Da unten liegt wieder eine Gruppe: "Ein bisschen weiter rechts", weist Ole Stejskal den Piloten an, und der steuert das kleine Flugzeug an einer der vielen Sandbänke im Wattenmeer entlang. Unten im Sand 30 bis 40 graue, bräunliche oder helle Flecken - Seehunde. Und einige Flecken ganz klein - neugeborene Welpen. Wie in jedem Sommer werden die Seehunde im Wattenmeer aus der Luft erfasst.
Möglichst zuverlässig soll ermittelt werden, ob der Bestand der Meeressäuger stabil ist. An der niedersächsischen Küste begannen am Freitag die 15 Kontrollflüge. Bis 23. August wird jeweils fünf Mal von den Flugplätzen Emden, Mariensiel und Nordholz aus geflogen.
Vergangenes Jahr 23.650 Tiere erfasst
Auch Schleswig-Holstein und die Nordsee-Anrainer Niederlande und Dänemark zählen im Rahmen des internationalen Seehundschutzabkommens. 2022 wurden entlang der Nordseeküste 23.650 Seehunde erfasst, die bei Ebbe auf Sandbänken lagen. In Niedersachsen waren es dem zuständigen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Laves) zufolge 8720 Tiere. Der tatsächliche Bestand liegt höher, weil immer etwa ein Drittel der Seehunde im Wasser schwimmt.
Die Seehundwelpen sind am weißlichen Fell zu erkennen. Noch sind es nicht viele. Die Wurfsaison hat erst begonnen und steuert auf den Höhepunkt Ende Juni zu. Die fünf Flüge über drei Monate dienten deshalb verschiedenen Zwecken, erläutert Stejskal: Erst werde vor allem die Zunahme der Jungtierpopulation ermittelt, später im August nach dem Fellwechsel dann die Gesamtzahl der Seehunde.
In Niedersachsen wird der Seehundbestand seit 1958 systematisch erfasst. "Das ist ein einzigartiger Datensatz", sagt die Wildtierspezialistin Ursula Siebert von der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Die Kurve zeigt den Tiefstand von nur noch etwas über 1000 Seehunden Mitte der 1970er Jahre, die Einschnitte durch Krankheiten. "Eine Erfahrung ist, dass die Seehundbestände sich nach den Virus-Epidemien immer schneller erholt haben, als wir gedacht haben."
Man könne den Bestand der Seehunde als Gradmesser für die Qualität des Lebensraums Wattenmeer sehen, sagen Stejskal wie Siebert. Wenn es also dem Fisch- und Muschelfresser gut geht, ist die Nahrungskette dann in Ordnung? Nur die Zunahme einer Population reiche als Anzeiger nicht aus, sagt die Professorin Siebert. "Wir müssen tiefer sehen."
Juntiere verschwinden
Sie ist zum Beispiel besorgt wegen der Verluste an neugeborenen Tieren, die Gesamtzahl wächst nicht entsprechend. "Es verschwinden überproportional Jungtiere." Und es gebe wenig Informationen, was mit ihnen passiere. Im vergangenen Jahr ging der Gesamtbestand erstmals seit 2011 zurück - alles noch im Bereich natürlicher Schwankungen, wie es heißt. Doch die Experten machen sich Gedanken: Könnte im Wattenmeer eine natürliche Grenze für den Seehundbestand erreicht sein? Doch das ist nur eine mögliche Antwort.
Seehunde wandern viel, die ganze Nordsee ist ihr Jagdrevier, und den Experten macht gerade der Ausbau der Windenergie Sorge. "Der Bau von Offshore-Parks bringt großes Gefahrenpotenzial für Meeressäuger mit sich", sagt Siebert. In vielen Meeresgebieten lagere alte Munition, die gesprengt werden müsse. Das Errichten der Windräder mache Lärm unter Wasser, es gebe mehr Schiffsverkehr. "Im Vergleich dazu ist das Wattenmeer ein ruhiges Rückzugsgebiet für die Tiere."
(dpa)