Existenzangst, Sorge um Angehörige oder schlicht die blanke Wut: Der verschärfte Corona-Lockdown stellt viele Menschen erneut vor eine große psychische Belastungsprobe. Schon vor der Pandemie haben stressbedingte Erkrankungen laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO stark zugenommen. Die Corona-Krise wird diesen Trend noch verschärfen.
„Depression als Volkskrankheit wird noch mehr zunehmen“, sagt der Schwangauer Mentalcoach Pit Rohwedder. Im Interview spricht er über die vielfältigen Belastungen, die der Lockdown für Menschen mit sich bringt. Er erzählt, warum man trotz unterschiedlicher Meinung zur Corona-Politik die Freundschaft nicht aufgeben sollte. Und der 57-Jährige gibt auch viele Tipps, wie sich die Zeit erträglicher gestalten lässt. Das geht oft schon viel einfacher, als man meinen würde.
Herr Rohwedder, normalerweise haben Sie häufig mit Burn-out-Patienten zu tun, denen der Alltag über den Kopf wächst. Ganz individuelle Schicksale. Jetzt ist durch Corona auf einmal die ganze Gesellschaft vor eine existenzielle Krise gestellt. Wie nehmen Sie diese Zeit wahr?
Pit Rohwedder: Durch die Freiheitseinschränkungen erleben wir etwas, das unsere Generation bisher so nicht kannte. Folge bei vielen sind deshalb große Sorgen und Ängste, aber auch Frustration, Überforderung und Wut. Meine Beobachtung ist, dass für viele fatal wirkt, den politischen Entscheidungen machtlos gegenüber zu stehen, überhaupt keinen Einfluss darauf zu haben, was entschieden wird. Dabei gibt es auch im Lockdown Möglichkeiten, die Dinge für sich selbst positiv zu gestalten. Eben nicht der Ohnmacht ausgeliefert zu sein.
Nennen Sie doch ein Beispiel.
Rohwedder: Das fängt zum Beispiel bei der eigenen Gesundheit an. Gerade jetzt ist es wichtiger denn je, sich gesund zu ernähren und vor allem im Winter ausreichend Vitamin D zu sich zu nehmen. Das kann jeder Mensch beeinflussen. Ebenso ist regelmäßige Bewegung und Sport an der frischen Luft ein Rezept für die Zeit des Lockdowns. Studien zeigen schon länger, dass Sport antidepressiv wirkt und das Gemüt aufhellt. So kann es gelingen, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Zuversicht aufrecht zu erhalten.
In einem Ihrer Strategiepapiere kommt immer wieder das Wort „Gelassenheit“ vor als eine der wichtigsten Eigenschaften in der jetzigen Situation. Was ist damit gemeint?
Rohwedder: Gerade jetzt ist wichtig, die eigenen Erwartungen etwas runterzuschrauben, nicht alles für selbstverständlich zu nehmen. Sehen Sie: Normalerweise möchte ich um diese Jahreszeit Skitouren in Tirol machen, ich bin ja auch ausgebildeter Bergführer. Aber das geht im Moment corona-bedingt halt nicht. Stattdessen erfreue ich mich an Alternativen. Den Routen vor der Haustür etwa. Und wenn es nur der schön glitzernde Schnee in der Morgensonne ist, die mir in Schwangau entgegenstrahlt.
Genau das meine ich mit Gelassenheit: Bestimmte Verläufe sind aktuell für mich nicht beeinflussbar, also erfreue ich mich an vielen alternativen Dingen, die auch eine gute Wirkung haben.
Haben Sie da einen konkreten Tipp?
Rohwedder: Ich persönlich führe ein Positivtagebuch. Dort notiere ich Tag für Tag drei Dinge, die mir heute besonders gut gefallen oder erfolgreich waren haben und solche, für die ich dankbar bin. In meiner Arbeit in der Kurklinik Schwangau habe ich diese Methode schon erprobt und bei vielen Patienten eine positive Wirkung erzielt. Denn auf diese Weise erhält für sie jeder Tag einen guten Abschluss, etwas Gutes, das hängen bleibt.
Positive Aspekte hervorzuheben, fällt allerdings immer schwerer angesichts der dauernden Hiobsbotschaften in den Medien...
Rohwedder: Deshalb rate ich zur Dosierung schlechter Nachrichten. Setzen Sie sich ein zeitliches Limit beim Konsum von Nachrichten. Information ja, aber man muss nicht immer alles aufsaugen, was von irgendjemandem zu aktuellen Themen gesagt oder gepostet wird. Sehr belastend wirken können beispielsweise die vielen Kommentare in sozialen Netzwerken. Nicht jede Meinung muss unbedingt gelesen werden. Außerdem ist es doch so: Die Verlängerung des Lockdowns hat sich jetzt über mehrere Wochen angedeutet, kam nicht unerwartet. Ob man jetzt mehrere Stunden am Fernseher oder im Internet verbringt oder nicht: Am Ausgang der Entscheidung ändert das letztlich überhaupt nichts.
Sprechen wir über Vereinsamung: Die Kontaktbeschränkungen führen dazu, dass immer mehr Menschen isoliert leben. Kaum noch Kontakte haben. Haben Sie ein Rezept, um nicht zum Eremiten zu werden?
Rohwedder: Wichtig ist, seinen sozialen Kontakten einen Rhythmus zu geben. Man sollte trotz Lockdown in regelmäßigem Austausch mit Freunden bleiben. Ganz egal, ob über Telefon, Skype oder Zoom. Das ermöglicht auch weiterhin ein Gefühl des Eingebettet- oder Aufgehobenseins. Probleme, Ängste oder Sorgen mit jemanden zu teilen, kann sehr helfen.
Was aber wenn derjenige grundsätzlich eine ganz andere Einstellung zur aktuellen Corona-Politik hat, die Pandemie verharmlost oder dramatisiert?
Rohwedder: Diese bedrohliche Tendenz zur Polarisierung und Spaltung in unserer Gesellschaft darf man nicht zulassen oder forcieren. Bleiben Sie Freunde, auch wenn Sie unterschiedlicher Meinung sind. Stattdessen sollte der Fokus auf dem liegen, was die Freundschaft einmal hat wachsen lassen. Auf den Gemeinsamkeiten, die Menschen einmal zusammengebracht haben. Dafür muss man sich aber vom Gedanken verabschieden, jemanden missionieren oder überzeugen zu wollen. Ein schlichter Themenwechsel weg von Corona reicht. Denn die Meinung in dieser Sache ist ja nur ein Teil der Person, nicht aber was den ganzen Mensch oder Freund ausmacht.
Belastend wirkt für viele zur Zeit auch die Betreuungssituation ihrer Kinder. Präsenzunterricht ist weiterhin nicht möglich. Kitas haben geschlossen. Was raten Sie Müttern und Vätern gegen den Lagerkoller zuhause?
Rohwedder: Es braucht feste Lern- und Spielzeiten. Allerdings darf es sich dabei nicht um ein starres Raster handeln. Wenn man merkt, dass die Konzentration der Kinder beim Lernen nachlässt, hilft oft eine kurze Auszeit. Rauszugehen an die frische Luft etwa. Das ist auch eine Beobachtung, die meine Frau in ihrem Alltag als Grundschullehrerin macht. Wird es im Klassenzimmer unruhig, baut sie spielerische Elemente ein oder geht kurz raus an die frische Luft. Spielen ist überhaupt ein gutes Rezept. Gemeinsame Gesellschaftsspiele wie Kanaster oder Kniffel können die Zeit im Lockdown ebenfalls erträglicher gestalten.
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