Als David* in die Wohngruppe kommt, hat er nichts als ein Kuscheltier im Gepäck. Und eine dicke Akte vom Jugendamt. Ein scheinbar ganz normaler Junge von zwölf Jahren. Ruhig, etwas schüchtern. Nun lebt er im „Haus Leuchtturm“ in Augsburg. Das Gebäude ist großzügig und strahlt eine angenehme Atmosphäre aus. Doch es herrschen strenge Regeln. Jungs wie David dürfen nicht alleine raus, in den Ecken hängen Überwachungskameras, Fenster und Türen sind alarmgesichert. Denn die Bewohner haben ein dunkles Geheimnis.
David und die anderen sechs Knaben haben das Gefühl für die eigenen Grenzen und die Grenzen anderer Kinder verloren. Das Gefühl dafür, was richtig ist und was falsch. Sie haben andere Kinder sexuell missbraucht. Und es geht tatsächlich um massiven sexuellen Missbrauch, nicht um das, was man landläufig „Doktorspiele“ nennt. Es gibt Fälle, in denen die eigene kleine Schwester oder das Nachbarskind zum Opfer werden. Fälle, in denen Gegenstände eine Rolle spielen. Schlimme Details, die sich kaum beschreiben lassen. Und es geht nicht um Einzelfälle. „Bei unseren Jungs haben sich Verhaltensmuster verfestigt“, sagt Therapeut Ruben Molina.
Es sind Taten, für die die Jungen zweifellos im Gefängnis landen könnten, wenn sie älter wären. Sie sind aber sehr jung. Manche beginnen mit solchen Dingen im Alter von acht oder neun, manche noch früher. Auf jeden Fall aber sind sie noch keine 14 und damit strafunmündig. Und daher sind sie offiziell auch keine Täter. Fachleute sprechen von „sexuell übergriffigen Jungen“.
In der ganzen Debatte um missbrauchte Kinder in kirchlichen Einrichtungen und Internaten ist das Thema Missbrauch von Kindern durch Kinder kaum oder gar nicht vorgekommen. Obwohl das Thema nicht neu ist. Und obwohl die Zahl der Fälle steigt. Davon sind jedenfalls Fachleute überzeugt. Die Kriminalstatistik der Polizei deckt dies, je nachdem, welchen Zeitraum man betrachtet. In solchen Fällen ist jedoch die Dunkelziffer stets sehr hoch, und die Zahlen sind immer mit Vorsicht zu betrachten. Auch geändertes Anzeigeverhalten der Menschen spielt eine Rolle.
Fast ein Drittel der Sexualtäter in Deutschland minderjährig
Eine Zahl zumindest steht fest: Knapp ein Drittel der Fälle sexueller Gewalt in Deutschland geschieht durch Täter, die unter 18 sind.
Und nun ist kürzlich in Mainz auch noch ein Skandal ans Licht gekommen, der fast das Vorstellungsvermögen übersteigt. In einer kirchlichen Kita hat es über einen längeren Zeitraum hinweg massive sexuelle Übergriffe von Kleinkindern an Kleinkindern gegeben. Sogar zu Genital-Verletzungen soll es gekommen sein. Nicht wenige Kinder sind traumatisiert. Die Kita wurde vorübergehend geschlossen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, weil wahrscheinlich Fürsorge-, Aufsichts- und Erziehungspflichten nicht beachtet worden sind.
Für Jungs, die so etwas machen, hat das Frère-Roger-Kinderzentrum der Katholischen Jugendfürsorge vor zweieinhalb Jahren in Augsburg die bayernweit erste Wohngruppe eröffnet – das Haus Leuchtturm. Die Buben sind zwischen zwölf und 15, wenn sie in den „Leuchtturm“ kommen. Sie bleiben zwei, drei Jahre, manche länger. In einer intensiven Therapie sollen sie lernen, sich zu kontrollieren und wieder ein Gefühl zu bekommen für den Umgang mit sich und anderen. Die Arbeit hat immer zwei Seiten: Es geht darum, den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen, aber auch den Opferschutz zu unterstützen. „Diese Jungen haben andere Menschen geschädigt. Unser Auftrag ist es zu verhindern, dass es weitere Opfer gibt“, sagt Friedrich Manzeneder, Leiter der stationären Hilfen im Kinderzentrum.
