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Würzburg: Protokoll einer Magersucht: "Heute wog ich 39,7 Kilogramm"

Würzburg

Protokoll einer Magersucht: "Heute wog ich 39,7 Kilogramm"

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    Magersucht stellt vor allem für Mädchen eine Gefahr dar.
    Magersucht stellt vor allem für Mädchen eine Gefahr dar. Foto: Jens Kalaene (dpa) /Archiv

    Zuerst verzichtet sie auf die Butter. Nur noch eine dünne Schicht Marmelade schmiert sich Birgit auf ihr Frühstücksbrötchen. „Ich will versuchen, weniger zu essen. Den Weihnachtsspeck loswerden“, schreibt die 15-Jährige in ihr Tagebuch. Darüber klebt sie ein Foto von sich: ein gesunder Teenager, lachend, mit schmaler Brille, kräftigem rotblondem Haar und rosigen Bäckchen. Mit einem Filzstift malt das Mädchen ein Mondgesicht dazu und notiert sein Gewicht: 56 Kilogramm bei 1,62 Meter. Neun Monate später wird die Realschülerin in die Jugend- und Kinderpsychiatrie eingeliefert. Diagnose: Anorexia nervosa, Magersucht.

    Birgit sitzt in einem Würzburger Café und rührt nervös in ihrem Cappuccino. „Alle sagen am Anfang, das ist gut, was du da machst.“ Sie habe es nicht mehr ertragen können, über Abnehmerfolge in der Zeitung zu lesen, erklärt die heute 23-Jährige ihre Offenheit. Sie wolle zeigen, was Fasten neben Glücksgefühlen auch auslösen kann.

    Birgit wirkt lebenslustig. Die Fachangestellte für Medien und Informationsdienste streckt ihre 1,62 Meter selbstbewusst mit hohen Absätzen, um die Schultern hat sie einen knallroten Schal gelegt. Wenn sie erzählt, lächelt sie. Auch, wenn das, was sie sagt, kaum zu begreifen ist. „Ich hatte Angst zu schlafen, bin stundenlang in meinem Zimmer auf der Stelle gejoggt, und habe immer das Fenster aufgelassen, damit ich friere.“ Jedes verlorene Kilo war eines zu wenig. Jede ruhige Minute eine zu viel. Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen.

    Magersucht: Ihr Gewicht unter Kontrolle zu bringen, gefällt ihr

    Als sie und eine Freundin beschließen, den Weihnachtsspeck loszuwerden, habe sie sich nur „ein bisschen zu moppelig“ gefühlt. Im Fernsehen laufen Sendungen wie „Germanys next Topmodel“, aus Zeitschriften lächeln dem Teenager gertenschlanke Frauen entgegen, überall sind Kalorien verbrennende Übungen und Tipps zum Abnehmen zu finden. Ihr Gewicht unter Kontrolle zu bringen, gefällt ihr. „Das war super, ich war perfekt darin“, sagt sie.

    Als die ersten Gramme purzeln, klebt die 15-jährige Fränkin Produktaufkleber in ihr Tagebuch, notiert, was wie viele Kalorien hat. Tag für Tag werden die Grenzen radikaler gesetzt. Birgit zwingt sich, immer mehr Nahrungsmittel ganz wegzulassen. In der Schule knurrt der Magen, doch der Wille ist stärker. „Ich wusste, dass das irgendwie nicht gut ist, aber ich konnte nicht aufhören“, sagt Birgit, blättert im Tagebuch und bleibt an einem Eintrag vom August 2007 hängen. „Ich glaube, es täte mir gut, wenn mich jemand bewacht.“ Einige Zeilen zuvor hat sie ihr Gewicht notiert: 39 Kilogramm.

