Wenn sie an den Schlaganfall zurückdenkt, erinnert sich Corinna Kern (Name geändert) auch an ein seltsames Phänomen: Dass sie an jenem Tag unter anderem das Gefühl hatte, ihr Blick richte sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen immer wieder nach rechts. Erst viel später liest sie, dass der sogenannte „Herdblick“ durchaus nicht untypisch ist für einen Schlaganfall.
„Die Augensteuerung wird im Gehirn generiert“, erklärt Professor Markus Naumann, Neurologie-Chefarzt am Augsburger Klinikum. „Wenn der Schlaganfall dieses Feld im Gehirn betrifft, geht der Blick zur beschädigten Seite“. Die Ärzte sagen auch, „der Patient schaut sich die Bescherung an“, berichtet er. Sprich, wer den Schaden rechts hat, schaut auch zur rechten Seite, wer links getroffen wurde, zur linken. Tritt dieses Phänomen auf, so handelt es sich meist, fügt der Chefarzt hinzu, „um große Infarkte“.
Bei 90 Prozent aller Schlaganfälle handelt es sich um einen Infarkt: Eine Ader ist verstopft, die Blutzufuhr zu einem bestimmten Hirnareal wird durch ein Gerinnsel blockiert. Der Rest sind Blutungen. Und im Prinzip, sagt Professor Albert Ludolph, Neurologie-Chefarzt am Uniklinikum Ulm, könne ein Schlaganfall jede Funktion des Gehirns widerspiegeln – je nachdem, wo er auftritt, könnten plötzliche Sprachstörungen, Halbseitenlähmungen oder andere plötzliche Funktionsausfälle die Folge sein.
Dass Schlaganfälle zu (Halbseiten-)Lähmungen führen können, wird oft kommuniziert und ist weitgehend bekannt. Aber der Herdblick dürfte weniger bekannt sein – auch wenn er laut Naumann gar nicht so selten vorkommt. Ebenfalls bekannt ist, dass Schlaganfälle oft in der linken oder in der rechten Gehirnhälfte auftreten können, wobei die gegenüberliegende Körperhälfte gelähmt sein kann. Doch worin liegt der Unterschied? Kann man sagen, dass Schlaganfälle der einen Seite in der Regel gravierender ausfallen als die auf der anderen? Und sagt die getroffene Seite etwas über die langfristigen Folgen aus?
Schlaganfall in der linken Gehirnhälfte beeinträchtigt Betroffene mehr
„Die Schlaganfälle der linken Seite sind nicht die schwereren, aber diejenigen, die mehr beeinträchtigen“, meint Ludolph. Denn auf der linken Seite sitzt bei den Rechtshändern (aber auch bei einem Teil der Linkshänder) die Sprachregion, und kommt es zum Verlust der Sprache, so ist das nun mal ein „ sehr schweres Symptom“, so Ludolph. Auch Naumann spricht von einem „dramatischen Defizit“, wenn es um den Verlust der Fähigkeit, zu sprechen und zu rechnen geht, und ergänzt, dass zudem beim linksseitigen Infarkt die rechte Hand betroffen sei, was für Rechtshänder ebenfalls eine schlimme Beeinträchtigung ist.
Dennoch sei es „ein Trugschluss, zu glauben, rechtsseitige Infarkte seien harmloser“, betont Ludolph. Nicht nur, dass sie ebenfalls zur Halbseitenlähmung führen könnten – auch die dann oft auftretenden Orientierungsstörungen oder Gesichtsfeldausfälle könnten problematisch sein. Zumal die Gesichtsfeldausfälle vom Patienten unter Umständen gar nicht bemerkt würden. „Und werden sie nicht bemerkt, führt das oft zu tragischen Unfällen.“ Bei einem Schlaganfall am Steuer etwa würde dann ein Fußgänger am Straßenrand womöglich gar nicht bemerkt.
Gibt es Unterschiede, was die Hartnäckigkeit einer Halbseitenlähmung angeht, abhängig von der betroffenen Hirnhälfte? Professor Joachim Röther, Sprecher der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft und Neurologie-Chefarzt der Asklepios- Klinik Altona in Hamburg, kann sich das vorstellen – in Zusammenhang mit dem „Neglect“, der seinen Angaben zufolge vor allem bei Schlaganfällen der rechten Hirnseite auftritt. Neglect, das ist die Vernachlässigung der gelähmten Körperseite. Leidet der Patient darunter, ist es in der Reha „für die Physiotherapeuten eine langwierige Aufgabe, ihnen die Wahrnehmung dieser Körperseite wieder nahezubringen“, sagt Röther.