Dieses Haus betritt man nun also mit einem ganzen Bündel Fragen im Gepäck: Warum machen Kinder so etwas? Sind sie krank, pädophil gar? Kann man sie therapieren? Was passiert, wenn man sie nicht therapiert? Wer ist schuld? Haben die Eltern nicht aufgepasst? Was wird später aus diesen Kindern? Wie hoch ist die Rückfallquote? Wie leben die Kinder in diesem Haus? Und: Wie ist sichergestellt, dass sie sich nicht an weiteren Kindern vergreifen?
Das Haus. Jeder hat ein Einzelzimmer mit Dusche, an den Türen hängen bunt gestaltete Namensschilder. Es gibt eine Gemeinschaftsküche, große Fenster lassen viel Licht herein. Draußen ist eine Terrasse. Ein Raum im Keller ist für Sport ausgestattet: Gewichte, Medizinbälle, Sandsäcke, Sprossenwand. In einem Klassenzimmer findet Unterricht statt. Die Jungs können den Quali erreichen. Das alles könnte auch ein Internat sein oder ein Heim. Zum Schutz der Jungs dürfen Journalisten nicht mit ihnen reden.
Warum machen Kinder so etwas?
Warum machen Kinder so etwas? Kein einfaches Thema. „Viele haben selbst schon Schläge oder sexuelle Gewalt erlebt“, sagt Therapeut Molina. Der Anlass, anderen so etwas anzutun, ist oft gar nicht sexuell motiviert. So weit sind Kinder noch gar nicht. „Es geht mehr um Dominanz, Frustabbau, Macht, Demütigung – um so eigene Defizite zu kompensieren“, so Molina. „Und was ist die schlimmste Form – wenn man zum Beispiel einen anderen zwingt, seinen Penis in den Mund zu nehmen.“
Häufig kommen die Jungen aus schwierigen Verhältnissen. Eltern getrennt. Der Stiefvater Trinker und Schläger. Solche Biografien. Aber nicht nur. So pauschal ist das Thema nicht zu greifen. Diese Jungs sind auch nicht automatisch pädophil, wenn sie sich an anderen vergreifen. „Eine sexuelle Ausrichtung ist oft noch gar nicht entwickelt“, erklärt Diplom-Pädagoge Molina.
Oft genug hat dies zur Folge, dass ein Unrechtsbewusstsein komplett fehlt, wenn die Jungs in das Haus Leuchtturm kommen. „Man muss ihnen erst einmal klarmachen, dass sie Grenzen überschritten haben und dass das nicht akzeptiert wird“, sagt Ruben Molina. Er greift dann gern zu unkonventionellen Methoden. Einen uneinsichtigen Burschen nahm er einmal mit in die Innenstadt. Er sollte Menschen interviewen und so tun, als ob er für ein Schulprojekt arbeite. Fragestellung: Ist es schlimm, wenn Kinder Gleichaltrige missbrauchen? Nach knapp zehn Antworten hatte der Bub genug gehört. Er war reif für den sogenannten Tatbrief, in dem die Jungen alles aufschreiben sollen. Für viele eine schier unüberwindbare Hürde.
Viele erwachsene Sexualstraftäter haben bereits als Jugendliche oder Kinder erste sexuelle Übergriffe verübt. Das heißt, es lohnt sich, früh mit einer Therapie anzusetzen. Zurzeit sind die Jungs im „Leuchtturm“ zwischen 13 und 17. Wie geht man mit ihnen um? Das Frère-Roger-Kinderzentrum setzt auf eine Mischung aus Fürsorge und Strenge. In einer Kombination aus intensiver Therapie und festen Strukturen sollen die Jungen lernen, sich zu kontrollieren und beim Sport, Handwerken oder Musizieren die eigenen Stärken kennenzulernen. Denn die haben sie. Ein Intelligenzquotient von mindestens 85 ist Voraussetzung für die Aufnahme in der Einrichtung. Für Buben, die darunter liegen, gibt es eigene Häuser.
Ein bisschen ist es wie im Jugendarrest
Der Tag ist straff durchorganisiert. Ab 6 Uhr gibt es 30 Minuten Frühsport, danach Frühstück und Schulunterricht. Nach dem gemeinsamen Mittagessen ist der Nachmittag für Therapie und gemeinsame Freizeitgestaltung mit viel Sport reserviert. Nach 20 Uhr darf das Zimmer nur in Ausnahmefällen verlassen werden. Am Freitag stehen der Hausputz an und der Einkauf. Auch kochen müssen die Jungen. „Wir legen Wert darauf, dass alles möglichst lebensnah abläuft“, sagt die Leiterin der Wohngruppe, die Heilpädagogin Martina Wörle.
