Seit Beginn der Pubertät, erzählt Dr. Michael Jack, hatte er das Gefühl, irgendwie „anders“ zu sein als seine Altersgenossen: „Ich hatte das Gefühl, dass meine Maßstäbe für ein angenehmes Reizniveau nicht mit den ihren übereinstimmten.“ Gemerkt hat er das besonders dort, wo junge Menschen gerne hingehen, eben in der Disco. Während seine Kollegen sich dort wohlfühlten, hielt er selbst es ohne Ohrstöpsel gerade einmal fünf Minuten, mit Ohrstöpseln eine halbe Stunde aus. Inmitten der Menschenmenge, bei lauter Musik, zuckenden Lichtern und hoher Luftfeuchtigkeit, hatte er rasch den Eindruck, überfordert zu sein.
Das Gefühl, "anders" zu sein
Das diffuse Gefühl, anders zu sein als andere – reizempfindlicher – , verließ ihn nicht mehr. Ein gewisser Druck baute sich auf, ein Anpassungsdruck, denn schließlich, sagt er, „will man ja nichts verpassen“. Er spürte die Erwartungshaltung der Gesellschaft, aber auch sich selbst gegenüber, dass man eben gewisse Dinge tun muss, wenn man jung ist, „sonst hat man sein Leben nicht gelebt“. Dieser Druck wurde über Jahre hinweg immer stärker. Und er dachte bei sich, „das kann doch nicht sein, dass du der Einzige bist, dem es so geht“. Also gab er im Internet auf gut Glück einmal den Begriff „hochsensibel“ ein – und wurde fündig.
Heute ist der promovierte Jurist Vorsitzender des „Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität“ in Bochum, der sich unter anderem für Öffentlichkeitsarbeit, aber auch für seriöse Forschung zur Hochsensibilität einsetzt. Denn da gibt es bislang noch nicht viel. Bekannt ist vor allem die US-Psychologin Elaine Aron, die sich seit langem wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzt. Erst kürzlich kam ein von ihr verfasstes Arbeitsbuch für Hochsensible auf den Markt. Wer wissen will, ob er selbst hochsensibel ist, findet darin einen Selbsttest, der Aufschluss gibt.
Diagnose per Selbsttest
„Mir scheint, dass ich Feinheiten um mich herum wahrnehme“, „Ich neige zu Schmerzempfindlichkeit“ oder „Laute Geräusche rufen ein Gefühl des Unwohlseins in mir hervor“, so lauten einige Sätze, die mit Ja oder Nein beantwortet werden müssen. Oder „Ich habe ein reiches, komplexes Innenleben“, „Ich bin gewissenhaft“, „Ich werde fahrig, wenn ich in kurzer Zeit viel zu erledigen habe“ – alles in allem 23 Aussagen. Wer wenigstens zwölf Mal ja ankreuzt, ist wahrscheinlich hochsensibel.
Auch ein Info-Flyer des Bochumer Forschungsverbunds gibt Aufschluss darüber, was es heißt, hochsensibel zu sein: „Lärm, soziale Konflikte und der Alltag mit all den Sinneseindrücken werden Ihnen sehr schnell zu viel, unerträglich. Sie müssen sich zurückziehen, ausruhen, die Eindrücke verarbeiten“, heißt es dort. Auch fühlten sich Hochsensible oft isoliert, weil sie meinten, weniger belastbar zu sein als der „normale“ Mensch. Die meisten sind übrigens nicht nur hochsensibel, sondern zugleich introvertiert, haben also eine nach innen gewandte Persönlichkeit.
"Gebirgsketteneffekt": Enorme Erleichterung
Ist es von Nachteil, eine HSP, eine hochsensible Person, zu sein? Betroffene selbst sehen zunächst tatsächlich eher die Nachteile, empfinden sie doch ihre Andersartigkeit nicht selten als unnormal – weil ihnen direkt oder indirekt über Jahre hinweg vermittelt wurde, dass mit ihnen irgendetwas nicht stimmt. Als Michael Jack im Internet entdeckte, dass er nicht der Einzige ist auf dieser Welt, der sich andersartig fühlt, empfand er das, was er heute „Gebirgsketteneffekt“ nennt: Nein, kein Stein, ganze Gebirgsketten seien ihm vom Herzen gefallen, erzählt er, so enorm sei die Erleichterung gewesen. Schließlich hatte er sich all die Jahre an die vermeintliche „Normalität“ anzupassen versucht; aber eine Rolle auszufüllen, die dem eigenen Wesen nun mal nicht entspricht, führt immer wieder zu Problemen, sagt er.
