Frau Sehl, trotz aller Kritik wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland als einer der besten in der Welt gelobt. Warum muss er sich tiefgreifend ändern?
ANNIKA SEHL: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Derzeit aber befindet er sich in einer Phase, in der es um seine Akzeptanz geht. Um sie zu sichern, muss er umfassend reformiert werden. Er muss auch effizienter und digitaler aufgestellt werden, um zukunftsfähig zu sein. Es braucht also nicht nur Veränderungen im System, sondern einen Umbau des Systems.
Sie waren eines von acht Mitgliedern des "Zukunftsrats". Das Expertengremium hat kürzlich einen 37-seitigen Bericht zur Reform von ARD, ZDF und Deutschlandradio vorgelegt. Was wird von Ihren Vorschlägen bleiben?
SEHL: Zunächst einmal: Wir sind überzeugt davon, dass unsere Vorschläge umsetzbar sind. Nun ist die Politik am Zug. In Deutschland ist Medienpolitik Sache der Länder – und die haben bereits damit angefangen, unsere Vorschläge zu bewerten. In vielen Punkten gab es Zustimmung, das macht mich hoffnungsvoll. Für den Herbst ist ein Reformstaatsvertrag angekündigt.
Der Freistaat Bayern allerdings hat Ihren Vorschlag für eine neue "ARD-Anstalt mit zentraler Leitung" schon abgelehnt.
SEHL: Bei unserem Reformvorschlag handelt es sich um ein Gesamtkonzept, aus dem man nicht einzelne Rosinen herauspicken sollte. Die Empfehlungen sind miteinander verwoben, insofern ist uns wichtig, dass möglichst alle bestehen bleiben. Dass Bayern die ARD-Anstalt ablehnt, fußt möglicherweise auf einem Missverständnis.
Wie das?
SEHL: ARD-Anstalt mag auf den ersten Blick nach neuen Kapazitäten oder Geld klingen. Es braucht jedoch weder neues Personal noch neue Gebäude. Wir stellen uns diese ARD-Anstalt als schlanke, agile Steuerungseinheit vor. Sie ist als Dachorganisation der neun Landesrundfunkanstalten gedacht, die für alle überregionalen Aufgaben zuständig ist. Denken Sie an Verwaltungsaufgaben, die muss doch nicht jede einzelne der neun Landesrundfunkanstalten vorhalten. Im Moment ist das so. Wäre das zentral organisiert, würde es wesentlich günstiger.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fordert den Wegfall von mindestens 14 der bundesweit 72 Hörfunkkanäle sowie den von fünf TV-Spartenkanälen. Oder, dass die kleineren Landesrundfunkanstalten Radio Bremen und Saarländischer Rundfunk in anderen Anstalten aufgehen.
SEHL: Uns geht es darum, das Regionale zu stärken – anstatt es abzubauen, wie Ministerpräsident Söder das im Falle von Radio Bremen und Saarländischem Rundfunk vorschwebt. Sieben statt neun Landesrundfunkanstalten bedeuten keineswegs mehr Effizienz, im Gegenteil, es müsste mehr und aufwendiger koordiniert werden. Denn auch Bremen und das Saarland müssen selbstverständlich abgedeckt sein. Und zur Zahl der Hörfunkkanäle: Wir denken, dies sollte im Verantwortungsbereich der ARD liegen. Die Anstalten sollten flexibel sein können und selbst entscheiden, wie sie ihre Ressourcen einsetzen.
Die Landespolitik hätte längst Landesrundfunkanstalten schließen oder die Zahl der Sender begrenzen können, wenn sie es gewollt hätte – auch in Bayern.
SEHL: Die Politik hat sich zuletzt reformwillig gezeigt. Man hat allerdings in der Vergangenheit gesehen, dass die Länder zuweilen die Räume verengt haben, wenn es um derartige Strukturreformen ging – insbesondere wenn das eigene Bundesland betroffen gewesen wäre.
Weil kein Landespolitiker seinen Medienstandort schwächen will?