    Um den Schein zu wahren, habe sie Schüsseln mit Milch und ein paar Haferflocken gefüllt, den Inhalt hin- und hergeschwenkt und das scheinbar benutzte Geschirr in die Spülmaschine gestellt. Täuschungen, Ausreden und Lügen, Tag für Tag. Besonders ihre Mutter habe darunter gelitten, dass sich die Tochter abkapselt. Die einst enge Beziehung sei fast zerbrochen. Der Teenager sieht seine Eltern als Gegner. Denn diese fordern Birgit auf zu essen, wieder normal zu werden. Fassungslos notiert sie: „Ich habe so eine Wut! Heut hat mir Mama Nudeln mit Buttergemüse (Butter!!) gemacht. Ich hätte kotzen können.“

    Wer vorgesetzte Portionen nicht isst, wird zwangsernährt

    Der Essenstisch – Ort unzähliger Streitereien, Vorwürfe und Tränen. Birgits Mutter fällt es schwer, über diese Zeit zu sprechen. Auch acht Jahre später will sie sich nicht interviewen lassen. Ihre Gefühle von damals sind aus einer E-Mail an ihre Tochter abzulesen: „Du hast dich sehr verändert in der Zeit. Du hast nicht mehr gelacht, warst so verbissen und wolltest immer alleine sein. Ich hab mein Kind verhungern sehen, und ich konnte nichts tun, gar nichts! Letztendlich war es eine Erleichterung, als die Schule angerufen und gesagt hat, dass du einen Schwächeanfall hattest und wir dich in der Klinik vorstellen sollten.“

    Neun Monate hatte Birgit gehungert, als sie mit 38 Kilogramm – definitiv zu spät“, wie sie heute sagt – in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeliefert wird. Für die damals 16-Jährige beginnt „die schlimmste Zeit“. In ihr Tagebuch schreibt sie: „Ich weiß, dass ich selber den Willen haben muss, zuzunehmen. Oft will ich ja, aber dann fehlt mir einfach die Kraft dazu.“

    Nur kurz will die Jugendliche in der psychiatrischen Klinik bleiben, schnell ein paar Gramm zunehmen, um aus dem lebensgefährlichen Bereich zu kommen. Dann soll das Hungern wie gewohnt weitergehen. Im Café schildert die 23-Jährige ihren damaligen Klinikalltag: Wer die vorgesetzten Portionen nicht isst, wird zwangsernährt. Nach dem Essen müssen die Patienten zugedeckt in ihren Betten liegen, dürfen nicht frieren. Wer nach Plan zunimmt, darf an Therapiestunden teilnehmen, Handwerksarbeiten machen und Unterrichtsstoff lernen.

    ---Trennung _Auch in der Klinik täuscht Birgit weiter_ Trennung---

    Nach Klinikaufenthalt gerät sie wieder in den Teufelskreis

    Sie und die beiden Mädchen in ihrem Zimmer überlegen sich Tricks, um abzunehmen. Und sie täuscht weiter: „Hab heute beim Frühstück schon wieder die Butter weggeschmissen. Ich weiß, ich soll das nicht, aber es ging nicht anders!“

    In der Therapie soll Birgit zwei Stecken so weit auseinanderstellen, wie sie ihre Körperbreite einschätzt. Birgit lässt einen guten Meter Platz. In Wirklichkeit ist sie nicht mal halb so breit. Körperschemastörung – das ist der Begriff dafür. Während sie andere Patienten als ekelhaft dürr ansieht, fühlte sie sich fett. Sie schreibt: „Heute habe ich 39,7 Kilo gewogen, langsam fängt es bei mir an, dass ich Angst vor dem Zunehmen habe.“

