Der Spuk ist so schnell vorbei, wie er anfängt. Doch die 15 Minuten davor, die haben es in sich. Morgens um kurz nach halb acht verlieren Verkehrsregeln an der Laurentius-Grundschule in Bobingen bei Augsburg regelmäßig ihre Gültigkeit. Das runde „Durchfahrt verboten“-Schild am Straßenabschnitt vor dem Schuleingang interessiert nur wenige. Eltern lassen ihr Kind direkt vor der Tür aussteigen.
Andere stehen im absoluten Halteverbot, öffnen dem Nachwuchs die hintere Autotür und helfen mit dem Schulranzen. Kinder rennen über die Straße, es staut sich. Dass die Parkplätze vor dem Schulhaus den Lehrern vorbehalten sind – egal. Kürzlich erst habe sich ein Vater als Sportlehrer ausgegeben, um dort zu parken, erzählt Lehrerin Katharina Ranz. Sie ist an der Schule in dem sonst so ruhigen Bobinger Wohngebiet für die Verkehrserziehung der Kinder zuständig.
Experten sprechen von der "Generation Rücksitz"
Dass es vielleicht bei manchen Eltern an Verkehrserziehung fehlt, ist an tausenden Schulen und Kindergärten in Deutschland jeden Morgen ein Problem. Einer Studie des Forsa-Instituts zufolge machen sich nur noch 50 Prozent der deutschen Schüler selbstständig auf den Schulweg. Vor gut 25 Jahren waren es noch 90 Prozent. Heute sprechen Verkehrsexperten von der „Generation Rücksitz“, die sich im „Elterntaxi“ zur Schule fahren lässt.
Lehrer und Verkehrsexperten finden das alles andere als gut. Michael Siefener, Sprecher des für den Verkehr in Bayern zuständigen Innenministeriums, sagt: „Wir gehen davon aus, dass das Verhalten mancher Eltern die Unfallgefahren für andere Schulkinder deutlich erhöht.“ Welches Risiko die Elterntaxis im Straßenverkehr darstellen, lässt sich mit Zahlen schwer belegen. Es gibt keine Statistik dazu, wie viele Schulweg-Unfälle sich unmittelbar vor der Schultür ereignen.
Rektoren und Kindergartenleiter brauchen keine Statistiken. Wo man sich umhört, überall ist es dasselbe: „Um Viertel vor acht ist Chaos“, heißt es aus der AWO-Kindertagesstätte in Füssen im Ostallgäu. Sie liegt mitten im Straßengewirr des Schulzentrums. „Viele Eltern parken ohne Rücksicht im absoluten Halteverbot“, sagt Leiterin Patricia Geiger. „Der Abstand zu Kurven wird nicht eingehalten, die Geschwindigkeitsbegrenzung in der Spielstraße auch nicht.“ Für Geiger und ihre Kollegen ist das Stress pur: „Da muss man seine Augen überall haben.“
Auch an der Grundschule Ecknach im Kreis Aichach-Friedberg herrscht laut Rektorin Barbara Hierdeis jeden Morgen dieses „Chaos“. Hierdeis hat kürzlich als „letzten Hilferuf“ unsere Zeitung eingeladen, um ihr Dilemma zu schildern. Auch der Bürgermeister war da.
Bayernweit ist die Zahl der Schulweg-Unfälle bis zum Ende des Schuljahres 2015/2016 um sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. 439 Mal krachte es, 502 Kinder wurden verletzt – am häufigsten, wenn sie mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs waren. Ist es also doch sicherer, sein Kind mit dem Auto zu bringen?
Nicht unbedingt – denkt man beispielsweise daran, dass sich das eigene Kind anschließend zu Fuß durch das Pkw-Dickicht hindurchschlängeln muss. Nach Einschätzung von Ralf Bührle, Polizeioberrat im Präsidium Schwaben Nord in Augsburg, ist es noch dazu „in aller Regel so, dass nicht die Kinder Gefahrensituationen erzeugen, sondern die Autofahrer“.
