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Landsberg: Herr Wehnelt ist 86 - und gibt seinen Führerschein ab

Landsberg

Herr Wehnelt ist 86 - und gibt seinen Führerschein ab

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    Die Jahreskarte für den Bus hat Joachim Wehnelt mit dabei. Der Rentner ist froh, dass er nicht mehr Auto fahren muss. Seine Gesundheit würde es gar nicht mehr zulassen.
    Die Jahreskarte für den Bus hat Joachim Wehnelt mit dabei. Der Rentner ist froh, dass er nicht mehr Auto fahren muss. Seine Gesundheit würde es gar nicht mehr zulassen. Foto: Julian Leitenstorfer

    Es dauert seine Zeit, bis Joachim Wehnelt es durch das Wohnzimmer schafft. Ruhig, gemächlich geht der 86-Jährige, bleibt vor dem kleinen Schreibtisch stehen. Dann schaut er sich um, blickt durch die Brille mit den dicken Gläsern, auf der Suche nach dem Stück Papier, um das es heute gehen soll.

    Joachim Wehnelt hat nur noch 20 Prozent Sehkraft. Vor drei Jahren hat das angefangen, was die Ärzte „altersbedingte Makuladegeneration“ nennen. Für den Rentner heißt das vor allem, dass er nicht mehr scharf sehen kann. „Wenn ich die Uhr an der Wand anschaue, sehe ich alles drum herum gut“, sagt er. Will er eines der Bücher lesen, die im Regal hinter ihm stehen, braucht er dazu eine Lupe. Dann, endlich, entdeckt der Landsberger das, was er gesucht hat: die Senioren-Jahreskarte für den Stadtbus. Für ihn bedeutet das Stück Papier zugleich den Abschied von einem anderen, wichtigen Stück Papier: von seinem Führerschein.

    Herzrhythumusstörungen, Arthrose und ein schlechter Gleichgewichtssinn

    Seit Jahresanfang können Senioren in Landsberg freiwillig ihren „Lappen“ abgeben – und fahren im Gegenzug ein Jahr lang kostenlos Bus. „Den nutze ich gerne“, sagt Wehnelt. Die Bushaltestelle ist keine fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt. Darum hat der 86-Jährige auch nicht lange überlegt, als er von der Aktion der Stadt hörte. „Ich bin zum Rathaus marschiert und habe gefragt, ob da was dran ist.“ Seinen Führerschein hat er gleich dort gelassen. Warum? Das liege doch auf der Hand, meint er. „Ich habe eine ganze Reihe von Gebrechen, die das Alter so mit sich bringt.“ Herzrhythmusstörungen etwa. „Das Radfahren klappt wegen meines schlechten Gleichgewichtssinns nicht mehr, zumindest rät mir mein Arzt davon ab.“ Außerdem hat er Arthrose in den Gelenken und ist auf einen Rollator angewiesen. Doch den nutzt er kaum. „Mit so einer Schubkarre schäme ich mich herumzulaufen“, sagt Wehnelt.

    Fahrschein gegen Führerschein – das gibt es nicht nur in Landsberg. Seit vergangenem Jahr haben Senioren im Verkehrsbund Mittelschwaben, der die Landkreise Unterallgäu und Günzburg umfasst, freie Fahrt, wenn sie sich von ihrem Schein trennen. 2017 taten das 128 Männer und Frauen. Erst vor wenigen Tagen wurde die Aktion verlängert. Ähnliche Modelle gibt es unter anderem in Kaufbeuren und im Nahverkehrsverbund Donau-Iller.

