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Wirtschaftsweise Schnitzer: "Länger arbeiten und mehr fürs Alter sparen"

Interview

Chefin der Wirtschaftsweisen: "Länger arbeiten und mehr fürs Alter sparen"

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    Monika Schnitzer ist die Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
    Monika Schnitzer ist die Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Frau Schnitzer, wie betrachten Sie als Chefin der Fünf Weisen die nicht enden wollende Tarifauseinandersetzung bei der Bahn mit immer neuen Streiks?

    Monika Schnitzer: Der Tarifkonflikt bei der Bahn ist deshalb so kompliziert und heftig, weil der Konzern unabhängig voneinander mit zwei Gewerkschaften verhandelt, zunächst mit der EVG und jetzt mit der GDL. Am Ende wird nach dem Tarifeinheitsgesetz in einem Betrieb der Tarifvertrag der Gewerkschaft angewendet, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Deshalb tritt die Lokführergewerkschaft nach meiner Beobachtung so unglaublich hartnäckig auf. Die GDL will damit mehr Mitglieder gewinnen und unter Beweis stellen, dass sie ihren Mitgliedern mehr zu bieten hat. Gäbe es nur eine Gewerkschaft bei der Bahn oder könnten unterschiedliche Verträge angewendet werden, dann wäre der Konflikt weniger groß. Das Beharren der GDL auf einer Maximalposition, obwohl die Bahn bereits sehr viele Zugeständnisse gemacht hat, ist der Bevölkerung allerdings zunehmend schwerer zu vermitteln. 

    Schaden das Verhalten der GDL, aber auch der Gewerkschaften Verdi und Ufo, was die Streiks im Luftverkehr betrifft, dem Wirtschaftsstandort Deutschland? Verkommt unser Land zu einer Streit- und Streikrepublik? 

    Schnitzer: Die Sorge habe ich nicht, verglichen mit anderen Ländern wie beispielsweise Frankreich ist unsere Streikkultur doch weniger heftig. Deutschland war in den vergangenen Jahren kein Land mit überdurchschnittlich vielen Streiks im Zuge von Tarifkonflikten. Da derzeit die Bahn und auch die Lufthansa bestreikt werden, entsteht natürlich der Eindruck, hierzulande gäbe es besonders viele Arbeitskämpfe. Es zeichnet sich aber ab, dass manche der Tarifkonflikte in Deutschland das Resultat einer veränderten Verhandlungsmacht sind. 

    Werden Arbeitnehmer in Zeiten des Fachkräftemangels mächtiger? 

    Schnitzer: Ja, der demografische Wandel führt dazu, dass junge Leute heute eine stärkere Verhandlungsposition haben als früher. Immer weniger jüngere Frauen und Männer stehen immer mehr älteren Bürgern gegenüber. Sie können deshalb gegenüber ihren Arbeitgebern vielfach höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Das gönne ich ihnen und freue mich mit ihnen. Die Kritik mancher, die junge Generation sei zu bequem geworden, verkennt die Lage. Menschen stehen eben nicht mehr Schlange für einen Arbeitsplatz. Man muss um sie werben. 

    Das klingt nach einer erfolgreichen Ära für junge Beschäftigte. 

    Schnitzer: Wenn junge Beschäftigte mehr Lohn durchsetzen, werden die Arbeitgeber reagieren und Arbeit stärker automatisieren. Höhere Löhne können Unternehmen nur dann zahlen, wenn die Arbeit produktiver ist. Das geht aber nur durch den zunehmenden Einsatz etwa von Robotern und künstlicher Intelligenz. 

    Angesichts der knappen Ressource „Arbeitskraft“ wächst der Druck auf Arbeitgeber, den finanziellen Forderungen jüngerer Menschen zu entsprechen. 

    Schnitzer: Arbeitgeber können solche Verteilungskonflikte auch entschärfen, ohne dass das viel kosten muss. Die Forschung zeigt: Beschäftigte wollen nicht nur höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, ihnen ist es auch wichtig, welche Entwicklungsmöglichkeiten sie in ihrer Tätigkeit haben, wie viel Wertschätzung ihnen entgegengebracht wird und wie zeitlich und örtlich flexibel sie arbeiten können. 

    Arbeitgeber müssen demnach radikal umdenken. 