In Bobingen werden Viertklässler zu Verkehrswächtern
Trotzdem, sagt Bührle, dürfe man Elterntaxi-Fahrer nicht allesamt verteufeln. Gerade Familien in der Stadt rät er davon ab, die Kinder schon zu Beginn der Grundschule allein mit dem Rad auf den Weg zu schicken. Man wisse aus der pädagogischen Forschung, dass Kinder erst ab acht bis neun Jahren in der Lage sind, sich mit dem Fahrrad sicher im Verkehr zu bewegen. Bührle hat auch Verständnis dafür, wenn es morgens stressig wird und man das Kind ins Auto packt. „Auch Eltern haben mal Termine.“ Gefährlich werde es erst, wenn bei all dem Stress die Verkehrsregeln aus dem Kopf verschwinden.
Die Lehrer an der Laurentius-Grundschule in Bobingen versuchen, die Eltern quasi mit ihren eigenen Argumenten zu schlagen. Alle paar Wochen schicken sie morgens die Viertklässler auf die Straße, ausgestattet mit selbst gebastelten Schildern. In Rot signalisieren sie den Elterntaxis: „Stopp! Hier darfst du nicht halten.“ Auf grünen Plakaten steht: „Super! Hier kannst du aussteigen.“ Klassenleiterin Katharina Ranz hat die Schilder mit den Kindern im Verkehrserziehungs-Unterricht gebastelt.
Zur Unterstützung wacht an diesem Tag Polizeioberkommissar Roland Schur mit leuchtend gelber Warnweste über die Schulzufahrt. „Der Standardspruch der Eltern ist, dass sie nicht vom Parkverbot wussten“, erzählt Schur. Oft stimmt das nicht. Schur ermahnt einen Vater im dunklen Passat, weil er seine Tochter im Halteverbot aussteigen lässt. Am Tag zuvor hat das Kind selbst noch bei der Aktion gegen die Wildparkerei mitgemacht.
Eltern sorgen sich um die Sicherheit ihrer Kinder
Der allergrößte Teil der Eltern jedoch hält sich diesmal an die Regeln – wohl, weil der Polizist da steht. Die Autos parken ordnungsgemäß in den Seitenstraßen oder Parkbuchten ein paar Dutzend Meter entfernt vom Schuleingang. Auf dem Lehrerparkplatz stehen nur der rote VW-Käfer des Schulleiters und die Wagen der Lehrkräfte, die zur ersten Stunde da sind. Ein Vater stellt seinen blitzblank geputzten Golf ordnungsgemäß in einer Parkbucht ab. Die zwei Töchter greifen nach seinen Händen und ziehen ihn in Richtung Schultür. Das Haus seiner Familie sei nur ein paar Minuten entfernt, erzählt er im Vorbeigehen. Warum er seine Kinder trotzdem im Auto zur Schule bringt? „Ich bin nur selten zu Hause. Für die Kinder ist es das Highlight der Woche, wenn ich sie fahre.“ An allen anderen Tagen würden sie natürlich laufen.
Gut so, sagt Henrike Paede aus Stadtbergen im Kreis Augsburg. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des bayerischen Elternverbands. „Ich habe den Eindruck, dass die Elterntaxis in den vergangenen Jahren immer mehr geworden sind.“ Gut findet sie das nicht – genauso wenig übrigens wie die Elternbeiräte an vielen bayerischen Schulen.
Nicht nur in Bobingen haben sie ein Merkblatt erstellt, das unvernünftigen Müttern und Vätern das richtige Fahren vor dem Schulhaus predigt. Henrike Paedes Kinder sind längst alt genug, um allein ihren Weg zu gehen. Doch auch früher hat sie sie nie zur Schule gefahren. „Ich verstehe natürlich, dass Eltern sich wahnsinnig um die Sicherheit ihrer Kinder sorgen. Aber sie sollten lieber Vertrauen in deren Fähigkeiten aufbauen.“
Der ADAC hat 2015 einen Leitfaden für Eltern und Schulen veröffentlicht, der die Situation entschärfen soll. Dafür fragte der Automobilklub bei Eltern in Nordrhein-Westfalen nach, warum sie ihr Kind am liebsten selbst zur Schule bringen – und oft auch wieder abholen. Das Ergebnis überrascht nicht: Sie meinen es nur gut. Fast zwei Drittel gaben an, ihr Kind vor Belästigungen schützen zu wollen. Nahezu 60 Prozent der Befragten halten den Radweg für zu unsicher, mehr als die Hälfte möchte sein Kind davor bewahren, dass es womöglich bei Wind und Regen ungeschützt nach draußen muss.
