Zuletzt war es ruhiger um den größten Finanzskandal der letzten Jahre – und einen der größten Finanzskandale in Deutschland überhaupt – geworden. Wenn das Wort "Wirecard" fällt, dann dürften aber sehr viele Menschen weiterhin hellhörig werden. Nun rückt der Fall Wirecard erneut ins Rampenlicht. Es begann ein Jahrhundertprozess.
Bis zur Insolvenz war der deutsche Finanzdienstleister und Finanzabwickler ein börsennotiertes Unternehmen mit Sitz in Aschheim. Dann brach ab dem 25. Juni 2020 ein Kartenhaus in sich zusammen, wie es in der Welt der Finanzen beispiellos ist. In den Bilanzen "fehlten" 1,9 Milliarden Euro, die es nach heutigem Ermittlungsstand wohl nie gegeben hat. Wirecard stürzte damit nicht nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Unglück, sondern auch zehntausende Aktionärinnen und Aktionäre, die insgesamt mehr als 20 Milliarden Euro verloren. Auch deswegen wird der Ausgang des Wirecard-Prozesses von vielen Menschen mit Spannung erwartet.
Wann hat der Wirecard-Prozess begonnen?
Der Wirecard-Finanzskandal ist nun bereits mehr als zwei Jahre her. Nach Ermittlungen, welche um die halbe Welt führten, hatte die Staatsanwaltschaft München I Anklage gegen drei der Protagonisten im Fall Wirecard erhoben. Es sollte zu einem Prozess kommen, die vierte Strafkammer des Landgerichts München I ließ die Anklage wenig später zu. Geplant war der Prozessbeginn eigentlich im Herbst 2022. Der Start hatte sich verzögert. Am 8. Dezember 2022 fiel dann aber der Startschuss in München.
Wann fällt ein Urteil im Wirecard-Prozess?
Es könnte ein Marathon-Prozess werden. Die Anklageschrift weist laut der Ermittlungsbehörde 474 Seiten auf. Die Strafkammer des Landgerichts München I hat insgesamt 100 Prozesstage angesetzt. Ein Urteil wird daher erst im Jahr 2024 erwartet.
Wer wird beim Wirecard-Prozess angeklagt? Die Angeklagten im Überblick
Im Wirecard-Prozess wird sich fast alles um Markus Braun drehen. Er ist der frühere Vorstandschef von Wirecard. Der Österreicher saß über zwei Jahren in Augsburg-Gablingen in einem der modernsten Gefängnisse Bayerns. Mittlerweile ist es in Stadelheim in U-Haft. Die Untersuchungshaft wurde verlängert, was zeigt, dass die Vorwürfe gegen den Ex-Manager schwer wiegen. Eine derart lange Untersuchungshaft kann nur angeordnet werden, wenn die zu erwartende Gefängnisstrafe bei einer Verurteilung hoch ist.
Die Staatsanwaltschaft sieht in Braun einen Hauptverantwortlichen für einen der größten Wirtschaftsskandale, die es in Deutschland je gegeben hat. Der 53-Jährige weist alle Vorwürfe zurück und sieht sich als Opfer in dem Finanzskandal um Wirecard. Er beschuldigt vor allem den ehemaligen Wirecard-Vorstand Jan Marsalek. Brauns Landsmann hätte die Staatsanwaltschaft ohne Zweifel ebenfalls gerne angeklagt, Marsalek ist aber seit dem Zusammenbruch des Kartenhauses von Wirecard flüchtig.
Neben Braun wird ein früherer Finanzmanager angeklagt, der ebenfalls alle Vorwürfe von sich weist. Es handelt sich um Stephan von Erffa, den früheren Chef der Buchhaltung. Spannender ist aber die Rolle des dritten Angeklagten: Oliver Bellenhaus stellt den Kronzeugen der Staatsanwaltschaft dar. Er war Statthalter des Unternehmens in Dubai und hatte so etwas wie den Fälschungsbeauftragten des Unternehmens dargestellt. Immer wieder, wenn der Konzern drohte aufzufliegen, soll er eine schnelle Lösung gefunden haben. Heute muss man sagen: fast immer. Oliver Bellenhaus belastet Braun schwer und erhofft sich als Kronzeuge Strafmilderung. Die Angeklagten im Überblick:
- Markus Braun, ehemaliger Vorstandschef von Wirecard
- Oliver Bellenhaus, ehemaliger Geschäftsführer einer Wirecard-Tochterfirma in Dubai
- Stephan von Erffa, ehemaliger Chefbuchhalter von Wirecard
Wirecard-Prozess: Was wird den Angeklagten vorgeworfen?
Den drei Angeklagten wird von der Staatsanwaltschaft München I folgendes vorgeworfen:
- Marktmanipulation
- Unrichtige Darstellung der Wirecard-Bilanzen seit 2015
- Untreue
- Gewerbsmäßiger Bandenbetrug
Wirecard-Prozess aktuell: Braun weist Vorwürfe von sich
Als Braun sein Schweigen brach, wies er sämtliche Vorwürfe der Anklage zurück. "Ich hatte keinerlei Kenntnisse von Fälschungen oder Veruntreuungen", sagte er vor der Kammer des Landgerichts München: "Ich habe mich auch mit niemandem zu einer Bande zusammengeschlossen." Es war seine erste Stellungnahme zu den Vorwürfen seit Prozessbeginn.