    In Landsberg können sich Senioren, die auf den Bus umsteigen wollen, im Bürgerbüro melden. Dessen Leiter Robert Götz sagt: „Die Idee kam aus dem Stadtrat.“ Der Erfolg überrascht auch die Initiatoren. „Wir haben vielleicht mit zehn Senioren im ganzen Jahr gerechnet, derzeit sind es schon 71.“ Götz hat selbst miterlebt, wie eine Seniorin die Verzichtserklärung unterzeichnete. „Sie meinte, sie fahre schon seit Jahren nicht mehr und wollte die Chance ergreifen.“ Andere dagegen nähmen sich viel Zeit für die Entscheidung. Götz kann es verstehen. Wer den Schein abgibt, bekommt ihn nicht mehr zurück. „Und Autofahren ist ein Stück Freiheit, das viele nicht gerne hergeben.“ Das Angebot der Stadt könne daher auch als „kleiner Schubser“ verstanden werden.

    In anderen Ländern müssen Senioren, die Auto fahren wollen, zum Arzt

    Grundsätzlich ist ein Führerschein in Deutschland unbegrenzt gültig. In Großbritannien oder der Schweiz dagegen ist das nur bis zum 70. Lebensjahr der Fall. Danach wird eine ärztliche Untersuchung nötig. Hierzulande kontrollieren die Behörden nicht generell, ob Senioren in der Lage sind zu fahren. Nur bei einem konkreten Verdacht werden die Führerscheinstellen aktiv – meist auf Hinweis der Polizei.

    Immer wieder machen ältere Autofahrer, die Unfälle verursachen, Schlagzeilen. Im November etwa krachte ein 78-Jähriger ungebremst in ein Augsburger Juweliergeschäft, er verfehlte nur knapp eine Fußgängerin. Der Mann hatte einen Schwächeanfall. Am Sonntag war ein 81-Jähriger in Brandenburg in eine Radlergruppe gefahren. Nach Aussagen von Zeugen fuhr er zu weit rechts. Sind Ältere etwa die schlechteren Autofahrer? Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2016 sprechen nicht dafür: Je älter die Verkehrsteilnehmer sind, desto niedriger sind die Unfallzahlen demnach – wohl auch, weil Ältere seltener fahren. Auf 100.000 Einwohner kommen in der Gruppe der Senioren 290 Unfälle, bei den unter 25-Jährigen waren es 101 Unfälle.

    Alexander Kreipel vom ADAC sagt: Ältere Autofahrer hätten mehr Erfahrung als die jüngeren. Zudem seien sie von Grund auf vorsichtiger. Problematisch sei vielmehr Fehlverhalten, das sich über Jahre eingeschlichen habe wie ein fehlender Schulterblick. Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung der Versicherer. „Senioren zwischen 65 und 75 sind allgemein sehr gute Autofahrer“, betont er. Statt die eigene Mobilität aufzugeben, empfiehlt er Rentnern Fahrfitness-Checks oder Rückmelde-Fahrten. „Dabei lässt sich gemeinsam mit einem Fahrlehrer feststellen, wie fit man ist und worauf man möglicherweise achten muss beim Fahren.“ Oft schätzten ältere Verkehrsteilnehmer komplexe Situationen oder sich selbst falsch ein. „Einige glauben, sie seien gute Autofahrer“, sagt Brockmann.

    Angebote wie in Landsberg, die Senioren zum Umstieg auf den Bus bewegen wollen, hält Brockmann für „begrenzt hilfreich“. ADAC-Mann Kreipel dagegen spricht von einem „guten Versuch“, glaubt aber, dass so etwas nur in größeren Städten funktioniert. „Das Auto ist Verkehrsmittel Nummer eins im ländlichen Raum.“ Seiner Meinung nach müssten sich die Kommunen in Sachen öffentlicher Nahverkehr noch besser vernetzen – auch über Gemeindegrenzen hinweg. Am Ende seien solche Modelle eine Frage des Geldes. Gerade auf dem Land müsse man sich Gedanken über Modelle machen, die Senioren mehr Mobilität garantieren – Mitfahrgelegenheiten oder Carsharing etwa.

    Das Auto ist für viele in dieser Generation ein Statussymbol

    In Landsberg kann man sich vorstellen, dass die Aktion, die anfangs für ein Jahr geplant war, fortgesetzt wird. Wie viele solcher Modelle es bundesweit gibt, ist nicht bekannt. Zahlen dazu gibt es nicht. Unfallforscher Brockmann ist überzeugt: „Es sind einfach zu wenige, die diese Angebote nutzen.“ Schließlich sei das Auto für viele aus dieser Generation ein Statussymbol, von dem man sich nur schwer trennt.

    Bei Joachim Wehnelt war das anders. „Irgendwann habe ich selbst gesagt, jetzt ist Schluss mit dem Autofahren.“ Seine Frau hat ihren Führerschein einen Tag nach ihm abgegeben. „Jetzt nutzen wir eben gemeinsam den Bus.“ Meist sind es kurze Strecken in der Stadt – mal zum Arzt oder zum Einkaufen. Wehnelt ist zufrieden mit seiner Entscheidung. Trotzdem vermisst er manchmal das Gefühl, am Steuer zu sitzen.

    Und dann sind da diese Erinnerungen – an den „grauen Lappen“, den Wehnelt Anfang der 1950er Jahre in Starnberg gemacht hat, in nur vier Fahrstunden. An das Fahrschulauto, „einen Opel P4“. Damals absolvierte Wehnelt eine Ausbildung zum Kaufmann in München. „Mein Chef ging mit mir zur Bank, gab mir einen Vorschuss und sagte, ich soll mir ein Auto kaufen.“ Er entschied sich für einen Käfer.

    Später dann fuhr die Familie mit dem Auto in den Urlaub. „Uns zog es nach Spanien, Italien oder Jugoslawien.“ Und einmal auch ins polnische Stettin, mit dem neuen Mercedes. 1994 war das.

    Joachim Wehnelt 1992 mit seinem neuen Mercedes, der ihm später in Polen geklaut wurde.
    Joachim Wehnelt 1992 mit seinem neuen Mercedes, der ihm später in Polen geklaut wurde. Foto: Julian Leitenstorfer

    Schon bei der Fahrt in die Stadt fiel seiner Frau ein Auto auf, das sie verfolgte. Wehnelt nimmt das nicht ernst. Er parkt in der Innenstadt. Seine Frau geht zum Friseur, er spazieren. Als er zurückkehrt, stehen zwei Männer an seinem Mercedes. Wehnelt bekommt einen Schlag mit einem Holzknüppel ab, verliert das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, fahren die Diebe mit dem Wagen weg. Wehnelt springt ohne nachzudenken auf die Motorhaube, klammert sich fest. Nach einem Kilometer wird er auf die Straße geschleudert. Er wacht mit einer Gehirnerschütterung und Schürfwunden im Gesicht und am Körper im Krankenhaus auf. „Ich sah aus, als wäre ich Klitschko in die Hände geraten“, erinnert sich Wehnelt. Heute lacht er darüber. Dem silbrigen Wagen trauert er bis heute nach: „Das war so ein schönes Auto.“ Die Heimreise trat das Ehepaar mit dem Zug an.

    Damals auf das Auto zu verzichten, wäre aber nicht gegangen. Wehnelt verkaufte Rundfunk- und Fernsehgeräte, war mit dem Firmenwagen in ganz Deutschland unterwegs. Und er zog immer wieder um, von München nach Bremen, Hannover und Kassel, blieb eine Zeit lang in Wolfenbüttel und in Ulm, mehrere Jahre in Köln und am Ende in Landsberg. Heute kann Wehnelt längere Strecken nicht mehr so einfach zurücklegen. „Früher war das keine große Affäre, schnell die Brüder in Starnberg zu besuchen“, sagt er. Auch die beiden Töchter aus einer früheren Ehe leben zu weit weg, um sie ohne Auto zu erreichen.

    Wehnelt selbst hat im Laufe seines Lebens ein halbes Dutzend Autos gefahren – eigentlich nicht viel. Und er hat sich ein Boot geleistet. „Mit 60 habe ich den Schein erst gemacht“, erzählt er. Ob er den auch noch abgibt? Wehnelt zuckt die Schultern. „Brauchen werde ich ihn wohl nicht mehr.“ Aber abgeben? „Ich weiß gar nicht, wo ich da hinmüsste.“

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