    Schnitzer: Ja, das ist eine Führungsaufgabe. Wer mehr auf die Beschäftigten eingeht, für den sind diese auch gerne bereit, im Alter länger zu arbeiten. Früher wurden ältere Beschäftigte schnell etwa via Altersteilzeit abserviert, in der Erwartung, sie durch junge Menschen zu ersetzen, die niedrigere Gehälter beziehen. Das war ein Fehler. Viele erfahrene Arbeitskräfte wurden zu früh in Rente geschickt. 

    Das klingt nach paradiesischen Jobzuständen für jüngere Menschen und härteren Zeiten für ältere Beschäftigte, die nicht mehr in dem Maße dank Altersteilzeit früher aus dem Beruf ausscheiden können. Sind die Jungen die Gewinner dieser Umverteilung? 

    Schnitzer: Auf dem Arbeitsmarkt vermutlich schon. In anderen Bereichen laufen Verteilungskonflikte zuungunsten der jüngeren Menschen ab. 

    Warum das denn? 

    Schnitzer: Weil immer weniger junge Menschen für immer mehr Rentnerinnen und Rentner aufkommen müssen. Das Problem ließe sich am einfachsten durch eine viel höhere Zuwanderung von Fachkräften als heute lösen. Doch das zeichnet sich nicht ab. 

    Dieser Zusammenhang scheint vielen AfD-Wählern nicht vermittelbar zu sein. 

    Schnitzer: Sowohl für den Arbeitsmarkt als auch zur Stabilisierung unseres Rentensystems brauchen wir mehr Zuwanderung. Da sind die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit sehr klar. 

    Wie viele qualifizierte Zuwanderer bräuchte Deutschland jährlich? 

    Schnitzer: Deutschland bräuchte jedes Jahr netto eine Zuwanderung von 400.000 Menschen, um das Potenzial an Erwerbspersonen konstant zu halten. Dazu müssten aber rund 1,5 Millionen Menschen jährlich brutto zu uns kommen, weil etwa 1,1 Millionen Frauen und Männer jedes Jahr Deutschland verlassen, um in ein anderes Land weiterzuziehen oder in die Heimat zurückzugehen. 

    Viele Bürger reagieren ablehnend auf solche Fakten und wählen AfD. Wie kann man solchen Menschen die deutsche Realität nahebringen? 

    Schnitzer: Ich frage mich immer, von welchen Kräften sich solche Menschen im Alter pflegen lassen wollen. Ohne Pflegebeschäftigte aus dem Ausland geht das nicht. Und wie wollen sie sich medizinisch behandeln lassen? Gerade auf dem Land gibt es viel zu wenige Ärzte. Sogar die Kirchen machen es vor: Sie holen Priester aus dem Ausland, weil es in Deutschland viel zu wenig Nachwuchs gibt. An allen Ecken und Ende fehlen hierzulande Arbeitskräfte. Damit Zuwanderung in Deutschland mehr Akzeptanz findet, müssen wir aufhören, Asylsuchende und Fachkräfte, die zu uns wollen, in einen Topf zu werfen. Das führt bei vielen Menschen zu einer ablehnenden Reaktion. 

    Was muss hier konkret politisch passieren? 

    Schnitzer: Wir müssen überlegen, wie wir es besser vermeiden können, dass Menschen als Asylbewerber zu uns kommen, die wenig Chancen haben, als asylberechtigt anerkannt zu werden. Was Arbeits- und Fachkräfte betrifft, sollten wir mit Drittstaaten Abkommen vereinbaren und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass vor Ort geprüft wird, ob Bewerber für den deutschen Arbeitsmarkt auch entsprechend qualifiziert sind. Und wenn sie es nicht sind, sollten wir Unterstützung leisten, dass sie in ihren Heimatländern weitergebildet werden und die deutsche Sprache erlernen. Alles mit der klaren Perspektive, danach zu uns kommen zu können. 

    Und wie gehen wir mit Asylbewerbern um? 

    Schnitzer: Viele Asylsuchende bezahlen viel Geld für einen Schlepper, um irgendwie über das Mittelmeer zu kommen. Dabei riskieren sie ihr Leben. Besser wäre es, sie müssten sich gar nicht erst auf dem Weg übers

    Was passiert, wenn es sich dennoch gesellschaftlich nicht durchsetzen lässt, viel mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland zu uns zu holen? 

    Schnitzer: Dann bleibt uns noch der japanische Weg, wo immer mehr Roboter in einer alternden Gesellschaft eingesetzt werden. Roboter unterstützen dort zum Beispiel das Pflegepersonal. 

    Doch auch das wollen Deutsche nicht, die gleichzeitig gegen mehr Zuwanderung sind. 

