Die Impfstoffe machen Hoffnung auf ein baldiges Ende der Pandemie. Dabei fällt häufig das Wort „Herdenimmunität“. Die Überlegung: Wenn etwas mehr als 60 Prozent der Menschen immun sind - sei es durch Impfung oder Infektion - ist das Virus besiegt. Doch diese Überlegung hat Tücken.
„Im Frühjahr habe ich gesagt, 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung müssten immun sein, erst dann hätten wir Herdenimmunität und die Pandemie wäre vorbei“, sagt die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in einem neuen Video auf ihrem YouTube-Kanal „maiLab“.
Der Wert für die Herdenimmunität wird heute höher angesetzt als zu Beginn der Pandemie
Allerdings sei der Wert nur eine grobe Näherung. Denn die Prozentzahl für die Herdenimmunität ist abhängig von der Basisreproduktionszahl R0. Jener Wert also, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt - vorausgesetzt es wurden keine Maßnahmen ergriffen und niemand ist immun.
Zu Beginn der Pandemie gingen Experten davon aus, dass sich diese Zahl bei Corona auf etwa drei beläuft. Sie nahmen also an, dass jede infizierte Person drei weitere ansteckt. Damit müssten etwas mehr als 66 Prozent der Bevölkerung immun sein, damit die Infektionszahlen zurückgehen. Denn wenn zwei Drittel der Bevölkerung nicht mehr angesteckt werden können, dann gibt jeder Infizierte das Virus im Schnitt nicht mehr an drei Personen weiter, sondern nur noch an eine.
Niedrige Impfbereitschaft könnte den Weg zur Herdenimmunität verlängern
Inzwischen schätzt das RKI die Basisreproduktionszahl R0 aber nicht mehr auf 3, sondern auf 3,3 bis 3,8. Das erhöht auch den erforderlichen Wert für die Herdenimmunität. Geht man wie das RKI von einer Basisreproduktionszahl von 3,8 aus, kommt man schon auf eine erforderliche Immunität von etwa 73,4 Prozent.
Doch Mai Thi Nguyen-Kim führt weitere Argumente auf, die gegen ein schnelles Ende der Pandemie sprechen. Erstens: Aktuell sind die Infektionszahlen verhältnismäßig niedrig. Oder besser gesagt: Niedriger als ohne Kontaktbeschränkungen. Würden diese vorschnell gelockert, könnte eine nächste Welle kommen. Vorausgesetzt es wurden noch nicht ausreichend Menschen geimpft.
Das zweite Problem: Impffaulheit. Sind erstmal einige Menschen gegen das Virus geimpft, werden die Krankenhäuser entlastet. Unser Leben wird wieder ein Stück weit normaler. Einige Menschen könnten dann jedoch keinen Grund mehr sehen, sich überhaupt impfen zu lassen. Das würde den Weg zur Herdenimmunität erschweren und verlangsamen.
Impfungen könnten an den Infektionszahlen vorerst wenig ändern
An den Infektionszahlen könnte eine Impfung ohnehin vorerst weniger ändern als gedacht. Es werden zwar Risikogruppen geschützt und Krankenhäuser entlastet. Allerdings waren diese Menschen bisher nicht gerade die Treiber der Pandemie. Sie haben eher verstärkt auf Kontaktbeschränkungen geachtet und wurden seltener infiziert. Wahrscheinlich ist, dass damit in Krankenhäusern und Altenheimen sichere Aufenthaltsorte entstehen. Die Infektionszahlen würden damit aber nur langsam sinken.
Und die Hoffnung auf den Impfstoff hat ein weiteres Problem. Bisher kann nur sicher gesagt werden, dass die Vakzine vor einem Ausbruch der Krankheit schützen. Es könnte aber sein, dass Menschen sich trotzdem infizieren, einen Verlauf ohne Symptome durchmachen und in dieser Zeit das Virus weiter geben.
Langfristig rechnet Mai Thi Nguyen-Kim, dass uns das Virus auch nach den Impfungen begleiten wird. „Das heißt aber nicht, dass man es nicht kontrollieren kann“, sagt sie. Ist erstmal der größte Teil der Bevölkerung immun, werden sich nur noch Menschen anstecken, die zum ersten Mal mit dem Virus in Berührung kommen. Das dürften vor allem Kinder sein. Der Verlauf ist in der Regel ungefährlich. (AZ)
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