    Als Birgit ihr „Zielgewicht“ von 47 Kilogramm erreicht hat, darf sie aus der Klinik raus. Doch zu Hause fällt sie sofort wieder in alte Muster. Einen Monat nach ihrer Entlassung wiegt sie nur noch 44 Kilo. Der Teenager kauft in der Kinderabteilung ein, gegenüber Freunden, Lehrern und Familie baut Birgit wieder Lügengerüste auf, ist stolz auf jedes verlorene Kilo. Als sie sich acht Wochen nach der Entlassung wieder auf 42 Kilogramm runtergehungert hat, muss die 16-Jährige erneut in die Klinik, nimmt zu, denkt über ihr Handeln nach. Doch als sie für die Abschlussprüfungen raus darf, ist sie sofort wieder im Teufelskreis. Die Zerrissenheit hält sie in ihrem Tagebuch fest. „Ich möchte endlich wieder ein freies und normales Leben haben. Das Leben genießen zu können, wäre echt schön!“ Wenige Tage später notiert sie: „ Ich bin unter meinem Zielgewicht! Juhu!“

    Der Sommer geht vorbei, Birgit schafft ihren Realschulabschluss, bekommt einen Ausbildungsplatz. Doch die Krankheit holt sie immer wieder ein. An ihrem 17. Geburtstag wiegt sie 40 Kilogramm. „Ach, könnte ich die Gefühle doch einfach abschalten, ich muss mich immer unter Kontrolle halten und darf mir nichts gönnen.“ Im Frühjahr 2009 beginnt sie, mehr zu essen.

    Magersucht wurde zur Ess-Brech-Sucht

    Jetzt hat sie „Fress-Tage“ und hasst sich dafür: „Ich bin so ein Monster! In 4 Stunden muss ich zum Wiegen und jetzt fress ich noch Schokolade!!... Ich bin so eklig + verfressen. Wenn ich nicht aufpasse, stopf ich mir gleich noch mehr Essen rein. Ich hasse mich!“ An einem Tag, als sie sich wieder zu fett fühlt, geht sie nach dem Essen auf die Toilette, erbricht sich. Das wiederholt sich immer wieder.

    „Die Bulimie hat fast keiner mitbekommen.“ Birgit hat zugenommen, sieht auf den ersten Blick gesund aus, doch die Magersucht ist zur Ess-Brech-Sucht geworden. „Man schämt sich dafür, fühlt sich widerlich und denkt, man hat keinen Anspruch darauf, noch mal Hilfe zu bekommen“, sagt sie heute.

    Drei Jahre lang hat sie die Bulimie verheimlicht, den „ewigen Leidensdruck“ verdrängt. Dann erzählte sie davon einer ehemaligen Mitpatientin aus der Psychiatrie, die ihr Mut macht, sich zu öffnen. Im April 2013 lässt sich die damals 21-Jährige selbst in eine Klinik einweisen. „Da war ich endlich bereit, Hilfe anzunehmen“, reflektiert sie. Gemeinsam mit 60 anderen Mädchen lernt sie in der Achtsamkeits- und Selbstschutztruppe, sich selbst zu lieben. Ihre angestaute Wut lässt sie an einem Boxsack raus. Nicht die Stabilisierung des Gewichts, sondern der Psyche sei entscheidend gewesen.

    Nach 14 Wochen schreibt sie in ihr Tagebuch: „Langsam verstehe ich, was es heißt zu leben – und dass ich so okay bin, wie ich bin.“ Birgit lächelt. Acht Jahre nach der Entscheidung zu fasten, kann sie wieder strahlen. Sie ist freier, aber noch nicht befreit. „Ich trinke immer noch Wasser oder Cola light, Apfelsaft geht nicht.“ Bei jeder Mahlzeit versucht sie, die aufblinkenden Kalorientabellen in ihrem Kopf zu verdrängen.

    Einmal die Woche geht die 23-Jährige zum Therapeuten. „Es ist immer eine Gratwanderung, man fällt bei Stress in alte Verhaltensmuster zurück.“ Ihr Arbeitgeber kennt ihre Geschichte, hat sie stets unterstützt, ihr die Zeit gegeben, die sie braucht. „Man muss einfach lernen, dass Gewicht nicht alles ist“, sagt sie und fügt hinzu: Man muss sich seiner selbst bewusst sein.“

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