Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Interview: Impfskeptikerin? Sahra Wagenknecht erklärt ihre Sicht auf Corona

Interview

Impfskeptikerin? Sahra Wagenknecht erklärt ihre Sicht auf Corona

    • |
    Sahra Wagenknecht, 52, bei der Anne-Will-Sendung vor drei Wochen, seit der die Bundestagsabgeordnete der Linken mal wieder im Feuer steht.
    Sahra Wagenknecht, 52, bei der Anne-Will-Sendung vor drei Wochen, seit der die Bundestagsabgeordnete der Linken mal wieder im Feuer steht. Foto: Jürgen Heinrich, Imago Images

    Frau Wagenknecht, wie beurteilen Sie die neuen Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zu Corona?

    Sahra Wagenknecht: Die Maßnahmen gehen in die falsche Richtung. Alle renommierten Virologen, Herr Streeck, Herr Drosten, auch der Epidemiologe Kekulé, weisen darauf hin, dass ein beachtlicher Teil des Infektionsgeschehens mittlerweile unter Geimpften stattfindet. Leider schützt die Impfung nicht davor, sich zu infizieren und das Virus weiterzutragen. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Eine große schwedische Studie weist nach, dass es in diesem Punkt schon wenige Monate nach der Impfung nahezu keinen Unterschied zwischen Geimpften und Ungeimpften mehr gibt. Damit bringt 2G eine gefährliche Scheinsicherheit. Es wäre besser, da, wo sehr viele Menschen aufeinandertreffen, alle zu testen, statt Ungeimpfte auszugrenzen, während das Virus unter den anderen ungebremst kursieren kann.

    Die nächste Stufe, in Bayern bereits in Aussicht, heißt dann: Lockdown für Ungeimpfte.

    Wagenknecht: Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Wenn die Regierung uns erzählt, die Ungeimpften seien an allem schuld, will sie nur von ihrem eigenen Versagen ablenken. Auch ich werbe dafür, dass sich ältere Menschen oder Menschen mit bestimmten Risikofaktoren impfen lassen. Aber der Schutz der Impfung ist eben auch nicht so dauerhaft wie erhofft, deshalb diskutieren wir ja auch jetzt schon über das Boostern. Und die schlichte Wahrheit ist: Ein 30-jähriger, gesunder Ungeimpfter hat ein deutlich geringeres Risiko, auf der Intensivstation zu landen, als ein 80-jähriger doppelt Geimpfter, dessen Impfung mehrere Monate zurückliegt. Junge Leute zur Impfung zu zwingen, ihnen sonst das Training im Sportklub oder die Klassenfahrt zu verwehren, entlastet unser Gesundheitssystem daher kein bisschen. Wirklich skandalös ist doch etwas anderes …

    "Skandalös" laut Wagenknecht: Die Verschärfung des Pflegenotstandes

    Und zwar?

    Wagenknecht: Wir haben in Deutschland aktuell rund 3.500 Corona-Patienten auf den Intensivstationen. Aber wir haben über 6.000 Intensivbetten weniger als noch vor einem Jahr, weil der Personalnotstand sich weiter verschärft hat. Das zeigt doch, wo die Hauptverantwortung dafür liegt, dass jetzt schon wieder Operationen verschoben werden müssen. Man hat nichts gegen schlechte Arbeitsbedingungen und miese Löhne in der Pflege getan, denn das sind doch die Faktoren, die immer mehr Pflegekräfte dazu bringen, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Mit einer Einstiegsprämie von 20.000 Euro, besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen könnte man viele von ihnen zurückholen.

    Aber mehr Intensivbetten würde die Krise auch nur vorübergehend entschärfen. Und wenn Impfen nicht die Lösung ist: Was dann?

    Wagenknecht: Bei den Über-60-Jährigen haben wir aktuell eine Impfquote von 90 Prozent, das heißt zehn Prozent sind da noch ungeschützt. Sie sind wirklich gefährdet, denn je älter jemand ist, desto größer ist die Gefahr eines schweren Verlaufs. Wenn die EU die von der WHO längst anerkannten traditionellen Corona-Impfstoffe endlich auch hier zulassen würde, fiele die Entscheidung für eine Impfung vielen sicher leichter. Zugleich muss man sehen: Aktuell sind viel weniger Corona-Patienten in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen als im letzten Winter. Wenn wir auch nur die Kapazitäten vom letzten Jahr noch hätten, hätten wir zurzeit überhaupt keinen Engpass. Das geht bei all den Alarmmeldungen unter: Wir haben derzeit eine bundesweite Hospitalisierungsrate von 5,3, in der zweiten Welle lag der Wert drei Mal so hoch …

    Wagenknecht: "Debatte um Impflicht in der Pflege geht an der Realität vorbei"

