …

    Haarhuis: Im Mittelalter gab es die Pesthäuser und die Abgrenzung. Schon in der Bibel wird die Lepra-Krankheit beschrieben. In späteren Zeiten mussten Kranke ein Glöckchen tragen oder eine sogenannte Lazarus-Klapper. Sie warnten damit aber nicht nur vor ihrer Infektion, gleichzeitig war das auch eine Bitte um Almosen. Fürsorge gehörte schon immer zum Social Distancing dazu.

    Welche weiteren Parallelen gibt es?

    Haarhuis: Wir hatten über die Pesthäuser im Mittelalter gesprochen. Quarantäne ist eine der ältesten Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten. Ausgehend von der Schiffsquarantäne, um im Mittelalter das Einschleppen von Ratten und die Verbreitung von Pest einzudämmen. Vor Venedig mussten die Schiffe damals vierzig Tage lang warten, aus dem Italienischen quaranta giorni – vierzig Tage – wurde schließlich unser heute geläufiges Wort Quarantäne.

    Auch der Superspreader ist nicht neu, also die Tatsache, dass manche Infizierte die Krankheit besonders stark verbreiten …

    Haarhuis: Aus den USA kennen wir Typhus Mary: Mary Mallon. Sie kam 1883 aus Irland in die Vereinigten Staaten und arbeite als Köchin in verschiedenen Haushalten. Überall, wo sie Anstellung fand, brach bald eine Typhus-Welle los. Erst spät erkannte man, dass Mallon die Krankheit verbreitete. Sie trug den Erreger in sich, ohne selbst an Typhus zu erkranken und starb 1938 – in Isolation – auf einer Insel vor New York. Wir zeigen in der Schau ihre Krankenakte und Aufzeichnungen ihres behandelnden Arztes. Die Exponate stammen aus der privaten Sammlung von Jaap van Dissel, dem Direktor des RIVM, der niederländischen Variante des Robert-Koch-Instituts. Er hatte sie bei einem Antiquar in New York erstanden. Die Leidenschaft der Forscher beschränkt sich also nicht allein auf das Labor.

    Viele fürchten nach der Urlaubssaison eine zweite Corona-Welle. Welche Maßnahmen haben sich in der Vergangenheit gegen Pandemien als erfolgreich erwiesen?

    Haarhuis: Zum einen die Quarantäne. Die wird schon seit dem 14. Jahrhundert praktiziert. Aber auch Schutzkleidung für das medizinische Personal. Das gilt nicht allein für Corona. Wir zeigen in der Ausstellung einen Pest-Doktor mit schwerem Umhang und einem spitz zulaufenden Stoffschutz vor Nase und Mund. Darin waren Kräuter, die gegen den Pest-Erreger, aber auch gegen den Gestank, helfen sollten. Da das Ganze aussah wie ein Vogelschnabel, hieß der Pestarzt bald Schnabelmann oder Dr. Schnabel. Das zeigt aber: Auch die Debatte über Mund-Nasen-Masken ist nicht neu.

    Was können wir aus der Geschichte über den Umgang mit Pandemien lernen?

    Haarhuis: Es braucht Geduld und ein entschiedenes Vorgehen. Infektionskrankheiten verbreiten sich in globalisierten Zeiten schneller als früher, aber dafür sind auch unsere Informationskanäle besser. Im vorigen Jahrhundert funktionierte Aufklärung noch über Poster, heute erreicht ein Regierungschef mit einer Pressekonferenz Millionen. Auch die Möglichkeiten der medizinischen Forschung sind größer, etwa durch Gen-Analysen. Das bietet neue Chancen.

    Eine Frage zum Schluss mit Blick auf eine mögliche zweite Infektionswelle. Ihre Schau in Leiden ist verlängert – haben Sie die Hoffnung, die verbliebene leere Vitrine bis dahin mit einem Corona-Impfstoff bestücken zu können?

    Haarhuis: Die Ausstellung läuft bis Januar 2022. Da bleibt noch Zeit. Ich bin grundsätzlich Optimist und hoffe, dass wir den Impfstoff und das fehlende Exponat bis dahin noch bekommen. Es geht aber nicht nur um den Impfstoff, sondern auch um die Produktion der Impfdosen und den Zugang zu dem Medikament für alle. Um einen breiten Infektionsschutz gegen Corona zu erhalten, müssen vier bis fünf Milliarden Menschen immun sein. Das Virus lässt sich nur gemeinsam stoppen. Auch das ist eine Erfahrung der Geschichte.

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