Irma ist jetzt ein Jahr alt. Als ihre Mutter Susanne Schulz wenige Tage nach der Geburt den Begriff "Down-Syndrom" googelte, gab es wegen des bevorstehenden Welt-Down-Syndrom-Tags besonders viele aktuelle Einträge. Geholfen bei der Bewältigung der Diagnose hat ihr die Recherche nicht. "Man kann sich auch totgoogeln", sagt sie und hält ihre kleine dunkeläugige Tochter fest im Arm. Irma ist ein bisschen müde. Ihren Kopf halten kann sie noch nicht so gut, sich drehen auch nicht. Dass das kleine Mädchen das Chromosom 21 drei- statt zweimal besitzt und damit das Down-Syndrom hat, wussten ihre Eltern vor der Geburt nicht.
Trisomie 21: geringes Risiko, große Angst
Susanne Schulz gehörte nicht in die Risikogruppe der Spätgebärenden ab 35. Und auch nicht jede ältere Schwangere lässt ein sogenanntes Erst-Trimester-Screening oder eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen. Steht die Diagnose "Trisomie 21" aber im Raum, lassen neun von zehn Frauen das Kind abtreiben. "Es gibt unglaublich viel Angst vor Chromosomen-Anomalien", sagt die Humangenetikerin Elisabeth Gödde. "Das Risiko wird völlig überschätzt." Nur bis zu vier Prozent aller Babys hätten überhaupt irgendeine Anomalie - und genetisch bedingt sei davon nur ein Bruchteil.
Zahlen und Fakten zum Downsyndrom
Auf annähernd 700 Geburten kommt nach Angaben des Arbeitskreises Downsyndrom durchschnittlich ein Kind mit Trisomie 21. Das sind jährlich knapp 1200 Neugeborene.
Weltweit leben etwa fünf Millionen Menschen mit Downsyndrom, verteilt auf alle Bevölkerungsschichten.
Das Downsyndrom geht auf eine Besonderheit im Erbgut zurück: Betroffene haben einen Erbgutabschnitt, ein sogenanntes Chromosom, zu viel.
Das Chromosom 21 liegt bei ihnen nicht wie im Normalfall zweifach, sondern dreifach vor. Daher kommt auch die Bezeichnung Trisomie (Verdreifachung) 21. Die genaue Ursache für die Zellteilungsstörung ist noch unbekannt.
95 Prozent der Menschen mit Downsyndrom haben eine sogenannte freie Trisomie 21, die nicht erblich ist.
Charakteristisch sind körperliche Auffälligkeiten und eine verminderte Intelligenz. Typische organische Probleme sind Herzfehler, Magen-Darm-Störungen und Demenz.
Wissenschaftlich als eigenständiges Syndrom beschrieben wurde das Downsyndrom erstmals vom englischen Apotheker und Neurologen John Langdon Haydon Down (1828-1896) im Jahr 1866.
Mit höherem Alter der Eltern steigt die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Downsyndrom zu bekommen, exponentiell an. Im Schnitt sind Frauen heute beim ersten Kind 29,6 Jahre alt, 1980 waren sie noch 25,2 Jahre alt.
Der Bluttest, mit dem frühzeitig erkannt werden kann, ob ein Kind das Downsyndrom hat, ermittelt auch die Wahrscheinlichkeit für eine Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) und eine Trisomie 13 (Pätau-Syndrom). Die meisten Kinder sterben noch während der Schwangerschaft oder nach der Geburt. Auch eine Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen X und Y erkennt der Test sowie das DiGeorge-Syndrom, bei dem das Kind einen Herzfehler haben, entwicklungsverzögert oder behindert sein kann.(leab/dpa)
"Das Down-Syndrom ist der Prototyp für die Katastrophe", sagt Gödde, Leitende Ärztin an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln. "Bei aller Aufgeklärtheit: Es ist eine völlig verkehrte Welt." Das Risiko, ein Kind mit Trisomie 21 zu bekommen, stehe in keinem Verhältnis zu den diesbezüglichen Ängsten werdender Eltern.