    Schnitzer: Die Alternative sind immer schlechtere Betreuungsquoten in den Pflegeheimen. Das kann niemand wollen. Wie einschneidend sich der Arbeitskräftemangel auswirkt, sieht man übrigens auch in der Gastronomie. Viele Restaurants und Cafés öffnen nur noch vier Tage die Woche. 

    Weil unter dem Strich zu wenige Zuwanderer in Deutschland bleiben und den Arbeitsmarkt entlasten, bleibt uns zur Finanzierung der Rente nichts anderes übrig, als das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Brauchen wir die Rente mit 68, 69 oder gar einmal mit 70? 

    Schnitzer: In den letzten 40 Jahren hat sich die Zeit, in denen Menschen Rente bezogen haben, um rund acht Jahre erhöht. Frauen und Männer genießen heute viel länger ihre Rente. Andererseits ist die Geburtenrate in Deutschland seit 1971 zu niedrig, um die Bevölkerung konstant zu halten. Selbst die in den 50er- und 60er-Jahren geborenen Babyboomer haben nicht in ausreichender Zahl Kinder auf die Welt gebracht. 

    Was hat das für Konsequenzen für das Renteneintrittsalter? 

    Schnitzer: Der Sachverständigenrat schlägt vor, dass wir für jedes Jahr, um das sich die Lebenserwartung erhöht, acht Monate länger arbeiten. Im Jahr 2031 wird das Renteneintrittsalter nach aktueller Gesetzeslage bei 67 Jahren liegen. Nach jetzigem Stand leben die Menschen in Deutschland alle zehn Jahre neun Monate länger. Unserer Formel zufolge würde das bedeuten, dass die Bürgerinnen und Bürger alle zehn Jahre sechs Monate länger arbeiten müssen.

    Wann würde dann die Rente mit 68, wann mit 69 und wann mit 70 Wirklichkeit? 

    Schnitzer: Wenn sich die Lebenserwartung weiter so erhöht wie bisher, wären wir 2051 bei der Rente mit 68, 2071 bei der Rente mit 69 und erst 2091 bei der Rente mit 70. 

    Da ist es zum Glück noch eine Weile hin.  

    Schnitzer: In der Tat. Wir dürfen den Menschen keine Angst machen. 

    Aber aufklären sollte man die Menschen schon. 

    Schnitzer: Ja, wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass wir uns bei der Rente nicht nur auf das Umlageverfahren verlassen dürfen, nachdem die Jungen für die Alten zahlen. Die Menschen müssen mehr für ihre Rente sparen. 

    Diese Botschaft hören viele Bürger nicht gerne. 

    Schnitzer: Dabei wurde diese Botschaft seit der Jahrtausendwende den Menschen vermittelt. Trotzdem glauben viele noch, sie könnten im Alter allein von der gesetzlichen Rente leben und damit ihren Lebensstandard sichern. Das ist leider eine Illusion. 

    Doch die Bundesregierung packt das Thema jetzt an und will einen kleineren Teil der Renten zum ersten Mal dank des Kapitalmarktes finanzieren. Ist das in Ihrem Sinne?

    Schnitzer: Wenn man, wie die Regierung plant, das Rentenniveau des Durchschnittsverdieners auf 48 Prozent des Durchschnittslohns zu stabilisieren, werden die Beitragssätze in den nächsten Jahren um mehrere Prozentpunkte ansteigen müssen. Durch das Generationenkapitel wird dieser Anstieg um rund 0,5 Prozentpunkte verringert. Das ist nicht viel. Besser wäre es, so unser Vorschlag im Sachverständigenrat, die Beitragszahler würden einen Teil der Rentenbeiträge selbst am Kapitalmarkt, also etwa in Aktien investieren. Damit würden sie eigene Rentenansprüche erwerben, mit hohen Renditen. 

    In Deutschland gibt es große Vorbehalte, die Rente zum Teil auf die unsichere Entwicklung von Aktien aufzubauen. 

    Schnitzer: Wenn das Geld breit angelegt wird, also über viele Länder und Branchen gestreut wird, sind die Erträge sehr sicher. Schweden hat uns das vorgemacht. Dort gibt es ein solches System schon seit 20 Jahren, mit Renditen zwischen neun und zehn Prozent. Ein Börsencrash, der alle Aktien weltweit gleichzeitig trifft, ist ein sehr seltenes Ereignis. Wenn man die Aktien lange genug hält, also nicht darauf angewiesen ist, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verkaufen, dann sind auch solche Ereignisse verkraftbar. In Deutschland ist die Aktienkultur leider im Zuge des Börsengangs der Telekom beschädigt worden. Damals wurde der falsche Eindruck erweckt, man könne allein auf ein Papier wie die T-Aktie setzen. Das ging schief. Aber es war auch der falsche Ansatz. Man muss Aktienbesitz breit streuen. Dafür gibt es Fonds. 

