Auch wenn sich im Ukraine-Konflikt die Situation weiter verschärft hat und auch wenn die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) den russischen Präsidenten Wladimir Putin inzwischen öffentlich der Lüge bezichtigt, soll weiter verhandelt werden. So war es zumindest in den vergangenen Tagen zu hören – noch vor den neuesten Meldungen zu einer russischen Invasion in der Ukraine. Doch was ist von den Maßnahmen zu halten? Und welche wirtschaftlichen Konsequenzen zeichnen sich bereits ab?
Welche Sanktionen sind derzeit vorgesehen?
Während Deutschland symbolträchtig die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 stoppte, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag die zunächst anstehenden Maßnahmen vorgestellt. So will die EU gegen die vorgehen, die an „der rechtswidrigen Entscheidung“ beteiligt waren, also daran, die ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk als unabhängig anzuerkennen und russische Truppen in bestimmte Teile der Gebiete zu entsenden. Gemeint sind zum Beispiel die russischen Parlamentsabgeordneten. Die EU will zudem gegen Banken vorgehen, die russische Militäroperationen und andere Operationen in diesen Gebieten finanzieren.
Ferner plant die Union, den russischen Staat und die russische Regierung „am Zugang zu den Kapital-, Finanz- und Dienstleistungsmärkten der EU zu hindern und so die Finanzierung eskalierender und aggressiver Maßnahmen zu begrenzen“. Und sie will den Handel zwischen den beiden abtrünnigen Gebieten und der EU behindern, „um sicherzustellen, dass die Verantwortlichen die wirtschaftlichen Folgen ihrer rechtswidrigen und aggressiven Handlungen deutlich zu spüren bekommen“. Die USA gehen gegen zwei große russische Banken vor, sanktionieren den Handel mit russischen Staatsanleihen und wenden sich gegen Unterstützer des russischen Machthabers und deren Familien. Russland hat am Mittwoch eine „starke Antwort“ angekündigt, in der Nacht zum Donnerstag gab es die ersten Luftangriffe Russlands – unter anderem auf die Hauptstadt Kiew.
Wie werden die Sanktionen auf Russland wirken?
Stefan Kooths, Vizepräsident und Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel), sagte unserer Redaktion: „Insgesamt sind Sanktionen keine große Erfolgsgeschichte. Rund zwei Drittel der in den vergangenen Jahrzehnten erhobenen Sanktionen haben wenig bis nichts gebracht in dem Sinne, dass sie einen Politikwechsel in dem sanktionierten Land ausgelöst haben.“ Eine Chance, Verhaltensveränderungen herbeizuführen, hätten laut Kooths vor allem „umfassende Sanktionen von breiten Koalitionen gegen kleine Staaten“.
Russland sei in diesem Sinne aber kein kleines Land, und wie einig die Koalition gegen Russland ist, werde sich erst noch zeigen müssen. Kooths meint: „Das Bemühen um Einigkeit war in den vergangenen Wochen sehr groß, insofern haben die westlichen Staaten offenbar verstanden, worauf es ankommt.“ Laut einer Studie des IfW würde ein Handelsstopp von Gas Russland am härtesten treffen. Der hätte langfristig einen Einbruch der russischen Wirtschaftsleistung um knapp drei Prozent zur Folge, ein Handelsstopp von Öl einen Einbruch um gut ein Prozent.
Wie werden die Sanktionen auf die EU und Deutschland wirken?
Ein abrupter Lieferstopp aus Russland als Gegenreaktion wäre laut IfW zwar auch für die Konjunktur in Deutschland und der EU ein „kräftiger Dämpfer“. In den Simulationsrechnungen kommen die Wissenschaftler des Instituts aber zu dem Ergebnis, dass die wirtschaftlichen Schäden bei einem Handelsstopp für Gas und Öl dagegen langfristig für die Bundesrepublik und die EU „äußerst gering“ wären.
Mit Blick auf das gestoppte Zulassungsverfahren von Nord Stream 2 analysiert Kooths: „Bislang konnte ohne diese Leitung genug Gas in die EU geliefert werden, sie ist also für die Versorgungssicherheit hierzulande nicht zwingend nötig.“ Es sei aber nachvollziehbar, dass man Putin nun dieses auch geopolitisch für ihn nutzbare Instrument nicht in die Hand geben wolle. Der viel diskutierte Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsnetzwerk Swift – eine mögliche nächste Maßnahme – würde auch westliche Unternehmen treffen, betont der Wissenschaftler. Und zwar „nicht nur in der Abwicklung des Außenhandels, sondern auch mit Blick auf Zahlungen im Kontext von Direktinvestitionen.“ Zudem, so Kooths, würde Swift, das weltweit von mehr als 11.000 Banken genutzt wird, selbst dadurch geschwächt. Die Maßnahmen gegen Einzelpersonen oder Unternehmen schätzt der Konjunktur-Experte von den wirtschaftlichen Folgen für Dritte als „am ehesten überschaubar“ und damit als „ein prinzipiell effizientes Mittel“ ein. Die Wirksamkeit hänge eben davon ab, wie umfassend diese Sanktionen ausfallen und durchgesetzt würden.
Wie sind die Handelsbeziehungen zwischen der EU, Deutschland, Russland und der Ukraine?
