Pater Anselm, haben Sie Angst vor einem dritten Weltkrieg, vor einem Atomschlag Russlands?
Pater Anselm Grün: Nein, denn ich vertraue darauf, dass letztlich die Vernunft über die Gewalt siegen wird. Ich glaube, Wladimir Putin weiß, dass ein russischer Atomschlag Selbstmord wäre.
Wie gehen Sie mit Ängsten um?
Grün: Ganz gleich, in welcher Situation ich mich befinde: Ich vertraue darauf, dass ich in Gottes Hand bin. Für mich ist das Gebet sehr wichtig – solange ich bete, habe ich Hoffnung.
Welche Kraft kann das Gebet haben?
Grün: Zunächst einmal: Wenn ich bete, bin ich nicht passiv. Die große Gefahr ist ja, dass wir uns vollkommen ohnmächtig fühlen, und Ohnmacht lähmt uns, macht uns depressiv. Gut ist es daher auch, mit anderen Menschen gemeinsam zu beten. Und dann steckt in jedem Gebet, gerade im Gebet um Frieden, die Hoffnung, dass die Welt eben nicht nur in der Hand der Mächtigen liegt. Dass Gott andere Gedanken in ihre Köpfe setzen kann – Gedanken des Friedens. Wir Benediktiner sprechen zudem von „ora et labora“, „bete und arbeite“. Beten soll uns durchaus inspirieren, etwas zu tun. Wir können den Krieg nicht beenden, aber jeder von uns kann eine versöhnende Sprache sprechen. Wir können spenden oder der Ukraine auf andere Weise helfen.
Waren Sie einmal in der Ukraine?
Grün: Ich habe vor einigen Jahren einmal einen Vortrag in Lwiw gehalten für die Stadtverwaltung, vor etwa 200 Mitarbeitern: „Führen mit Werten“. Damals war ein Aufbruch zu spüren, die Hoffnung auf demokratische Strukturen.
Planen Sie nun, in Ihrem Kloster auch Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen – wie etwa die Benediktiner-Erzabtei St. Ottilien im oberbayerischen Landkreis Landsberg am Lech?
Grün: Wir haben in unserer Schule ukrainische Kinder aufgenommen und sie in Gastfamilien untergebracht. Unsere räumlichen Möglichkeiten im Kloster sind leider beschränkt – dort leben auch bereits Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan.
Bislang wurden Geflüchtete aus der Ukraine mit offenen Armen aufgenommen. Haben Sie die Sorge, dass diese Stimmung in Deutschland irgendwann kippen könnte?
Grün: Es ist jedenfalls schon zu spüren, dass vieles teurer wird wegen der Kriegsfolgen – das könnte möglicherweise die Stimmungslage beeinflussen. Umso wichtiger ist es, miteinander ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben.
Seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, ist der Krieg wieder ganz nahe an Deutschland gerückt. Was löst er in den vielen Menschen aus, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben?
Grün: Ich habe oft bemerkt, wie da die Erinnerungen hochkommen. Die Menschen erzählen auf einmal wieder von ihren Erfahrungen im Bunker, von den Sirenen, die Luftangriffe ankündigten ... Es sind traumatische Erfahrungen. Ich erlebe auch andere Menschen, die regelrecht gelähmt sind vor Angst. Sie schauen nicht einmal mehr die Nachrichten im Fernsehen.
Was sagen Sie all diesen Menschen?
Grün: Die Angst ist ja da, und man sollte sie nicht verdrängen. Aber man kann diese Angst Gott hinhalten, man kann ihn um seinen Schutz und um seinen Segen bitten.
In Ihren Gesprächen dürfte es auch um die Fragen gehen: Warum lässt Gott all das Leid, all die Zerstörung zu? Wo ist Gott denn überhaupt?
Grün: Das stimmt, diese Fragen kommen immer wieder. Und ich sage immer wieder, dass ich die Frage nach dem „Warum“ nicht beantworten kann. Gott ist der Unbegreifliche – und dennoch ist er vor allem eines: Liebe. Daran halte ich mich fest.
Was denken Sie dann, wenn Sie von den Aussagen des Moskauer Patriarchen Kyrill I., Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche, hören? Zuletzt behauptete er, Russland führe keinen Angriffskrieg und wolle keinem Land schaden.
Grün: Es ist sehr bitter, dass sich Kyrill von Putin derart missbrauchen lässt und den Krieg rechtfertigt – noch dazu, wo es in der Ukraine auch viele russisch-orthodoxe Christen gibt. Dass Christen Christen bekämpfen, darf nicht sein. Kyrill ist dafür blind geworden, und es tut einfach weh, wenn er im Namen des Glaubens Krieg rechtfertigt.