    Der T-Aktien-Schock sitzt nach wie vor tief bei vielen Menschen. 

    Schnitzer: In Deutschland fehlt einfach die Finanzbildung. Wir vermitteln Kindern zu wenig, wie man spart und Geld gut anlegt. Deswegen schlagen wir als Wirtschaftsweise vor, jedem Kind pro Monat vom Staat zehn Euro zu überweisen und zu vermitteln, wie man das Geld am besten spart, also möglichst breit am Aktienmarkt anlegt. 

    Ihnen ist es als Volkswirtschaftsprofessorin wichtig, dass Ökonomie für breite Schichten verständlich vermittelt wird.  

    Schnitzer: Ja, wir reden über viele Themen in der Schule, aber für solche praktischen Themen verlassen wir uns auf das Elternhaus. Und Eltern kennen sich sehr unterschiedlich gut in solchen Fragen aus. Deshalb sparen in Deutschland leider immer noch viel zu viele auf einem Sparkonto. Das führt zu sozialen Ungleichgewichten: Wer weiß, wie sich Geld am Aktienmarkt vermehren lässt, hat zuletzt hohe Renditen erwirtschaftet, während klassische Sparer bei den niedrigen Zinsen deutlich schlechter abgeschnitten haben. Das zeigt: Durch eine teilweise kapitalgedeckte Rente hätten auch Menschen mit nicht so viel Geld Anteil an der Entwicklung am Aktienmarkt. 

    Wie lautet letztlich Ihre Rentenbotschaft? 

    Schnitzer: Wir müssen länger arbeiten und mehr fürs Alter sparen. Gleichzeitig können die Renten nicht mehr so stark wie bisher erhöht werden. Das ist der Dreiklang. Wenn wir an allen drei Stellschrauben drehen, können wir die Rente sichern, ohne gleichzeitig die junge Generation zu stark zu belasten. Die jetzt vorgeschlagenen Reformen gehen in die genau andere Richtung. Sie halten das Renteneintrittsalter fest und sie zementieren den weiteren Anstieg der Renten mit der Lohnentwicklung. Dadurch belasten sie vor allem die junge Generation. 

    Ihr Rentendreiklang missfällt sicher vielen Menschen. 

    Schnitzer: Fakt ist: Das Umlageverfahren kommt an seine Grenzen, wenn eine Gesellschaft nicht genug Kinder bekommt. 

    An Ihnen und Ihrem Mann, der auch Ökonom ist, liegt es nicht. 

    Schnitzer (lacht): Wir haben drei Kinder. Und weil wir uns gleichberechtigt die Erziehungsarbeit aufgeteilt haben, konnten mein Mann und ich beide als Wirtschaftsprofessoren arbeiten. 

    Manchmal streiten auch Ökonomen. Unter den fünf Wirtschaftsweisen ist öffentlich ein heftiger Konflikt ausgetragen worden. Sie als Vorsitzende des Sachverständigenrates und zwei Kollegen wie eine Kollegin sind nicht einverstanden damit, dass die Fünfte im Bunde, Professor Veronika Grimm, in den Aufsichtstat von Siemens Energy einzieht. Wie weise ist dieser Streit? 

    Schnitzer: Wir diskutieren gerade im Rat, welche Compliance-, also Verhaltensregeln wir uns gemeinsam geben wollen, um mit potenziellen Interessenkonflikten umzugehen, die sich aus solchen Mandaten ergeben können. Bisher hatten wir leider noch kein solches Regelwerk. 

    Wollen Sie gar nichts zum Konflikt zwischen Ihnen und Frau Grimm sagen? Das ist ein ungewöhnlicher Vorgang.  

    Schnitzer: Ich möchte mich zu diesem Thema nicht weiter äußern.

    Zur Person: Monika Schnitzer, 62, ist seit 2022 Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Das Gremium wird als die „Fünf Weisen“ bezeichnet. Die Ökonomin ist Professorin für Komparative Wirtschaftsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Schnitzer berät seit 20 Jahren Politikerinnen und Politiker. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Innovation, Wettbewerb und multinationalen Unternehmen. 

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