Hinter der Münchner Frauenärztin Eiman Tahir und der Aktivistin Fadumo Korn liegen aufreibende Wochen. Vergangene Woche wussten beide nicht, ob Tahir ihre Praxis schließen muss. Der Grund war eine Geldforderung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern, die Tahir nicht hätte zahlen können. Wie die Rechnung zustande kam, erklärt Korn so: Tahir ist eine von wenigen Ärztinnen in Bayern, die vor allem Frauen behandelt, die beschnitten wurden. Das geht nur mit sehr viel Zeit und Einfühlungsvermögen. Beides Dinge, die die Krankenkassen nicht bezahlen. Und deshalb sollte Tahir eine Summe von mehr als 130.000 Euro bezahlen – eine Art Strafzahlung, weil der Verdacht im Raum stand, dass sie nicht richtig abgerechnet habe. Geld, das sie nicht hatte. Deshalb beschloss Fadumo Korn, der Frauenärztin zu helfen und startete eine Crowdfunding-Kampagne.
Korn ist Autorin, lebt in München, ist seit langem mit Tahir befreundet und kennt sich aus mit Kampagnen. Denn sie widmet sich dem Kampf gegen Beschneidung von Frauen und der Aufklärung darüber. Sie selbst wurde in Somalia geboren und redet offen darüber, dass sie als kleines Mädchen beschnitten wurde. Eine traumatisierende Erfahrung. Wie ihr geht es nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation etwa 140 Millionen Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt.
In Deutschland leben knapp 68.000 beschnittene Frauen
Vor allem in Ägypten, dem Sudan, Eritrea, Äthiopien und Somalia ist es nach Angaben von Korns Verein Nala immer noch üblich, dass Mädchen die äußeren Geschlechtsorgane teilweise oder ganz entfernt werden. Eine schmerzhafte Prozedur, bei der schätzungsweise fünf bis zehn Prozent der Kinder sterben. Auch in anderen afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Ländern ist weibliche Genitalverstümmelung verbreitet. Nach einer Schätzung des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2020 leben in Deutschland knapp 68.000 beschnittene Frauen. Das Problem: In Deutschland treffen die Frauen auf ein medizinisches System, das nicht auf die Behandlung von Frauen mit Genitalverstümmelungen eingestellt ist. Nicht nur die Krankenkassen hätten keine Form die Behandlung von beschnittenen Frauen abzurechnen. Auch viele Ärztinnen und Ärzte seien im Umgang mit den Patientinnen unsensibel, sagt Korn. Das liege daran, dass Beschneidungen von Frauen in Deutschland weder im Studium noch während der Facharztausbildung ein Thema seien. Dazu kommt: "Für die Frauen ist jeder Besuch beim Frauenarzt retraumatisierend. Sie denken, sie sind wieder an den Tatort zurückgekehrt", sagt Korn. Das mache die Arbeit von Eiman Tahir so besonders. Denn Tahir vereine mehrere Dinge, die es den Frauen leichter mache, ihr zu vertrauen: "Sie ist schwarz, sie ist Muslima und sie spricht arabisch", sagt Korn.
Zudem rede Tahir mit den Patientinnen lange, erst über andere Dinge, nach und nach über ihre Gesundheit. Sie versuche die Frauen abzulenken, bevor sie sie untersucht. "Aber es kann sein, dass eine Frau drei-, vier-, fünfmal wiederkommen muss, bis eine Untersuchung wirklich klappt", sagt Korn, die häufig Frauen zu ihren Besuchen bei Tahir begleitet. All das seien aber Dinge, die im Abrechnungssystem der Krankenkassen nicht vorgesehen seien.
Das sagt die Kassenärztliche Vereinigung Bayern zum Fall von Eiman Tahir
Beschnittene Frauen brauchen zudem häufiger Behandlungen beim Frauenarzt. Denn nicht nur die Beschneidung selbst ist für die Mädchen mit großen Schmerzen verbunden. Auch danach leiden sie. Sie haben häufig Menstruationsschwierigkeiten, Zysten oder Unterleibsentzündungen.
Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB), die das Geld von Tahir forderte, ist sich der verzwickten Situation bewusst. Zu dem Fall selbst äußert sie sich auf Grund des Datenschutzes nicht. Die KVB teilt aber mit, auch ihr Vorstand befasse sich seit längerem damit, wie beschnittene Frauen angemessen behandelt werden können. Er habe "die Politik auf Landes- wie auch Bundesebene mehrmals auf die Problematik hingewiesen, dass die sehr diffizile und vor allem mit vielen Beratungsleistungen verbundene Arbeit im Abrechnungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung nicht adäquat abgebildet ist." Lösen lasse sich das Problem jedoch nicht von der KVB alleine, es müsse von Gesundheits- und Sozialministern der Länder und des Bundes angegangen werden.
Die Praxis von Eiman Tahir soll eine Schwerpunktpraxis für Frauen mit Genitalverstümmelungen werden
Weil Korn der Gynäkologin Tahir – und mit ihr ihren Patientinnen – unbedingt helfen wollte, startete sie eine Crowdfunding-Kampagne. Sie war selbst überrascht, wie schnell das Geld zusammenkam. Innerhalb weniger Tage waren 150.000 Euro an Spenden eingegangen. Tahir konnte die Rechnung begleichen, ihre Praxis bleibt offen. Vorerst.
Denn das Problem besteht weiter. Tahir behandelt vor allem beschnittene Frauen. Ihre Abrechnungen werden sich nicht ändern. Also kämpft Korn weiter für ihre Freundin, deren Arbeit und die betroffenen Frauen. Das Ziel ist es, die Krankenkassen zum Einlenken zu bringen und aus Tahirs Praxis eine Schwerpunktpraxis zu machen.