Weiter betonte er, die wahren Täter seien andere. Ihm zufolge würden "zwingende Belege" zeigen, dass dem Konzern zwei Milliarden Euro entzogen worden seien.
Braun legte eine umfangreiche Sammlung von Kontoauszügen, E-Mails und anderen Dokumenten vor, die seine These stützen sollen. Die von der Staatsanwaltschaft angeklagten Scheingeschäfte in Milliardenhöhe seien demnach keine Scheingeschäfte gewesen, sondern echt. Der einstige Vorstandschef nannte die Beweislage "erdrückend".
Weiter erklärte Braun, knapp eine Milliarde Euro sei auf Konten der Wirecard-Bank eingegangen – echte Erlöse des angeblich nicht vorhandenen Geschäfts. Außerdem seien an die 900 Millionen Euro Firmengeld an Schattenfirmen überwiesen worden. Laut Braun wurden diese Gesellschaften großteils von Bellenhaus kontrolliert, der als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft auftritt. Brauns Verteidiger fordern die genaue Überprüfung dieser Zahlungsflüsse.
Zudem betonte der einstige Vorstandsvorsitzende, er sei nie in illegale Machenschaften verwickelt gewesen. "Man nutzt das Spielfeld aus, aber man geht niemals über den Spielfeldrand", zog Braun einen Vergleich zum Sport.
Bellenhaus hatte im Münchner Wirecard-Prozess am 11. Januar den zentralen Vorwurf der Anklage umfassend bestätigt. Die angeblichen Milliardenumsätze des 2020 kollabierten Dax-Konzerns mit "Drittpartnern" im Mittleren Osten und Asien waren demnach frei erfunden.
Der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft schilderte am sechsten Prozesstag ausführlich die Fälschung von Geschäftsverträgen und Umsätzen. Über die Milliardenbuchungen auf Treuhandkonten in Südostasiens sagte Bellenhaus: "Das haben wir uns natürlich ausgedacht." Auf die explizite Frage des Gerichts, ob es das Drittpartnergeschäft gab, sagte er: "Ich antworte in aller Deutlichkeit: nein."
Im Sommer 2020 hatte der Zahlungsdienstleister Insolvenz angemeldet, weil 1,9 Milliarden angeblich auf besagten Treuhandkonten verbuchte Euro nicht auffindbar waren. Die "Drittpartner" waren Firmen, die angeblich im Wirecard-Auftrag Kreditkartenzahlungen in Ländern abwickelten, in denen der bayerische Konzern selbst keine entsprechende Lizenz hatte.
Dabei sei das einzige Ziel gewesen, die Bilanzprüfer zu täuschen. "Der Wirtschaftsprüfer brauchte was, und dann entstand die Panik", sagte Bellenhaus: "Es war ein Riesenchaos, es war alles Chaos." Vorstandschef Markus Braun habe nie nachgefragt, wenn er – gefälschte – Verträge unterschrieb.
Die Verteidigung des früheren Vorstandschefs Markus Braun attackierte dagegen den Kronzeugen der Anklage als "professionellen Lügner". Die Geschichte von Braun als Bandenanführer sei eine Gefälligkeitsaussage ohne jeden Realitätsbezug, sagte Brauns Anwalt Alfred Dierlamm am 9. Februar vor dem Münchner Landgericht.
Wirecard-Skandal: Wo ist Jan Marsalek?
Marsalek könnte der Kopf hinter dem Betrug von Wirecard gewesen sein, das behauptet in jedem Fall Braun. Der Österreicher ist seit Juni 2020 auf der Flucht. Von seinem Heimatland aus flog er in die belarussische Hauptstadt Minsk, das haben investigative Recherchen, unter anderem von der Süddeutschen Zeitung, ergeben. Dort verliert sich allerdings die Spur von Marsalek.
Im SZ-Podcast "Wirecard: 1,9 Milliarden Lügen" deckten Journalisten der Zeitung auf, dass sich der 42-Jährige vermutlich in Russland aufhält. Schon zuvor war es naheliegend, dass Marsalek nach Russland floh, da er offenbar Verbindungen zum russischen Geheimdienst unterhält. Viele, die sich mit dem Wirecard-Skandal näher beschäftigt haben, sind der Meinung, dass dieser nur durch Marsalek selbst vollends aufgeklärt werden könnte. Dass er im Wirecard-Prozess aussagen wird, dürfte ausgeschlossen sein. Dazu müsste er sich wohl selbst stellen.
Was macht den Fall Wirecard zu einem Jahrhundertprozess?
Es ist ein Prozess mit einer nie dagewesenen Fallhöhe. Braun ist der erste Ex-Vorstandsvorsitzende eines derart abgestürzten Dax-Konzerns, welcher auf der Anklagebank sitzt. Eine weitere Besonderheit ist das Ausmaß des Prozesses. Zum ersten Prozesstag sind rund 900 Aktenordner zusammengekommen. Außerdem gibt es zahlreiche Schauplätze des Skandals auf der ganzen Welt. Neben dem Sitz in Aschheim unter anderem Dubai, Manila und Singapur.