Verschwimmen bei manchen Eltern die Grenzen zwischen Vorsicht und Panik?
Einer, der ziemlich wenig von zu viel Fürsorge hält, ist Josef Kraus. Der Chef des Deutschen Lehrerverbands hat den Begriff „Helikopter-Eltern“ geprägt. Mittlerweile ist seine Wortschöpfung allgegenwärtig. Sein Buch mit dem gleichnamigen Titel stand schier eine Ewigkeit auf der Spiegel-Bestsellerliste. Kraus ist Sprecher von 160.000 Lehrern in Deutschland und hat in 20 Jahren als Gymnasialleiter in Vilsbiburg bei Landshut eigene Erfahrungen gesammelt. „Der Schulweg wäre gesundheitlich und sozial so wichtig“, schreibt er in seinem Buch. „Die Kinder bewegen sich und pflegen Kontakte. Außerdem sind Kinder, die am Morgen zu Fuß zur Schule gegangen sind, im Unterricht konzentrierter, ruhiger und sie nehmen aktiver teil.“
Doch bei manchen Eltern scheinen „die Grenzen zwischen Vorsicht und Panik zu verschwimmen“. Ihre Befürchtungen lägen „um Lichtjahre neben der Realität“, so der harte Vorwurf. Erst kürzlich hat Kraus wieder eine Geschichte aus einer bayerischen Kleinstadt gehört, die ihn in seiner Ansicht bestätigt. „Zwei Mamas wechseln sich dort wöchentlich im Fahrdienst ab. Mama A lässt ihre Kinder aber nur dann mit Mama B mitfahren, wenn Mama B dazu nicht ihren Kleinwagen, sondern wegen der größeren Knautschzone den SUV nimmt.“
Die Limousinen, SUVs und Kombis der Eltern mögen Trutzburgen sein. Doch beim ADAC fürchtet man trotzdem um die Verkehrssicherheit der Generation Rücksitz, wie ein Sprecher betont. Es sei bewiesen, dass es gut für die Entwicklung eines Kindes ist, wenn es den Schulweg allein bewältigt. „Es lernt, sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren, wird selbstständig und sicher.“
In den Großstädten fallen immer mehr Schüler durch die Fahrradprüfung
Der Bobinger Polizist Roland Schur hat noch etwas anderes festgestellt: „Viele Schüler können heute schlechter Radfahren als früher. Das sieht man in der Jugendverkehrsschule.“ Auch die Statistik belegt es. Zwar schafften in den vergangenen Jahren konstant etwa 93 Prozent der Viertklässler die Fahrradprüfung. Doch es sind vor allem Schüler vom Land, die die Quote retten. Dort bewegen sich die Kinder auf zwei Rädern fast so sicher wie auf zwei Beinen.
Ralf Bühle vom Augsburger Polizeipräsidium erzählt von Landkreisen, wo fast 100 Prozent der Viertklässler die Radfahrausbildung bestehen. In Großstädten wie Augsburg hingegen hätten rund zwölf Prozent der Kinder die Prüfung zuletzt nicht geschafft. Das liege zum einen daran, dass dort vermehrt Kinder aus Ländern lernen, in denen das Fahrrad als Fortbewegungsmittel kaum eine Rolle spielt, Syrien zum Beispiel.
Und dann sind da eben noch die Stadtkinder, die jeden Tag in Mamas oder Papas Auto steigen. Der berühmte Wimpel, den Generationen von Kindern wie eine Siegesfahne am Fahrrad spazieren fuhren, baumelt immer seltener an ihrem Rad. Bühle wundert das nicht. „Auf dem Rücksitz kann man schließlich keine Verkehrsregeln lernen.“