Die Regeln im „Leuchtturm“ sind streng. Handys sind verboten, wahlloses Fernsehen ist untersagt, und Computer dürfen nur für den Unterricht genutzt werden, der ebenfalls in der Wohngruppe stattfindet. Die Jungen müssen auch bei Ausflügen oder dem umfangreichen Sportprogramm immer in Sicht- und Hörweite der Mitarbeiter bleiben. Selbst in den Freibad-Umkleidebereich geht ein Betreuer mit. Jede kleine Freiheit – ein Poster an der Wand oder eigene Bettwäsche – müssen sich die Bewohner verdienen. Ein Zwölf-Stufen-Plan regelt, welche Vergünstigungen sie erhalten. Stufe eins ist der Neuankömmling. Stufe zwölf bedeutet: bereit für die Entlassung.
Außer in den Schlafzimmern und im Therapieraum zeichnen Kameras jede Bewegung auf. Wenn unbefugt eine Tür geöffnet wird, schrillt der Alarm. „Mit der engmaschigen Betreuung setzen wir das klare Signal, dass es hier keine Grenzverletzungen gibt“, so Friedrich Manzeneder.
Ein bisschen ist es wie im Jugendarrest. Doch die Jungs sind mehr oder weniger freiwillig hier – zumindest mit Zustimmung der Eltern. Kommt die nicht, würde das Jugendamt in solchen Fällen Druck ausüben. „Die Jungs müssen raus aus ihrem Umfeld, denn in diesem Nahbereich finden meist die Taten statt“, sagt Therapeut Molina.
Warum überhaupt? Das Thema wird in Deutschland erst seit wenigen Jahren genauer erforscht. Einer der Ersten war der Psychologe Andrej König von der Fachhochschule Dortmund. Er untersuchte sexuell gewalttätige Kinder und verglich die Gruppe mit aggressiven und unauffälligen Kindern. Ergebnis: Die sexuell übergriffigen und die aggressiven Kinder verhielten sich ähnlich dissozial. Sie klauten, legten Feuer oder wurden verbal ausfällig. „Nicht jede Verletzung der Intimsphäre ist sexuell motiviert“, sagt König. Oft gehe es den Kindern darum, Macht auszuüben oder andere zu erniedrigen. Bei erwachsenen Sexualstraftätern ist es übrigens auch nicht immer eine sexuelle Motivation.
Grenzverletzung im Kindesalter noch nicht eindeutig
Während in diesen Fällen klar ist, wo die Grenzverletzung liegt, ist das im Kindesalter noch nicht eindeutig definiert. Was ist „normales Doktorspiel“ und Erkunden? Wo beginnt der Übergriff? Inzwischen hat man sich darauf geeinigt, dass zu einer sexuellen Gewalttätigkeit ein gewisses Machtgefälle gehört. Das kann ein Stärkerer sein, der einen Schwächeren missbraucht, ein Älterer einen Jüngeren, ein Schlauer einen geistig Zurückgebliebenen. Und natürlich müssen Grenzen verletzt worden sein.
Die Tatsache, dass das Thema in der deutschen Wissenschaft noch relativ neu ist, führt zwangsläufig dazu, dass es keine Langzeitstudien gibt. Das heißt, wie sich die therapierten Kinder entwickeln, ist noch nicht erforscht. Das wirft neue Fragen auf. Wie viele Kinder werden rückfällig, werden also auch später andere Menschen sexuell missbrauchen? Welchen Effekt hat eine Therapie? Hat sie überhaupt einen Effekt? Im „Leuchtturm“ ist man sicher: „Durch die frühe Therapie besteht eine sehr gute Chance, dass die Therapierten keine erwachsenen Täter werden“, sagt Friedrich Manzeneder.
Und wie ist die Rolle der Eltern? Viele sehen die Betreuung als eine Entlastung. Andere sehen sie als Zwangsmaßnahme. Für Neulinge im Haus Leuchtturm gibt es anfangs eine Art Kontaktsperre. Frühere Übergriffe kommen oft genug erst hier, nach Monaten, ans Licht. „Und wenn die Einsicht erst einmal da ist, brauchen die Jungs Erfolgserlebnisse und Alternativen“, sagt Therapeut Ruben Molina. Die bekommen sie beim Handwerken, beim Klettern oder bei einem anderen Sport. Das alles soll helfen, sich zu kontrollieren.
Doch nicht alle vertrauen sich selbst. David* wartet abends, bis die Alarmanlage an Tür und Fenstern eingeschaltet ist und die Bewegungsmelder aktiviert sind. Dann lässt er sich zusätzlich im Zimmer einschließen. Für die Jungs ist es ein langer Weg im „Leuchtturm“.
* Name geändert