Sie sind am 14. Januar 1945 in einem Dorf im äußersten Nordosten Bayerns geboren worden – das war später „Zonenrandgebiet“, bis zur innerdeutschen Grenze waren es um die 20 Kilometer. Wenn Sie sich das bewusst machen – ein beängstigendes Gefühl?
Grün: Es kann so schnell geschehen, dass man in Auseinandersetzungen, in einen Krieg hineingezogen wird.
Wäre es zu Zeiten des Kalten Kriegs zu einem „heißen“ gekommen, wäre Ihr Geburtsort Junkershausen womöglich zum Schlachtfeld geworden.
Grün: Ja, es kann so schnell gehen ... Mein Vater war von 1923 an in München, 1935 heiratete er, 1938 bauten meine Eltern in Lochham bei München. 1944 ist es in Lochham aber zu gefährlich geworden, sodass meine Eltern mit meinen Geschwistern nach Junkershausen kamen, wo ich geboren wurde. Im August 1945 gingen wir dann alle zurück nach Lochham. Dort in der Nähe befanden sich die Flugzeugwerke von Dornier, die bombardiert worden waren. Auf Spaziergängen mit meinem Vater habe ich lange danach noch die Kriegsschäden gesehen.
Was erzählte er Ihnen über den Krieg?
Grün: Er erzählte mir einmal von einem Freund, mit dem er sich während dessen Fronturlaubs getroffen hatte. Der Freund hatte ein jüdisches Kind zur Exekution führen müssen – es habe ihn „Papa“ genannt. Er sagte damals zu meinem Vater, er werde nicht mehr aus dem Krieg zurückkehren. Er ist dann auch gefallen. Mein Vater musste selbst noch in den sogenannten Volkssturm gegen Ende des Krieges. Am 7. April 1945 war die Erstkommunion meiner Schwester – er lief 90 Kilometer zu Fuß nach Junkershausen, um dabei sein zu können. Er lief immer nachts – aus Angst vor den Tieffliegern tagsüber.
Das ist Pater Anselm Grün
Anselm Grün wurde am 14. Januar 1945 als Wilhelm Grün in Junkershausen geboren, einem kleinen Ort in Unterfranken in Bayerns Norden.
Grün, eines von sieben Kindern eines Kaufmanns und seiner Frau – sie hatten ein Elektrogeschäft –, wuchs in Lochham bei München auf.
Mit 13 Jahren kam er ins Klosterinternat Münsterschwarzach in der Nähe von Würzburg.
In Würzburg absolvierte er 1964 sein Abitur und trat danach in die Abtei Münsterschwarzach ein, die zur Benediktinerkongregation von Sank Ottilien mit Sitz im oberbayerischen Kreis Landsberg am Lech gehört.
Von 1977 bis 2013 war er Cellerar der Abtei, also deren wirtschaftlicher Leiter, und für etwa 300 Mitarbeiter in über 20 Betrieben verantwortlich.
Parallel dazu wurde er zum Bestsellerautor. Seine Bücher, rund 300 sind aktuell lieferbar, erreichten eine zweistellige Millionenauflage.
Papst Franziskus empfahl Priestern in der „Midlife-Crisis“ einmal Grüns Buch „Lebensmitte als geistliche Aufgabe“.
Zurzeit wird eine aufgeheizte Debatte darüber geführt, ob Deutschland schwere Waffen an die Ukraine liefern sollte oder nicht.
Grün: Das ist wirklich keine leichte Frage, und ich kann sie auch nicht so leicht beantworten. Ich will natürlich keine weitere Eskalation, aber es ist auch wichtig, die Ukraine zu unterstützen. Wichtig ist mir, dass man auf jeden Fall beide Wege geht: Verhandlungen und Waffenlieferungen. Mit Waffenlieferungen allein schafft man nur noch mehr Unheil.
Kann Papst Franziskus noch vermitteln? Er wurde ja dafür kritisiert, dass er Putin nicht klar als Aggressor benannt hat.
Grün: Das gehört zur Diplomatie. Er bemüht sich aber tatsächlich sehr um einen Frieden. Er hat auch schon versucht, mit Putin in Moskau sprechen zu können. Der lehnte das Angebot ab. Ich jedenfalls halte es für wahrscheinlich, dass die Ukraine und Russland letztlich miteinander eine Lösung finden werden müssen.
Sie reden auch mit Russen oder Russlanddeutschen. Was erleben Sie dabei?
Grün: Verunsicherung. Und auch hier: Wir Deutsche müssen die Kontakte halten – die menschlichen wie die kulturellen. Es darf keine Feindschaft zwischen den Völkern entstehen.
Zur Person: Anselm Grün lebt in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach bei Würzburg in Unterfranken. Von 1977 bis 2013 war er deren Cellerar – also deren wirtschaftlicher Leiter.