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Wirecard-Prozess: Ex-Wirecard-Chef Braun vor Gericht: Über ein Verfahren, das alle Dimensionen sprengt

Wirecard-Prozess

Ex-Wirecard-Chef Braun vor Gericht: Über ein Verfahren, das alle Dimensionen sprengt

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    Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun steht zum Prozessauftakt an der Anklagebank im Gerichtssaal.
    Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun steht zum Prozessauftakt an der Anklagebank im Gerichtssaal. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Es gibt eine neue Maßeinheit für Wirtschaftsprozesse in München. Und die heißt Rupert Stadler. Als das Verfahren gegen den früheren Audi-Chef am 30. September 2020 begann, war das öffentliche Interesse an der Aufarbeitung des Abgas-Betrugs schon groß. Manche stellten sich zu nächtlicher Stunde an, um einen Platz zu ergattern. Doch am Donnerstag hieß es zum Auftakt des Wirecard-Verfahrens von kundigen Prozessgängern über den Zuschauerandrang: „Etwas mehr als bei Stadler.“ Das ist sicherlich eine zweifelhafte Ehre für Markus Braun, den früheren Chef des inzwischen insolventen Online-Bezahldienstleisters Wirecard. Die Schlange vor dem unter dem Gefängnis in München-Stadelheim gelegenen Gerichtssaal ist derart lang, dass der Prozess 45 Minuten später startet. Die Verantwortlichen wollen möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, das Verfahren zu verfolgen. 

    Ex-Wirecard-Chef Markus Braun hat es nicht weit von Stadelheim in den Gerichtssaal

    Braun betritt den Gerichtssaal durch einen Nebeneingang. Der tief gefallene Manager hat es nicht weit, sitzt er doch seit 10. November in München-Stadelheim in Untersuchungshaft. Der Mann mit dem schütteren Haar wirkt noch etwas schlanker als zu Wirecard-Zeiten. Modisch setzt der 53-Jährige wie einst so oft auf einen dunklen Anzug und sein Markenzeichen, den jahreszeitlich passenden Rollkragen-Pullover. Beinahe wirkt er wie ein Priester. Braun bemüht sich, nicht in den Boden zu starren, wie er das so gerne tut. Als der Vorsitzende Richter Markus Födisch, 48, seinen Namen verliest, antwortet er laut: „Das ist richtig.“ Alle weiteren Angaben zur Person, ob er verheiratet und österreichischer Staatsangehöriger sei, beantwortet Braun geflissentlich mit Blick auf das Gericht mit einem vernehmlichen Ja. 

    Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun (rechts) sitzt beim Prozessauftakt neben seinem  Anwalt Alfred Dierlamm auf der Anklagebank im Gerichtssaal.
    Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun (rechts) sitzt beim Prozessauftakt neben seinem Anwalt Alfred Dierlamm auf der Anklagebank im Gerichtssaal. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Als dann Födisch von ihm wissen will, ob er in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim in Untersuchungshaft sitze, meint Braun: „Absolut.“ Das ruft das ein oder andere Schmunzeln in dem bunkerartigen Raum mit holzvertäfelten Wänden und schwarz-weißen Möbel hervor. Der Beschuldigte ist natürlich nervös. Er will nichts falsch machen. Kein Wunder: Nun steht er für zunächst 100 sicher quälend lange Tage bis Ende kommenden Jahres vor Gericht. Im selben Gerichtssaal wie der einstige Audi-Chef Rupert Stadler wird er eine ganze Menge Leben verbringen, wie es in einem Lied von Konstantin Wecker heißt. Auch der Liedermacher saß in Bayerns größtem Knast, den Münchner gerne spaßig „Sankt Adelheim“ nennen, ein. Doch die Lust auf Freiheit und Genuss, die der Bayer in seinem Lied beschwört, wird Braun wohl noch länger vorenthalten. Er kann nicht wie Wecker beobachten, dass der Pizzabäcker ein Rad schlägt. Und es „schminkt“ sich für ihn auch nicht der Mittag zwischen zwei Espressos. 