Gleichzeitig sind "Downies", wie sie sich selbst gelegentlich nennen, nach Worten von Elzbieta Szczebak vom Deutschen Down Syndrom Info-Center "sehr gute und dankbare Sympathieträger" auf Bildern und Plakaten, wann immer es um Themen wie Behinderung und Inklusion geht. Bis zu 50.000 Menschen mit Down-Syndrom leben derzeit in Deutschland.
Viele Angebote für Kinder mit Down-Syndrom
Um ihre Förderung und gesellschaftliche Akzeptanz ist es inzwischen recht gut bestellt. "Im Vergleich zu früher leben wir auf einer Insel der Glückseligkeit", sagt Bernd Breidohr, der vor 15 Jahren den ersten Karlsruher Arbeitskreis Down-Syndrom gründete. Der 68-Jährige ist Vater eines inzwischen 41 Jahre alten Sohnes mit Trisomie 21. René kann lesen und schreiben, er arbeitet in einem Lebensmittelladen, hat eine Freundin.
Niemals hätte er seinen Sohn hergeben wollen, sagt Breidohr. Aber die Zeit nach seiner Geburt sei schwer gewesen. "Wir hatten keinen Ansprechpartner, keine Hilfestellung, nichts." Heute sei das anders. "Wer sein Down-Kind fördern will, der findet viele Angebote." Die einjährige Irma etwa geht zur Logopädie, zur Physiotherapie und hat die Zusage für einen Inklusions-Kita-Platz.
Die immer ausgefeiltere pränatale Diagnostik sehen manche Experten mit Argwohn. "Ohne es moralisch bewerten zu wollen: Es ist jedenfalls nicht im Sinne des Kindes. Leben will leben", sagt der Kinderarzt Matthias Gelb, selbst Vater eines 25 Jahre alten Sohnes mit Down-Syndrom und Leiter der Sprechstunde Down-Syndrom am Olgahospital Stuttgart. Die Eltern stürzt das Warten auf ein Ergebnis oft in leidvolle Ungewissheit, nach einem Abbruch drohen lang währende Schuldgefühle.
Ältere Mütter haben höheres Risiko für Erbgutstörung des Embryos
Ganz neue Risiken sehen Experten bei den seit einiger Zeit erhältlichen nicht-invasiven pränataldiagnostischen Bluttests (NIPT). Eine mütterliche Blutprobe kann damit auf bestimmte Erbgutfehler des Fötus untersucht werden. Erlaubt ist die Suche nach den Trisomien 21, 18 und 13, Klinefelter- und Turner-Syndrom sowie Triple-X- und XYY-Syndrom - möglich wären aber auch weiter reichende Untersuchungen. Kritiker befürchten, dass zunehmend der Wunsch entstehen wird, nach ganz speziellen Erbgut-Eigenheiten des Embryos zu suchen. Klare Regeln seien nötig, um dem so weit wie möglich Einhalt zu gebieten.
Eine Trisomie hat in Deutschland nach wie vor jedes 600. bis 700. Kind: Es gibt wegen der zunehmend genutzten Früherkennungsmethoden zwar mehr Abbrüche, aber auch immer mehr ältere Mütter mit höherem Risiko für eine Erbgutstörung des Embryos. Genaue Statistiken etwa zu den Befunden bei medizinisch indizierten Abtreibungen gebe es in Deutschland nicht, sagt Gödde.
Susanne Schulz will sich auch bei einer zweiten Schwangerschaft nicht testen lassen. Zwölf Monate Leben mit Irma und dem Down-Syndrom liegen hinter ihr. Eine schwere Herz-Operation hat die Kleine gut überstanden, ebenso einen Herzstillstand und die anschließende Reanimation. Die 32-Jährige freut sich über ihr Kind und zeigt stolz ein kleines Handy-Video mit einer laut lachenden Irma auf dem Wickeltisch. "Einfach alles auf sich zukommen lassen", sagt Schulz. Angst macht ihr vor allem ein Gedanke: "Dass Irma irgendwann mal ausgelacht wird." AZ/dpa