Herr Müchler, Sie befassen sich schon viele Jahre mit Napoleon. Hat sich die Sicht auf ihn im Lauf der Zeit verändert?
Günter Müchler: Ein wenig schon. Napoleon war ein Riese in seiner Zeit; das steht außer Zweifel. Aber auch er konnte nur innerhalb der Leitplanken, die ihm durch die Umstände gesetzt waren, handeln. Besonders wurde sein Spielraum eingeengt durch den Revolutionskrieg, den er geerbt hatte und der in sein achtes Jahr ging, als er zur Macht kam. Das ist mir klar geworden, je länger ich gearbeitet habe, und es hat meine Sicht auf ihn differenziert.
Napoleon war kein Mann aus einem Guss.
Müchler: Weder der Mann noch seine Bilanz. Es ist eine Bilanz voller Widersprüche. Napoleon hat zerstört und er hat geschaffen. Er hat die Freiheit kujoniert und war zugleich ein großer Exporteur von Freiheitsrechten. Er war ein Reformator, wie man ihn in der Geschichte nicht so leicht wiederfindet. Und doch war sein Denken in starkem Maße dem 18. Jahrhundert verhaftet. Er hat den Furor der Volkskräfte, dem er in Spanien begegnete, nicht erwartet, wie er überhaupt kein Auge hatte für den aufkeimenden Nationalismus, der das neue Jahrhundert prägen sollte.
Man merkt Ihrem Buch den Respekt vor dem Strategen und Eroberer an. Kommt Napoleon in der Geschichtsschreibung zu schlecht weg?
Müchler: Wer Napoleon nur mit heutigen Maßstäben misst – und das geschieht nicht selten –, macht mit ihm kurzen Prozess. Dann ist er der ruchlose Landräuber, der Feind des Parlamentarismus, der Unterdrücker der Pressefreiheit. Ich meine, man muss den Mann in die Zeit stellen. Nur dann kann man sein Verhalten verstehen, nur dann wird man ihm gerecht.
Aber hat das Verständnis nicht Grenzen? Ich denke an das Massaker an den Gefangenen in Jaffa während des Ägypten-Feldzugs. Kann man solche Taten mit dem Verweis auf andere Zeiten erklären?
Müchler: Es gibt dunkle Flecken auf Napoleons Weste. Die Hinrichtung des Buchhändlers Palm in Braunau am Inn im Jahr 1806 zum Beispiel oder die Erschießung des Herzogs von Enghien zwei Jahre zuvor im Schloss Vincennes. Jaffa gehört dazu, das sahen schon viele Zeitgenossen so. Was ich meine, sind die Einordnungen seiner Herrschaftsweise. Nehmen Sie das Beispiel Pressefreiheit. Napoleon hat die Zeitungen gegängelt und behindert. 1810 gab es nur noch vier Zeitungen in Paris. Aber die Presseverhältnisse waren nirgendwo auf dem Kontinent besser. Und während der Revolution: Etliche unliebsame Journalisten und Drucker verloren ihren Kopf unter der Guillotine. Das gab es unter Napoleon nicht.
Wie hoch schätzen Sie die Bedeutung ein, die Napoleons Politik für das spätere Zusammenwachsen Deutschlands hatte?
Müchler: Deutschland geht unter seiner Herrschaft über einen Parcours der Zwangsmodernisierung. Er wrackt das alte Reich ab, das nur noch ein Gespenst ist. Die große territoriale Flurbereinigung im Zuge der Säkularisierung steuert er von Paris aus. Er vergrößert und stärkt die Mittelstaaten Württemberg, Baden und an erster Stelle Bayern. Diese Stärkung wird auch durch den Wiener Kongress nicht revidiert, und so kommt es, dass sechzig Jahre später die Reichsgründung durch Bismarck nicht zentralistisch verlaufen kann, weil die Staaten des sogenannten Dritten Deutschlands zu stark sind. Es ist nicht falsch zu sagen, dass Napoleon durch seine Rheinbundpolitik daran mitgewirkt hat, dass die deutschen Gesamtstaatsfrage schließlich föderativ gelöst wurde.
Welche weiteren Spuren hat Napoleon hinterlassen?
Müchler: Die vordringenden napoleonischen Armeen haben alles im Gepäck, was Frankreich zu diesem Zeitpunkt modern und überlegen macht. Überall in Deutschland, wo Napoleon das Sagen hat, werden Teile der französischen Verfassung übernommen, der Code Civil – heute würde man sagen, das Bürgerliche Gesetzbuch – eingeführt, werden die Adelsvorrechte abgeschafft und Religionsfreiheit und Gewerbefreiheit eingeführt. Das bedeutet einen ungeheuren Modernisierungsschub. Selbst die Preußen, die Napoleon unklug und ungerecht behandelt, lernen von ihm.
Viele sahen in Napoleon den Unterdrücker?
Müchler: Und zwar nicht zu Unrecht. Aber die Sicht auf Napoleon war unterschiedlich, je nachdem wo man in Deutschland lebte. Die preußische Elite hat ihn gehasst. In den Mittelstaaten wog man die Vor- und Nachteile ab. In den linksrheinischen Departements hat man noch viele Jahre nach seinem Tod Napoleon-Lieder gesungen.
Die meisten Franzosen sind heute noch stolz auf Napoleon. Ist das die Sehnsucht nach einstiger Größe?
Müchler: Napoleon hat Frankreich in eine Machtstellung gebracht, wie es sie weder vorher noch nachher gab. Das gefällt den Franzosen natürlich. Diejenigen, die genauer hinschauen, bewundern ihn, weil er das von Bürgerkrieg und Kulturkampf zerrissene Land befriedet hat. Das ist ihm gelungen, indem er sich gleich weit entfernt von den Jakobinern und den Royalisten hielt. Hinzu kommt der Respekt vor der enormen Reformleistung des Mannes, der eben nicht nur ein erfolgreicher Feldherr war.
Sind nicht manche Züge des Bonapartismus, also der autoritären Herrschaft, die auf der vermeintlichen Zustimmung des Volkes basiert – heute wieder erschreckend modern?
Müchler: Das kann man so sehen. Aber dadurch wird, sagen wir, Herr Erdogan, kein zweiter Napoleon. Dem wurden diktatorische Vollmachten übertragen, damit er die Gräben im Lande zuschütte. Erdogan, wenn ich es richtig sehe, vertieft sie.
Machen Sie als Historiker sich nicht Sorgen angesichts des Zustands, in dem sich Europa befindet oder sind Sie trotz aller Probleme optimistisch.
Müchler: Ich bin optimistisch, schon weil ich mir einen Rückfall in ein engstirniges, nationalistisches Klein-Klein erst gar nicht vorstellen möchte. Europa ist viel attraktiver als es Politiker und Medien mitunter suggerieren. Natürlich läuft vieles nicht rund. Führung ist schwierig, die große Zahl gleichberechtigter Staaten hat ihren Preis. Aber das Prinzip ist richtig. Gleichgewicht ist das Grundgesetz Europas. Napoleon hat das nicht verstanden und nicht respektiert – deshalb ist er letztlich gescheitert.
Günter Müchler, 73, ist Journalist und Buchautor. Er studierte Geschichte und Politik. Der frühere Bonn-Korrespondent unserer Zeitung (1980 bis 1985) war bis 2011 Programmchef von Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur. Müchler gilt als Frankreichkenner. Er hat bereits mehrere Bücher über die Französische Revolution und Napoleon verfasst. Sein aktuelles Werk heißt „Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron“. Es ist beim Verlag wbg Theiss erschienen und hat 624 Seiten.
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