Haben Sie sich heute morgen im Bett so richtig ausgiebig geräkelt, gestreckt und gedehnt, ehe Sie aufgestanden sind? Falls ja: Gut so. Bleiben Sie dabei! Sie sollten es täglich tun. Das morgendliche Räkeln nämlich könnte so etwas wie eine tägliche Faszien-Hygiene sein, sagen Wissenschaftler der Forschungsgruppe „Fascia Research“. Eine Routine wie das Zähneputzen also, nur dass sie nicht den Zähnen, sondern den Faszien zugutekommt.
Faszien: die "Servolenkung" des Körpers
Ach, Sie wussten gar nicht, dass Sie Faszien haben und wofür die da sind? Das ist verständlich, schließlich wurde jahrelang kaum über Faszien gesprochen. Sie wurden vielmehr jahrzehntelang „schändlich vernachlässigt“, sagt Dr. Robert Schleip, Humanbiologe, Psychologe und Körpertherapeut, der der Forschungsgruppe angehört; aber diese Zeiten sind vorbei. Faszien sind gerade richtig „in“, es gibt einen regelrechten „Hype“, heißt es. Fast jeder Sport- und Fitnessklub wolle neuerdings etwas über Faszien wissen. Schleip hat eine Erklärung dafür: Wenn etwas lange vernachlässigt wurde, ist der „Aufwacheffekt“ schließlich umso größer. Und ein solches Aufwachen gibt es seit wenigen Jahren.
Gerade ist der erste Faszienatlas, den es je gab, herausgekommen, Schleip hält ihn fast andächtig in Händen und spricht von einem „historischen Moment“. Ein Buch, das die Faszien aller Körperregionen auf Fotos zeigt, das habe es bislang nicht gegeben. Doch jetzt also: auf vielen Seiten zartschimmernde Häute, die die Muskeln umhüllen, und andere Strukturen aus Bindegewebe; Gewebe, von dem man lange glaubte, dass es weitgehend funktionslos, störend und überflüssig sei. Welch ein gigantischer Irrtum!
In einer Publikation hat die Arbeitsgruppe Fascia Research der Universität Ulm, Außenstelle Günzburg, vor wenigen Monaten in der Zeitschrift Aktuelle Schmerztherapie einige Aspekte zusammengetragen, die verdeutlichen, dass Faszien geradezu faszinierend sind: Sie bilden im Körper eine dreidimensionale Architektur und ein mehrschichtiges System innerer Häute, die miteinander verbunden sind. Wie die „Servolenkung“ im Auto können sie Kräfte umlenken, Energie abpuffern oder Bewegungen verstärken. Und: Sie sind eine mögliche Ursache von Schmerzsyndromen, auch das weiß man heute.
Brandneue Erkenntnisse? Schon in den 1950er Jahren, sagt Professor Bernhard Widder, Leiter des interdisziplinären Schmerzzentrums am Bezirkskrankenhaus (BKH) Günzburg, habe es Studien zur Bedeutung der Faszien gegeben, aber irgendwann sei das Thema dann „verloren gegangen“. Vielleicht, weil man früher einfach nicht die Möglichkeit gehabt habe, diese Strukturen genauer zu erforschen.
Faszien spielen eine wesentliche Rolle bei Rückenschmerzen
Jetzt aber untersucht man sie erfolgreich in Günzburg am Schmerzzentrum des BKH. Mit Privatdozent Dr. Werner Klingler, Physiologe und Anästhesist, kam vor einigen Jahren das neuromuskuläre Labor der Universität Ulm nach Günzburg, Schleip promovierte dort, und die Idee kam auf, dass die Faszien eine wesentliche Rolle bei allen muskulären Problemen spielen, wie Klingler erzählt.
Beim Rückenschmerz zum Beispiel. Rückenschmerzen sind bekanntlich weit verbreitet, und die Schulmedizin hatte immer nur Bandscheiben, Knochen und Muskulatur als Übeltäter im Visier. Was sich damit nicht erklären ließ, „war Psyche“, sagt Schleip mit nachsichtigem Lächeln. Alternativtherapeuten – wie etwa Osteopathen – erzielten zwar manche Erfolge mit manueller Behandlung, doch die Erklärung, man habe damit „Energieblockaden“ behoben, konnte Schulmediziner nicht zufriedenstellen. An die Faszien als Auslöser, insbesondere die große Thorakolumbalfaszie – eine Bindegewebsplatte, die am Rücken im Lendenbereich angesiedelt ist – hatte kaum jemand gedacht.
Doch jetzt gibt es Hinweise, dass dem so ist. Die Ulmer Forscher verfügen heute über Möglichkeiten, die Faszien eingehend zu untersuchen: mit modernen Ultraschallgeräten etwa lassen sich Dicke und „Scher-Verschieblichkeit“ der Faszien bestimmen, sagt Klingler. Auch die Gewebe-Elastizität kann man ermitteln. Und so haben die Forscher festgestellt, dass Männer, die unter chronischen Rückenschmerzen leiden, eine verdickte Thorakolumbalfaszie haben. Das Gleiten der verschiedenen Gewebeschichten aufeinander ist reduziert.