Hochsensibilität, erklärt er, umfasst die ganze Bandbreite verschiedener Phänomene: „Potenziell jeder Sinnesreiz kann verstärkt empfunden werden.“ Der österreichische Schwesterverein des Bochumer Forschungsverbunds, der sich „Zart besaitet“ nennt, informiert: „Hochsensibilitäten lassen sich grob in drei Bereiche unterteilen: körperlich/sensorisch, seelisch/gefühlsbetont und geistig/intellektuell. Der körperliche Bereich umfasst eben die Empfindsamkeit des Körpers und der Sinnesorgane“, was die von Hochsensiblen häufig vorgetragene Lärmempfindlichkeit mit einschließt. Auch Jack hat den Eindruck, dass Lärm etwas ist, was viele Hochsensible ganz besonders belastet.
15 bis 20 Prozent der Menschen betroffen
„Hochsensible, die den Schwerpunkt ihrer Sensibilität im körperlichen Bereich haben, nehmen sinnliche Reize stärker und bewusster wahr als nicht Hochsensible, aber auch viel stärker als andere HSP, die ihren Schwerpunkt in einem anderen Bereich haben, vielleicht im seelischen/gefühlsmäßigen“, heißt es bei „Zart besaitet“ weiter. Der Verein gibt auch einen Gesprächsleitfaden an die Hand, wie Hochsensible ihre Mitmenschen über ihre „normale biologische Eigenart“ informieren sollten: Indem sie ihnen sagen, dass diese Eigenart immerhin 15 bis 20 Prozent der Menschen, aber auch aller anderen höheren Lebewesen betreffe. „Menschen mit dieser Eigenart nehmen mehr Feinheiten wahr und verarbeiten Informationen tiefer.“
Der oft genannte hohe Prozentsatz von 15 bis 20 Prozent Betroffener steht freilich in „krassem Kontrast“ zu den Erfahrungen vieler Hochsensibler, die ja das Gefühl haben, mit ihrer biologischen Eigenart ziemlich alleine dazustehen. Möglicherweise, überlegt Jack, wird Hochsensibilität in bestimmten Konstellationen nicht auffällig – oder aber manche Betroffene versuchen, ihre „Andersartigkeit“ zu unterdrücken, um gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen. Wobei dies zweifellos schwer sei: „Man kann das nicht leugnen.“
Nicht von eigenen Entscheidungen abhängig
„Reizempfindlichkeit ist nicht von Willensentscheidungen abhängig“, unterstreicht er, was bedeutet: Der Aufforderung mancher Mitmenschen, man möge sich doch bitte „nicht so anstellen“, könne man kaum nachkommen. Obwohl die Forschung zur Hochsensibilität noch in den Kinderschuhen steckt, gibt es durchaus Überlegungen und Spekulationen, inwieweit das Nervensystem Hochsensibler anders „gestrickt“ sein könnte als das von weniger sensiblen Zeitgenossen: So werde spekuliert, dass der Thalamus im Gehirn, eine Art Reizfilter, bei Hochsensiblen durchlässiger sei. Oder dass, wie Jack selber glaubt, das gesamte Nervensystem bei HSP einfach „irgendwie anders“ funktioniert.
Keine eindeutige Diagnose
Eindeutig und objektiv „diagnostizieren“ jedenfalls lässt sich Hochsensibilität bislang nicht. Lediglich die Fragebögen zur Selbsteinschätzung können herangezogen werden. Aber schließlich stehe hinter Hochsensibilität ja auch keine Pathologie, merkt Jack an, sprich, die Veranlagung ist keine „Krankheit“. Und nur solche werden bekanntlich diagnostiziert. Über die funktionelle Magnetresonanztomografie, mit deren Hilfe sich Hirnaktivitäten bildlich darstellen lassen, tastet man sich laut Jack aber allmählich dahin vor, auch die neurologischen Grundlagen einer Hochsensibilität erfassen zu können.
Ist es nun eher eine Freude oder eine Last, hochsensibel zu sein? Es ist durchaus mit Risiken verbunden – denn wer damit auf Unverständnis bei seinen Mitmenschen stößt, fühlt sich nicht nur einsam – er kann auch leichter Mobbing-Opfer werden, wie Jack erläutert. Doch auf der anderen Seite der Medaille steht die Fähigkeit Hochsensibler zur Detailwahrnehmung, zur Tiefe und Intensität des Erlebens, zu Wachheit und Achtsamkeit. Haben Hochsensible also mehr vom Leben? „Ja“, überlegt Jack, „das kann durchaus so sein.“
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