    Aber wir haben ja auch erst Mitte November, die Welle hebt ja erst an…

    Wagenknecht: Erstaunlicherweise sinkt die Zahl der Corona-Patienten in den Krankenhäusern seit gut einer Woche, aber das kann sich natürlich auch wieder ändern. Aber die handelnden Politiker müssen endlich begreifen, dass Geimpfte Teil des Infektionsgeschehens sind. So werden zum Beispiel aktuell fast nur Ungeimpfte getestet, deshalb haben wir bei den Ungeimpften viel höhere Inzidenzen als bei den Geimpften – das ist aber ein Zerrbild der Realität. Und man muss den Menschen auch insoweit die Wahrheit sagen, dass sie auch als doppelt Geimpfte vorsichtig sein müssen, weil sie zum Beispiel ihre Oma anstecken können – und wenn die eine länger zurückliegende Impfung hat, ist sie auch wieder gefährdet. Eine hohe Impfquote ist kein Allheilmittel. Wichtig ist die Impfquote in den Risikogruppen, da kann die Impfung tatsächlich schwere Krankheiten und Todesfälle eindämmen. Aber auf das Infektionsgeschehen hat sie kaum einen Einfluss. Wir haben in Europa Länder mit sehr hoher Impfquote und niedriger Inzidenz wie Portugal und Länder mit hoher Impfquote und sehr hoher Inzidenz wie Dänemark und Island. Die Corona-Impfstoffe leisten leider nicht, was viele klassische Impfungen leisten. Wer gegen Masern geimpft ist, kann niemanden mehr anstecken. Deshalb geht auch die Debatte um eine Impfpflicht für gewisse Berufsgruppen etwa in der Pflege an der Realität vorbei. Auch geimpfte Pfleger können das Virus weitergeben. Deshalb hilft nur, alle zu testen.

    Aber was gilt es, aus dieser Situation darüber hinaus zu lernen?

    Wagenknecht: Von den 3.500 Menschen auf den Intensivstationen sind rund 2.500 ungeimpft. Wenn wegen 2.500 Kranken in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern der Zusammenbruch des Gesundheitssystems droht, dann ist am Gesundheitssystem etwas faul. Den Pflegenotstand gab es schon vor Corona, er hat sich durch Corona nun zugespitzt. Seine Ursachen haben mit der Gewinnorientierung der Krankenhäuser zu tun, mit Tarifflucht und Personalabbau. Dass das Coronavirus im Herbst wieder verstärkt kursieren würde, ist keine Überraschung – das wird auch in den nächsten Wintern so sein. Und wenn sich der aktuelle Personalschwund in den Krankenhäusern fortsetzt, müssen wir irgendwann in jeder größeren Grippewelle das Land in den Lockdown schicken. Wenn Leute wie Herr Spahn jetzt ungeimpften jungen Leuten die Schuld für die Misere zuschieben, wollen sie nur davon ablenken, dass sie jetzt schon den zweiten Sommer verschlafen und nichts dafür getan haben, dass wir besser vorbereitet in die kühlere Jahreszeit gehen.

    Die bessere Vorbereitung verschaffte uns aber doch nur Zeit und ist an sich noch keine Lösung.

    Wagenknecht: Der endgültige Weg aus der Pandemie kann nur darüber führen, dass wir es entweder schaffen, Impfstoffe zu entwickeln, die das Virus nachhaltig eindämmen, oder dass die meisten eine natürliche Immunität entwickeln und hoffentlich bald ein gutes Medikament verfügbar ist, das schwere Verläufe verhindert.

    Wann würden Sie sich denn impfen lassen?

    Wagenknecht: Wenn in Deutschland ein traditioneller Impfstoff gegen Corona zugelassen wird. Die mRNA-Impfstoffe beruhen auf einem neuen gentechnischen Wirkprinzip, das zum ersten Mal bei einer Impfung angewandt wird und für das keinerlei langfristige Erfahrungswerte vorliegen. Ich verstehe nicht, wieso man Menschen, die deshalb skeptisch sind, die anderen Impfstoffe, die es ja längst gibt, die die WHO zugelassen hat und die weltweit bereits milliardenfach eingesetzt wurden, als Alternative vorenthält.

    Wagenknecht zu Spaltung in der Gesellschaft: "Es ist schrecklich"

    Im Sommer standen Sie im Feuer, weil Sie gefordert haben, dass man Menschen mit prekärer Lebenswirklichkeit und politikkritischen Haltungen nicht der AfD überlassen dürfe. Ein Muster, das sich hier wiederholt, oder?

    Wagenknecht: Ja. Wer für sich das Risiko der Impfung höher einschätzt als das Risiko der Infektion, ist deshalb noch lange nicht rechts. Natürlich kursieren im Netz auch abenteuerliche Thesen über die Impfstoffe, die nachweislich nicht stimmen. Aber wenn Menschen im öffentlichen Diskurs nur noch geächtet und ausgegrenzt werden: Dann schauen sie sich natürlich um, ob sie woanders Diskussionszusammenhänge finden, bei denen sie sich zumindest respektiert und verstanden fühlen. Ich merke das an den Mails, die ich seit meinem Auftritt bei Anne Will erhalten habe: Es sind mehrere tausend, so viele wie noch nie in so kurzer Zeit. 80 bis 90 Prozent davon sind positiv, und viele schreiben mir, dass sie heilfroh sind, dass jemand, der eben nicht AfD und kein Corona-Leugner ist, ihre Sichtweise mit der angemessenen Differenzierung öffentlich vertritt. Wir erleben gerade eine gefährliche Spaltung der Gesellschaft, die von der Politik geschürt wird. Und die noch viel tiefer geht und polarisierender ist als die Frage, ob wir unsere Sprache durch Genderei verderben sollten. Bei Corona geht es um eine gefährliche Krankheit, um Leben und Tod. Da ist viel Angst im Spiel. Und umso intoleranter und aufgeheizter ist das Klima, die Spaltung reicht bis in Familien hinein, die sich darüber zerstreiten, ob ihre Kinder geimpft werden sollen. Es ist schrecklich. Und eigentlich sollte jeder verantwortungsvolle Politiker dieser Polarisierung entgegenwirken, statt Hass und Wut auf eine Bevölkerungsgruppe auch noch anzuheizen.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden