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Gersthofen/Dinkelscherben: Selbst das Hochzeitskleid war geliehen

Gersthofen/Dinkelscherben

Selbst das Hochzeitskleid war geliehen

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    Eva Braunmiller mit ihren Eltern Barbara und Nikolaus bei deren eiserner Hochzeit im Jahr 2013. Nach der Zeit in Dinkelscherben lebten die Eltern in der Stifter-Siedlung in Gersthofen.
    Eva Braunmiller mit ihren Eltern Barbara und Nikolaus bei deren eiserner Hochzeit im Jahr 2013. Nach der Zeit in Dinkelscherben lebten die Eltern in der Stifter-Siedlung in Gersthofen. Foto: Familie Braunmiller

    Viele Steinchen ergeben ein Mosaik. Aus vielen einzelnen Erinnerungsstücken lässt sich ein „Heimat(los)-Bild“ der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg zusammensetzen. In den bisherigen Folgen kamen die meisten Vertriebenen aus dem Sudetenland und aus Schlesien. Nach dem

    „Während mein Vater Nikolaus Lindler nach seiner Fotografen-Lehre und Gesellenprüfung im Jahr 1943 in Baˇcka Palanka/Jugoslawien als Jugendlicher nach Augsburg kam, blieb seine Familie mit den drei jüngeren Geschwistern daheim. Am 26. Juni 1944 wurde er mit 17 Jahren zur deutschen Wehrmacht eingezogen und geriet schon nach zwei Monaten in französische Gefangenschaft. Zur selben Zeit musste seine Familie aus der Heimatstadt fliehen. Auf der Donau ging es bis Wien und auf langen Flucht-Umwegen nach Thüringen und Schlesien, bis sie schließlich in dem Dorf Häder bei Dinkelscherben einquartiert wurde. Dort traf mein Vater sie im Jahr 1947 nach seiner Flucht aus der Gefangenschaft wieder.

    Auch die Familie meiner 1925 geborenen Mutter Barbara aus dem Dorf Kunbaja in Ungarn wurde im Jahr 1946 vertrieben, wie auch die Verwandten und alle weiteren Deutschen des Ortes. lhr Vater allerdings war noch in den letzten Kriegstagen rekrutiert, aufgerieben und in russische Gefangenschaft verschleppt worden.

    Als meine Mutter mit ihrer Mutter und ihren Großeltern nach den Strapazen der Vertreibung nach Häder kam, wurden den vier Personen zwei Zimmer über dem Kuhstall eines Bauernhofes zugewiesen. Da die Bauersleute nichts mit den ,Flüchtlingen‘ zu tun haben wollten, ließen sie eine Außentreppe als Zugang anbringen.

    Bitterarm waren die Menschen. Barbaras Großmutter sammelte Ähren auf den abgeernteten Feldern, und ihre Mutter machte sich zu Fuß von einer Mühle zur nächsten in der Umgebung auf den Weg, um für einen Löffel Mehl zu betteln und abends mit einem Säckchen davon zurückzukommen. Welch ein Glück, dass die Mutter, die in der alten Heimat schon in der Landwirtschaft gearbeitet hatte, bald im Nachbarort eine Anstellung als ,Schweizerin‘ fand, die 60 Stück Vieh täglich zu versorgen hatte. Dafür erhielt sie als Monatslohn etwa 70 Mark und einen Liter Milch. Barbara strickte für eine Münchner Firma in Handarbeit und trug so zum Lebensunterhalt bei.

    Nur einige Häuser weiter war die Familie meines Vaters auf einem Hof einquartiert, wo die sechs Personen im sogenannten ,Austragshäusle‘ wohnten. Nikolaus marschierte täglich morgens um 5 Uhr fünf Kilometer zum nächsten Bahnhof, um zu seiner Arbeitsstelle als Fotograf zuerst in Augsburg und später in Dillingen zu fahren. Abends kehrte er um sieben Uhr heim. Da mehrere Familien aus der Heimat meiner Eltern in Häder untergebracht waren, kannte man sich bald. Nicht so leicht war es für die Neuen, sich in der Gemeinschaft der Einheimischen zu integrieren. Beim sonntäglichen Kirchgang versuchten sie sich etwas Anerkennung zu verschaffen, indem Barbara in ihrer Sonntagstracht aus der alten Heimat ausging. Stolz meinte ihre Mutter: ,Schaut unser Mensch net schee aus?!‘ Der Satz sollte bedeuten: ,Schaut unser Mädel nicht schön aus?!‘ Das Wort ,Mensch‘ wurde ebenso falsch von den Dorfbewohnern aufgenommen wie deren Vorspann ,Hura-‘ vor jedem zweiten Wort durch Barbaras Mutter, die nur Hure verstand als Vergleich für ihre Tochter.

    Doch im Verlauf der nächsten Jahre gelang die Verständigung immer besser, vor allem bei der Jugend. Unterstützt vom Pfarrer gründeten die fremden und die einheimischen jungen Männer eine Fußballmannschaft, die jungen Frauen eine Theatergruppe. Die Menschen waren zwar immer noch arm, dennoch ging es ihnen schon etwas besser. lm Jahr 1948 heirateten meine Eltern – sie im geliehenen Brautkleid mit einem Strauß aus Papierblumen, er im schwarzen Anzug seines Vaters. Auch erhielt die Familie eine weitere Stube für das junge Paar.

    Ein großes Glück war für sie die Währungsreform, verbunden mit der Passaktion. Dabei zogen meine Eltern von Haus zu Haus, denn alle Leute mussten sich fotografieren lassen, neben den Einnahmen für das Fotogeschäft verdienten sie sich ein kleines Zubrot.

    Ein Jahr später wurde ihr erstes Kind geboren, und wieder ein Jahr später wurde Barbaras Vater aus der russischen Gefangenschaft entlassen. Damit waren die Wohnverhältnisse wieder sehr beengt, und man sah sich nach einem eigenen, größeren Zuhause um. Doch es dauerte nochmals zwei Jahre, bis in Gersthofen eine Siedlung gebaut werden sollte. Das Geld für den Erwerb einer Siedlerstelle besaß die Familie aber nicht.

    Wie großherzig handelte damals jener Bauer, bei dem Barbaras Mutter schon einige Jahre gearbeitet hatte! Er stellte 2000 Mark als zinsloses Darlehen zur Verfügung, das ihm im Laufe von mehreren Jahren zurückgezahlt werden konnte. Und so geschah es: Meine Familie baute zusammen mit etwa 60 anderen Ansiedlern – vor allem aus dem Sudetenland – mit vereinten Kräften, mit Schaufel und Schubkarre die ersten Wohnblöcke in der Adalbert-Stifter-Siedlung.

    lm Jahr 1953 erfolgte der Umzug, und unsere Familie wohnte eine lange und schöne Zeit in dieser Siedler-Gemeinschaft.“ (jah)

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