Das Mädchen, das bei Schulpsychologin Karina Staffel vom Augsburger Gymnasium bei Sankt Stephan sitzt, hat ein Problem. Es kann partout diese verflixten Latein-Vokabeln nicht lernen. Die Schulnoten sind in den Keller gesackt, die Welt steht kopf. Schließlich ist das Mädchen aus einer Modellklasse für Hochbegabte, die es an diesem Gymnasium seit 2009 gibt.
Klischees über Hochbegabte gibt es zur Genüge. Sie reichen von „unsportlich“ über „ständige Besserwisser“ bis hin zu „arrogant“, „sozial inkompetent“. Hochbegabte, das sind doch Nerds, die niemand versteht und die in einer völlig anderen Welt leben? Und die sowieso immer alles können? Weit gefehlt.
Intelligenz ist nicht alles. Es geht auch um Lernstrategien
Für Karina Staffler ist es gar nicht außergewöhnlich, dass auch Hochbegabte Hilfe brauchen. Denn der Intelligenztest ist eben nicht alles. „Es geht hier um die richtigen Lernstrategien“, erklärt sie. Wie lernt ein Mensch, dessen Gehirn wesentlich schneller arbeitet als das der meisten Menschen? Schließlich muss er sich weitaus weniger anstrengen als seine Klassenkameraden. Doch auch Hochbegabte müssten für ihre weitere Entwicklung lernen, wie man lernt. „Gerade Mädchen passen sich schnell an ihre Mitschüler an, bei vielen erkennt man die Hochbegabung erst über einen Test“, sagt Staffler.
Intelligenztests sind heute schnell gemacht. Wer den Begriff bei Google eingibt, der bekommt eine wahre Fülle von Angeboten – nicht alle sind seriös. Die magische Zahl, die es da zu knacken gilt, ist die 130. So will es die Definition: Einen Intelligenzquotienten (IQ) von über 130 haben nur zwei Prozent aller Menschen, deshalb gelten sie als hochbegabt. Doch was ist mit denen, die „nur“ einen IQ von 129 haben?
IQ-Tests kommen bei der selben Person oft zu unterschiedlichen Ergebnissen
Tanja Gabriele Baudson ist Vertretungsprofessorin für Methoden der Empirischen Bildungsforschung an der Technischen Universität Dortmund und engagiert sich beim Verein Mensa. Dort werden nur Menschen mit einem IQ von mindestens 130 aufgenommen. Dass sie sich beruflich mit Hochbegabten beschäftigt, sei auch ein Stück weit Selbstfindung, erklärt sie augenzwinkernd. Sie betont die Willkür dieser Grenze. „Jenseits dieser 130 öffnet sich keine andere Welt, wo überall Einhörner herumhüpfen“, sagt sie. Wie sollte das auch gehen, wenn Tests unterschiedliche Ergebnisse zutage fördern können. Gerade bei Kindern im Vorschulalter empfiehlt sie, zwei Tests zu machen. Gründe für unterschiedliche Ergebnisse kennt die Forschung zur Genüge. Da ist zum einen die Tagesform, zum anderen die unterschiedliche Machart der einzelnen Tests, aber auch gerade bei kleinen Kindern die Bereitschaft, überhaupt mitzumachen.
Im Augsburger Stephansgymnasium setzt man daher nicht nur auf den Intelligenztest, um neue Schüler für die Modellklassen auszusuchen. Zum einen „reduziert man sich ja sonst auf nur zwei Prozent der Schüler“, sagt Schulpsychologin Karina Staffler. Zum anderen sei das nur ein Indikator von vieren. Denn der IQ bildet längst nicht alles ab. Motivation, Persönlichkeit und soziales Verhalten spielen für die Auswahl ebenfalls eine wichtige Rolle.
Die wenigsten Hochbegabten sind sozial problematisch
Haben also Hochbegabte in anderen Bereichen Defizite? Die meisten Intelligenztests stützen sich auf drei Ebenen: Mathematik, Sprache und nonverbale Logik. Soziale Komponenten werden da ausgeblendet. Deshalb haben Kritiker den emotionalen Intelligenzquotienten (EQ) eingeführt. Doch was kommt heraus, wenn Hochbegabte einen EQ-Test machen? „Wenn sich in einzelnen Teilaspekten Unterschiede zeigen, dann sogar eher zugunsten der Hochbegabten“, sagt Mensa-Expertin Baudson. Die wenigsten Hochbegabten sind also sozial problematisch wie Sheldon Cooper aus der TV-Serie „The Big Bang Theory“. Woher kommt dann dieses Klischee? Baudson hat eine Vermutung: „Es gibt da möglicherweise ein ausgleichendes Gerechtigkeitsstreben bei Menschen. Man versucht da auch ein bisschen, die heile Welt wieder herzustellen.“ Sprich: Wenn sie schon so schlau sein müssen, dann können sie nicht auch noch nett und sportlich sein. Das wäre ja unfair.
Aber zurück zum Mädchen, das kein Latein lernt, obwohl es hochbegabt ist. Nicht alle Menschen mit einem IQ über 130 können alles gleich gut. Schulpsychologin Staffler erklärt, hin und wieder habe sie Spezialisten als Schüler. Das sind Hochbegabte, die nur in einem Teilaspekt hervorragend sind, dafür woanders Schwächen haben. Im IQ spiegelt sich das nur bedingt wider. Denn der ist ein Durchschnittswert. „Es kann passieren, dass ein Schüler im mathematischen Teil hervorragend abschneidet, aber im sprachlichen nur durchschnittlich“, sagt Staffler.
Auf die Bedürfnisse von Hochbegabten wird an den Schulen zu wenig Rücksicht genommen
Obwohl also Hochbegabte sehr unterschiedlich sein können, richten Schulen wie die von Karina Staffler eigene Hochbegabtenklassen ein. 1987 wurde an der Christophorusschule in Braunschweig die erste dieser Klassen eingeführt, heute gibt es allein in Bayern acht staatliche Schulen mit entsprechendem Profil. Hochbegabte erhalten eine spezielle Förderung – genau wie schwach Begabte. Widerspricht das nicht allen Ideen zur Inklusion? Forscherin Tanja Baudson sieht darin keine Probleme: „Solche Klassen sind eine ganz gute Krücke. Manche Lehrkräfte sind auf die verschiedenen Niveaus der Schüler nicht vorbereitet. Das sieht man auch bei der Inklusion.“ Jenseits aller pädagogischer Romantik würden sich viele Lehrer am mittleren Leistungsniveau orientieren. Auf die Bedürfnisse von Hochbegabten werde da selten Rücksicht genommen.
Und das kann fatale Folgen für die Gesellschaft haben: „Man muss als Hochbegabter erst einmal das Gefühl haben, dass das System etwas für einen tut“, sagt Baudson. „Wenn man sich von der Gesellschaft immer ausgebremst fühlt, ist man wahrscheinlich weniger gewillt, sich für sie zu engagieren.“ Der IQ misst schließlich nur das Potenzial der Intelligenz. Und nicht, was die Menschen daraus machen.