    Das Leben von Ex-Wirecard-Chef Markus Braun liegt jenseits von Kitzbühel und IT-Kongressen

    Sollte der promovierte Wirtschaftsinformatiker wie Wecker Sehnsucht nach Pinien verspüren, muss er wohl noch länger geduldig sein, um sich an Anblick und Geruch der Bäume weiden zu können. Bis auf Weiteres lautet seine Stadelheim-Lebenswirklichkeit: Bett, Schrank, Tisch, Waschbecken und abgetrennte Toilette. Dieser Rest an Privatheit ist Markus Braun im Gefängnis geblieben. Keine Wochenenden in Kitzbühel mehr, keine Auftritte auf Digital-Kongressen, wo er wie ein exotischer Priester der IT-Revolution im schwarzen Rollkragen-Pullover seine Predigten hielt. Und kein Büro-Leben mehr unter nerdigen Programmierern in der Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München. 

    Brauns Leben spielt sich nun in dem rund 14 Hektar großen Haft-Rechteck hinter der etwa 1400 Meter langen Mauer ab. Hier ist Platz für mehr als 1400 Gefangene. Die Insassen und Beschäftigten nennen sich selbst schon mal ironisch „Stadelheimer“. Braun ist nun auch ein Stadelheimer, obwohl solche Späße nicht seine Sache sind. Auf Pressekonferenzen oder anderen öffentlichen Auftritten huschte kaum ein Anflug eines Lächelns über das Gesicht des unzugänglichen Wieners. Der Manager hat harte Zeit hinter sich, sitzt er doch schon seit 22. Juli 2020 in Untersuchungshaft, lange in Augsburg-Gablingen und nun eben in Stadelheim. 

    Wiederum gibt es eine Parallele zum früheren Audi-Chef, der auch in die JVA im Norden Augsburgs einziehen musste. Braun harrte in dem Gefängnis aber etwa sechs Mal so lange wie Stadler aus. 

    Das Wirecard-Verfahren gegen Markus Braun sprengt alle Dimensionen

    Dabei scheint das Wirecard-Verfahren alle Dimensionen zu sprengen. Als die Staatsanwaltschaft im März dieses Jahres Anklage gegen Braun und zwei weitere, nicht so bekannte frühere Wirecard-Manager erhob, listete sie die enormen Mühen des gigantischen Verfahrens auf. Die Ermittlungen hätten sich im Vergleich zu anderen Wirtschaftsgroßverfahren in München als „außerordentlich schwierig und umfangreich“ gestaltet. Die Zahlen sprechen für sich: Allein in Deutschland kam es auf Initiative der

    Ein Blick in eine Zelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stadelheim in München.
    Ein Blick in eine Zelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stadelheim in München. Foto: Andreas Gebert, dpa

    Braun weiß nun einen der renommiertesten deutschen Anwälte für Wirtschaftsstrafsachen an seiner Seite. Alfred Dierlamm ist seit 2010 auch Professor für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht an der Universität Trier und arbeitet zudem als Sachverständiger des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. In entsprechenden Ranglisten landet die gleichnamige Wiesbadener Kanzlei stets weit vorn. Doch der versierte Jurist sieht sich mit dem Vorsitzenden Richter einem Mann gegenüber, der ein Spezialist auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts ist. Födisch kennt sich bestens mit delikaten Steuer-Fragen aus. Wer wie der Jurist auch mit Cum-Ex-Geschäften, also dem wohl kompliziertesten Thema im weiten Feld der Wirtschaftskriminalität, vertraut ist, sollte für das Wirecard-Verfahren die nötige Ausdauer, Akribie und Gelassenheit mitbringen.

    Ex-Wirecard-Chef Braun hat alle Vorwürfe bisher zurückgewiesen

    Dabei könnte einem Mitangeklagten von Braun eine zentrale Rolle in dem Verfahren zukommen, wird doch erwartet, dass er als Kronzeuge den früheren Konzern-Chef belastet. Oliver B. ist 49 Jahre alt und sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft. Er ist auch ein „Stadelheimer“. Der Angeklagte hat für Wirecard in Dubai gearbeitet und müsste über die dubiosen Asien-Geschäfte des Unternehmens einiges wissen. Interessant dürfte werden, ob Oliver B. glaubhaft machen kann, dass Braun durchaus Kenntnis davon hatte, wie Umsätze erfunden wurden. Bislang hat der Ex-Wirecard-Chef alle Vorwürfe gegen sich stets zurückweisen lassen. Am Ende kommt es auch darauf an, ob es Brauns Verteidigern gelingt, die Seriosität des Kronzeugen in Zweifel zu ziehen. Hier zeichnen sich spannende Verhandlungstage ab, wie wohl auch, wenn zur Sprache kommt, was der dritte Angeklagte wusste: Denn Stephan von E. war einst Chef-Buchhalter des Unternehmens. Der 48-Jährige saß also an der Quelle der Affäre, ist aber anders als die Mitangeklagten der U-Haft entkommen.