Laut IfW sind die wirtschaftlichen Beziehungen schon durch die Sanktionen im Jahr 2014 – nach der Annexion der Krim – eingebrochen. Dennoch ist die EU nach wie vor Russlands größter Handelspartner. Als Absatzmarkt ist Russland für Deutschland beziehungsweise die EU jedoch weitaus weniger wichtig: Lediglich zwei Prozent der deutschen und vier Prozent der europäischen Exporte gehen nach Russland. Trotzdem ging es aus deutscher Perspektive zuletzt durchaus aufwärts: Der Ost-Ausschuss, die Regionalinitiative der deutschen Wirtschaft für 29 Länder in Ost-, Südosteuropa, im Südkaukasus und Zentralasien, vermeldete für 2021 einen Rekord. Zum ersten Mal übertraf der Gesamtumsatz eine halbe Billion Euro. Der Osthandel habe sich damit dynamischer entwickelt als der gesamte deutsche Außenhandel, hieß es. Zu den wichtigen Partnerländern gehören auch Russland und die Ukraine. Das Handelsvolumen mit Russland stieg 2021 laut Ost-Ausschuss um über 34 Prozent auf knapp 60 Milliarden Euro, das mit der Ukraine belief sich auf 8,5 Milliarden Euro.
Welche Folgen hat die Krise für die Wirtschaft in unserer Region?
Die Ukraine-Krise ruft in der schwäbischen Wirtschaft Verunsicherung hervor, auch wenn sich die unmittelbaren Auswirkungen durch den Konflikt und die verhängten Wirtschaftssanktionen in Grenzen halten. Mit einem Handelsvolumen von 9,4 Milliarden Euro liegt Russland auf Platz 14 der bayerischen Handelspartner. Mehr als 300 Unternehmen aus Schwaben unterhalten regelmäßige Geschäfte mit Russland, berichtet die IHK Schwaben, davon hat rund ein Drittel eine Präsenz in Russland. Die Firmen stammen aus mehreren Branchen: Maschinenbau, Elektrotechnik, Bau, Fahrzeugherstellung, Lebensmittelherstellung. Unternehmen, die in Russland aktiv sind, bewegt der Konflikt stark. „Es gibt durchaus Geschäfte mit Russland, es ist ein relevanter Markt“, sagt Axel Sir von der IHK Schwaben. Die Ukraine ist als Handelspartner weit weniger bedeutsam, sie liegt im bayerischen Ranking auf Platz 44. Die größte Sorge der schwäbischen Wirtschaft generell ist aber, dass der Konflikt zu einem weiteren Anstieg der sowieso hohen Energiepreise oder gar einem Lieferstopp führt.
Wie hoch sind die Energiepreise durch den Konflikt gestiegen? Ist die Gasversorgung bedroht?
Die Energiebörsen haben auf den Konflikt merklich reagiert: Nachdem Deutschland am Dienstag angekündigt hatte, die Pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen, ist der Gaspreis für Lieferungen im kommenden Monat um fünf Euro pro Megawattstunde gestiegen. Der Preis für aktuelle Lieferungen liegt jetzt bei rund 80 Euro. Der Energieversorger Eon warnt vor gravierenden Folgen für die Industrie, sollten Lieferungen aus Russland ausbleiben: „Einige Betriebe müssten Stand heute von der Versorgung abgeschaltet werden“, sagte Eon-Chef Leonhard Birnbaum. Da das Frühjahr naht, ist die Gefahr zwar unmittelbar nicht so groß. Deutschland könnte einen Ausfall aller russischen Gasimporte zwar in den nächsten Tagen und Wochen überstehen, meint Sebastian Bleschke vom Branchenverband der Speicherunternehmen Ines. Das Ende der Heizperiode ist schließlich fast erreicht. Bedingung sei, dass die Temperaturen mild blieben und ausreichend Flüssigerdgas für den EU-Binnenmarkt verfügbar sei.
Wie schätzt der bayerische Wirtschaftsminister die Folgen der Krise für die Energiepreise ein?
Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) sagte unserer Redaktion: „Mit dem Ukrainekonflikt steigen natürlich die Gaspreise und in Folge auch Strompreise und allgemein die Energiepreise weiter, obwohl ich nicht an den russischen Lieferungen zweifle.“ Tatsächlich hat Russland trotz früherer Krisen immer die Verträge erfüllt und Gas geliefert. Würde Russland die Lieferverpflichtungen diesmal nicht einhalten, würde es sich selbst „massiv schaden“, meint Aiwanger. Allerdings seien die Börsen und Märkte „zunehmend nervös“. Aiwanger sagt zudem: „Die Bundesregierung und die Energieversorger haben es versäumt, die Gaslager rechtzeitig zu füllen. Wir müssen künftig bei allen Produkten – von Baumaterial über Energie bis zu gesundheitlichen Schutzausrüstungen und Lebensmitteln – auf mehr Vorrat und Eigenerzeugung setzen.“ Er fordert, „den Ausbau der eigenen Energieerzeugung bis hin zur Speicherung von Wasserstoff bis zu Pumpspeicherwerken“ voranzutreiben. Nachwachsende Energieträger wie Holz dürften nicht länger „von Bundesumweltseite“ in Verruf gebracht werden. Der Bund müsse „Energiesteuern und Netzentgelte wegnehmen soweit rechtlich möglich und die Pendlerpauschale sofort erhöhen.“
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