Verdickt, verklebt, verfilzt: So kann Fasziengewebe richtig Ärger machen. Und das nicht nur am Rücken, sondern auch an anderen Körperstellen, etwa an der Schulter oder am Nacken. Leidet jemand unter chronischen Nackenschmerzen, kann man feststellen, ob Faszien daran beteiligt sind oder nicht, berichtet Schleip. Seien sie über 1,5 Millimeter dick, solle man eine Faszientherapie in Erwägung ziehen, sei die Dicke geringer, müsse man nach einer anderen Schmerzursache suchen. Oft sei die Faszie auf einer Seite fester als auf der anderen, und auch dies könne schmerzhaft sein.
Faszien-Fitness: kein normales Muskeltraining
Man weiß heute, dass Faszien sehr gut innerviert, also mit Nerven versehen seien, sagt Klingler; dies sei ein „wichtiger Punkt“. Zudem seien sie bedeutsam für die „Propiozeption“, die Wahrnehmung von Körperbewegung und -lage im Raum beziehungsweise die Stellung der Körperteile zueinander. Faszien sind unser größtes Sinnesorgan, und Schleip bezeichnet sie als Hauptsitz des Embodiments, des Gefühls, im eigenen Körper zu Hause zu sein. Viele wichtige Aufgaben also, die beeinträchtigt werden, wenn die Faszien nicht in Form sind.
Wie andere Gewebe degeneriert das Fasziengewebe, wenn es nicht gefordert wird: „Mit dem Alter oder bei Bewegungsmangel verspröden wir“, sagt Schleip, die Faszien würden dadurch ähnlich trocken und steif „wie Bast“. Der Forscher und Therapeut spricht auch von Crosslinks, Querverbindungen zwischen den Kollagenfasern des Gewebes, Spinnwebfasern vergleichbar an einer Tür, durch die lange niemand mehr gegangen ist. Da das verfilzte Gewebe weniger elastisch ist, wird die Muskelarbeit behindert, die Körperhaltung leidet und man wird steifer.
Also muss man etwas tun, um den „Bast“ wieder elastischer zu machen – beziehungsweise um ihn zeitlebens möglichst elastisch zu halten und gar nicht erst spröde werden zu lassen. Faszientraining lautet das Stichwort, und Schleip hat unlängst ein Buch dazu veröffentlicht: Faszien-Fitness heißt es. Es gilt, die Verklebungen und Verfilzungen zu lösen und die Faszien wieder elastischer zu machen. Die Übungen hierfür unterscheiden sich von normalem Muskeltraining: Man arbeitet mit weniger Gewicht, Dehnungen, schwingende und federnde Bewegungen stehen im Vordergrund.
Faszien und Krebs: neue Erkenntnisse
Festgestellt haben die Forscher, dass durch gezieltes Training Wasser aus dem Gewebe gedrückt wird, das sich sodann wieder vollsaugt wie ein Schwamm – und mehr Flüssigkeit aufnimmt als zuvor. Möglicherweise würden damit auch Entzündungsstoffe abgeschwemmt, heißt es. Ein anderer Effekt, von dem man weiß, ist die Anregung des Stoffwechsels, der Abbau von altem Kollagen und der Aufbau von neuem wird beschleunigt. Trotzdem: Man muss Geduld haben. Bis sich das Fasziengewebe neu strukturiert hat, vergehen üblicherweise Monate.
Faszientherapie ist auch keine neue „Allzweckwaffe“ gegen Rückenschmerzen. Zwar gibt es heute viele Hinweise, dass die Faszien zu chronischem Rückenschmerz beitragen – etwa dass sie gerade am Rücken reichlich mit Schmerzsensoren ausgestattet sind. Doch die Günzburger Wissenschaftler bleiben trotz ihrer Erkenntnisse auf dem Boden und sehen in den Strukturen vielmehr einen Baustein in der Behandlung, der „bisher gefehlt hat“. Einen neuen Baustein im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie, die viele Aspekte berücksichtigt.
Inzwischen haben sich für die Faszien neue Perspektiven aufgetan, ein neues Gebiet, das Schleip gar nicht erwartet hatte: das Thema Faszien und Krebs. Die Fragen dazu klingen spannend: Können verklebte, verfestigte Faszien auch das Immunsystem oder Medikamente von einem Tumor fernhalten? Könnte es Krebspatienten also helfen, die Strukturen möglichst geschmeidig zu halten? Heuer soll dazu erstmals ein internationaler Kongress in den USA stattfinden. In Ulm und Günzburg ist man schon gespannt darauf.