SEHL: Das ist so, ja.
Ein Dauerstreitthema ist der Rundfunkbeitrag, derzeit monatlich 18,36 Euro pro Haushalt. Es scheint selbst für eine moderate Erhöhung ab dem nächsten Jahr keine Mehrheit unter den Bundesländern möglich, auch Bayern ist dagegen – obwohl die unabhängige Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) ihre Empfehlung erst am 23. Februar abgeben wird. Beschädigt die Politik so das unabhängige KEF-Verfahren?
SEHL: Ja, und dabei ist dieses Verfahren eines, um das uns viele andere Länder auf der Welt beneiden. Doch in der Tat muss man feststellen, dass es stark politisiert und dadurch beschädigt wurde – bis hin zu verfassungswidrigen Blockaden auf Bundesländerseite. Wie 2020 durch Sachsen-Anhalt.
Die Landesregierungen und -parlamente entscheiden über die Beitragshöhe, müssen sich aber im Grunde an die KEF-Empfehlung halten.
SEHL: Die KEF prüft in einem mehrstufigen Verfahren unabhängig den Finanzbedarf, den ihr die Anstalten melden. Es ist die Aufgabe der KEF, dann die Höhe des Finanzbedarfs festzustellen und damit eine Empfehlung über die zukünftige Höhe des monatlichen Rundfunkbeitrags auszusprechen. Dies ist dezidiert nicht Aufgabe von Politikern.
Die vermitteln einen ganz anderen Eindruck.
SEHL: Das haben auch wir im Zukunftsrat beobachtet. Deswegen schlagen wir ein komplett neues Finanzierungverfahren vor.
Ein Befreiungsschlag?
SEHL: Wir wären für eine Finanzierung gemäß erbrachter Leistung, das heißt der vollumfänglichen Auftragserfüllung anstelle der bisherigen Anmeldung eines Finanzbedarfs durch die Anstalten im Vorhinein.
Wäre das nicht ein Eingriff in die Rundfunkfreiheit?
SEHL: Definitiv nicht. Es würde von einer neu und mit entsprechenden Kompetenzen zusammengesetzten KEF zum Beispiel bewertet: Werden alle Gruppen in der Bevölkerung erreicht? Ist das Programmangebot vielfältig? Es geht nicht um die Bewertung einzelner Sendungen. Es gilt selbstverständlich Programmautonomie. Wird der Auftrag nicht vollständig erfüllt, bekommt die Anstalt weniger Geld zugewiesen. Hinzu kommt ein Indexierungsmodell ...
Über eine Kopplung des Rundfunkbeitrags an die Preisentwicklung diskutierten die Länderchefs bereits 2019 – und verwarfen sie. Der Beitrag würde fortwährend steigen, hieß es.
SEHL: Das muss nicht sein, da unsere Vorschläge mittelfristig zu deutlichen Einsparungen führen würden. In der Folge könnte man möglicherweise sogar über eine Absenkung nachdenken – oder darüber, ob man diese Effizienzgewinne ins Programmangebot reinvestiert. Es müsste ein Index gefunden werden, der medienspezifischen Aspekten Rechnung trägt.
Die Inflationsrate allein wäre sicher kein geeigneter Index.
SEHL: Es lassen sich geeignete medienspezifische Teuerungen berechnen.
Würde denn zum Start eines derartigen Modells eine neue Beitragshöhe festgesetzt?
SEHL: Wir gehen davon aus, dass der aktuelle Rundfunkbeitrag und das aktuelle Beitragsaufkommen auskömmlich sind. Man könnte dies also zum Ausgangspunkt nehmen. Damit bewerten wir aber nicht den aktuellen KEF-Vorschlag. Er spielte für unsere Arbeit, die ja die 2030er-Jahre und später im Blick hatte, keine Rolle.
Zur Person
Annika Sehl, 1981 in Bad Nauheim geboren, ist Professorin für Journalistik mit dem Schwerpunkt Medienstrukturen und Gesellschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.