Persönlichkeit verändert sich oft durch Schlaganfall rechts
Rechts sind im Gehirn visuell-räumliche Fähigkeiten wie Orientierung und räumliche Wahrnehmung angesiedelt. Zudem führten rechtsseitige Schlaganfälle oft zu einer „affektiven Nivellierung“, berichtet Naumann, also einer Verflachung der Gefühle. Der Patient wird teilnahmsloser, was vor allem für die Angehörigen schwierig sei. „Der Patient ist einfach nicht mehr der Alte“, erklärt Naumann, „sondern ein anderer Mensch“. Bei linksseitigen Schlaganfällen seien zwar die Funktionsbeeinträchtigungen oft größer, „aber die Persönlichkeit bleibt eher erhalten“.
Dass Patienten nach einem Schlaganfall manchmal „anders“ würden, erklärt auch Ludolph. Es könne zu Interessensverschiebungen, zu Änderungen der Impulsivität oder emotionaler Labilität kommen, aber: „Das ist nicht nur das Problem bei Schlaganfällen, sondern bei allen Erkrankungen des Gehirns.“ Auch durch Tumore, Traumata oder Entzündungen kann es zu den „erworbenen Hirnschäden“ mit einer großen Vielfalt an Folgen kommen. Sie sind so vielfältig wie das Gehirn selbst: Da gebe es zum Beispiel Apraxien, Störungen beim Werkzeuggebrauch, sagt Röther. Betroffene wissen zum Beispiel nicht mehr, „wie sie eine Kaffeemaschine bedienen sollen.“ Oder Störungen der geteilten Aufmerksamkeit: Telefonieren und nebenher etwas nachschauen, das gehe dann nicht mehr.
Halten sich links- und rechtsseitige Schlaganfälle in etwa die Waage oder kommen die Infarkte auf einer Seite häufiger vor? Naumann nimmt an, dass sie etwa gleich häufig sind, auf der linken Seite aber eher bemerkt werden. Denn die Defizite der linken Seite, wie die Sprachstörungen, werden eher auffällig, während Symptome bei rechtsseitigen Schlaganfällen auch mal unbemerkt bleiben könnten. Röther bestätigt: Es sei erstaunlich, dass durchaus größere Schlaganfälle in der rechten vorderen Hirnhälfte manchmal übersehen beziehungsweise vom Patienten kaum bemerkt würden.
Schlaganfall: Risiko für Epilepsie oder Depressionen steigt
Und ist alles, was wie ein Schlaganfall aussieht, auch tatsächlich ein Schlaganfall? Die Epilepsie sei eine wichtige Differentialdiagnose, so Ludolph – es gebe viele Symptome, die sowohl bei der Epilepsie als auch bei einem Schlaganfall auftreten könnten. Der eingangs erwähnte Herdblick zum Beispiel. Aber auch auf andere Weise hängen die beiden Krankheitsbilder zusammen – denn ein Schlaganfall erhöht das Risiko für eine Epilepsie. Naumann schätzt es auf etwa zehn Prozent. Wobei es Regionen im Gehirn gebe, die bei einer Narbenbildung verstärkt für Epilepsie anfällig machten. „Es muss im weitesten Sinne die Hirnrinde betroffen sein“, erklärt er. Gerade beim Schlaganfall in Vorderhirn oder Schläfenlappen steige das Epilepsie-Risiko an.
Auch das Risiko für Depressionen steigt nach einem Schlaganfall – laut Röther vor allem dann, wenn er sich rechts im Gehirn ereignet. „Es gibt die Beobachtung, dass bei Patienten mit rechtsseitigem Schlaganfall viel häufiger eine Depression auftritt“, erklärt er. Ärzte sprechen von einer „Post-stroke-Depression“. Nach einem Schlaganfall leidet jeder dritte Patient daran. Eine frühe Behandlung kann sie abschwächen oder verhindern. Die Medikamente stabilisieren dabei nicht nur die Psyche, sie leisten auch einen Beitrag zur Rehabilitation. Die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft rät daher, alle Patienten frühzeitig auf depressive Symptome zu untersuchen.
Nicht alles, was so aussieht, ist ein Schlaganfall – umgekehrt gibt es Fälle, die nicht so aussehen, obwohl es Schlaganfälle sind. Naumann erinnert sich an einen Patienten mit Sensibilitätsstörungen in nur zwei Fingern. Und Röther an Patienten, die keine Lähmung hatten, sondern als einziges Symptom musikalische Halluzinationen oder schwere Gedächtnisstörungen. „So etwas sieht man immer wieder mal“, erklärt er, wenn ganz bestimmte Areale im Gehirn betroffen seien.
Deshalb sind Stroke-Units, spezialisierte Schlaganfall-Stationen für Akutpatienten, so wichtig, um die Folgen eines Schlaganfalles möglichst gering zu halten. Darin sind sich wohl alle Neurologen einig. Und sie sind wichtig, so Ludolph, weil „nur jemand, der sich mit dem Gehirn auskennt“, die Symptome verstehen und richtig einordnen könne. Und bei den Symptomen gebe es nun mal „nichts, was es nicht gibt“, sagt Naumann.
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