    Bleibt es also wirklich bei 100 Prozesstagen? Schon das nicht enden wollende, stundenlange Verlesen der Anklageschrift am Donnerstag mit all den unzähligen Details weckt die Vermutung, das . Dafür spricht auch die umfangreiche Liste an Vorwürfen seitens der Staatsanwaltschaft: Schließlich wird den Angeklagten zur Last gelegt, Bilanzen über mehrere Jahre hinweg geschönt, also falsch dargestellt zu haben. Wirecard hat sich demnach massiv aufgehübscht, eben wirtschaftlich potenter dargestellt, als es das Unternehmen war. Das funktionierte auch lange. Manche Anlegerinnen und Anleger waren vernarrt in das vermeintlich attraktive Unternehmen, das immer noch höhere Börsenkurse versprach. Die künstliche Schönheitsstrategie schien lange aufzugehen. Am Ende stieg Wirecard, was aus heutiger Sicht bizarr anmutet, in den Dax auf, der damals noch aus 30 und nicht wie heute aus 40 Schwergewichten bestand. Die Emporkömmlinge aus Bayern schmissen dabei die Commerzbank aus dem Börsen-Index.

    Doch die Muskelmasse des Unternehmens entpuppte sich als Fake. Mit der Insolvenz schrumpfte sie im Rekordtempo dahin. Nach der Betrachtungsweise der Ankläger klaffte ein tiefes Loch zwischen Sein und Schein, was vielen letztlich als Kern des großen Wirecard-Schwindels, also eines, wenn nicht des größten Wirtschaftsskandals in Deutschland gilt. Am Ende wird Braun und seinen beiden früheren Mitstreitern gewerbsmäßiger Bandenbetrug vorgehalten, wofür ihnen allein Haftstrafen von bis zu zehn Jahren drohen. Demnach war ihnen seit spätestens Ende 2015 bewusst, „dass der Wirecard-Konzern mit den tatsächlichen Geschäften nur Verluste erzielte“. Der Geld-Hunger muss damals groß gewesen sein, um sich weiter als Erfolgsunternehmen anpreisen zu können.

    Wirecard-Prozess: Immer wieder blickt Markus Braun nervös in Richtung Richterbank

    Hier fährt die Staatsanwaltschaft ihr wohl schärfstes Geschütz auf: Nun seien den Geschäftspartnern, allen voran Banken, Unterlagen vorgelegt worden, „die grob falsch waren“. Das sei den Wirecard-Verantwortlichen bewusst gewesen. Doch ihr Plan ging auf: So beschafften sie sich insgesamt Finanzmittel von 3,1 Milliarden Euro. Die Bandenmitglieder um Braun haben nach Darstellung der Staatsanwaltschaft auch deswegen gewerbsmäßig gehandelt, weil sie sich auf diese Weise ihre eigenen Gehälter, zu denen auch Erfolgsprämien zählten, absicherten. Dem früheren Wirecard-Boss wird als einst größter Einzelaktionär eine besondere Motivation unterstellt, das Unternehmen überaus positiv darzustellen. Schließlich habe er Dividenden von mindestens 5,5 Millionen Euro kassiert. 

    Braun steht in dem Münchner Prozess massiv unter Druck. Er blickt immer wieder nervös Richtung Richterbank. Eines könnte ihn aber beruhigen: Immerhin ist der Mann, der alles weiß, weit weg. Seine ehemalige rechte Hand, Jan Marsalek, hat sich wahrscheinlich nach Russland abgesetzt. Es bleibt abzuwarten, ob Brauns Verteidiger den Umstand nutzen werden, um reichlich Schuld auf den Flüchtigen abzuschieben. Solange Marsalek nicht auftaucht, könnte das Spiel aufgehen. 

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