Startseite
Icon Pfeil nach unten
Wirtschaft
Icon Pfeil nach unten

Verkehr: Wie die Japaner es schaffen, Autoland zu sein – und dennoch freie Straßen zu haben

Verkehr

Wie die Japaner es schaffen, Autoland zu sein – und dennoch freie Straßen zu haben

    • |
    Tokio ist dicht besiedelt, trotzdem fließt der Verkehr. Was machen die Japaner besser?
    Tokio ist dicht besiedelt, trotzdem fließt der Verkehr. Was machen die Japaner besser? Foto: Taidgh Barron, dpa

    Die Straßen von Tokio wären eigentlich prädestiniert dafür, zu einem Moloch aus Autoblech, Hupen und Luftverschmutzung zu verkommen. Mit rund 37 Millionen Einwohnern ist der Großraum die bevölkerungs- und wirtschaftsstärkste Metropolregion der Welt, die Bevölkerungsdichte ist um die Hälfte höher als die von Berlin oder Hamburg. Aber Tokio erstaunt nicht durch Chaos, sondern Geschmeidigkeit. 

    Autos bewegen sich hier im Schnitt ähnlich schnell voran wie im viel weniger dicht besiedelten Berlin. In Sachen Luftqualität zählt Tokio laut der Plattform IQAir, die zusammen mit dem UN-Umweltprogramm und Greenpeace 101 Städte vergleicht, sogar zu den führenden Metropolen der Welt. Außerdem fallen japanische Städte durch ihr hohes Maß an Verkehrssicherheit auf.

    Das alles ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Japan zu den führenden Autonationen gehört: Mit Toyota, Nissan und Honda sind drei der zehn weltweit umsatzstärksten Autobauer hier zu Hause. Hinzu kommen Marken wie Suzuki, Daihatsu, Subaru, Mazda und Mitsubishi, außerdem Motorradhersteller wie Kawasaki oder Yamaha. Nicht ohne Grund bezeichnet Japans Wirtschaftsministerium die Autobranche als „die Schlüsselindustrie überhaupt“ für die Volkswirtschaft.

    In Tokio werden nur zwölf Prozent der Wege mit dem Pkw zurückgelegt

    Doch der Reifenabdruck, den diese weltweit führenden Motorenwerke in ihrem Heimatland hinterlassen, ist überraschend gering. Man sieht es auch an diversen Straßenrändern, an denen praktisch nie ein Auto parkt. Lässt sich von Tokio etwas lernen?

    Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen ist weltweit berühmt und zuverlässig.
    Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen ist weltweit berühmt und zuverlässig. Foto: Soeren Stache, dpa

    Nur rund zwölf Prozent des Personenverkehrs im Großraum Tokio wird im Pkw zurückgelegt. In London und Madrid liegt dieser Wert bei je 37 Prozent, in Brüssel bei 53 und in Dallas gar bei 90 Prozent. „Den Leuten hier ist ziemlich klar, dass die Bahn das schnellste und zuverlässigste Transportmittel ist“, sagt Takeshi Yoshizako von der Umweltbehörde Tokios. Dass die Tokioter U-Bahnen jeden Morgen vor Menschen förmlich überquellen, nimmt man in Kauf. 

    Auf 100 Bewohner in Tokio kommen trotz hoher Durchschnittseinkommen 22 Pkw. Die allermeisten Fahrzeuge auf Tokioter Straßen sind Busse, Lastwagen und Taxis. Zum Vergleich: In Berlin sind pro hundert Einwohner rund 34 Pkw angemeldet, mit über die letzten Jahre steigender Tendenz.

    Jeder Bewohner muss nachweisen, dass er einen Parkplatz für sein Auto hat

    Ein Grund dafür, dass es in Tokio weniger Autos gibt also anderswo, sind Regulierungen. Um ein Auto anzumelden, muss man einen Beweis erbringen, dass man für das Fahrzeug auch einen festen Parkplatz in seinem Wohnbezirk hätte. Die Regel stammt aus dem Jahr 1962, einer Zeit, als die Straßen Tokios noch anders aussahen. Ähnlich wie Deutschland erlebte Japan ein Nachkriegswirtschaftswunder. 

    Autos waren Symbol des Fortschritts, aber vor lauter Fortschritt stockte zusehends der Verkehr. „Der Beschluss, die Zahl der Autos auf diese Weise quasi zu deckeln, war schon kontrovers“, sagt Takeshi Yoshizako von der Umweltbehörde. Aber er sagt auch: „Alle sahen ein, dass er nötig war. Noch in meiner Kindheit in den 1970er Jahren hängte man seine Wäsche nicht draußen auf. Die Luft war zu dreckig.“

    Also wurde der Verbreitung des Autos eine Schranke verpasst. Was für Menschen in Tokio offensichtlich klingen mag, ist anderswo – zum Beispiel in der Autonation Deutschland – nahezu utopisch: Seit Jahren tut man sich in Deutschland schwer damit, ein Tempolimit einzuführen. Die Zulassung eines Autos an den Zugang zu einem Parkplatz zu knüpfen, ist nicht Gegenstand ernsthafter politischer Debatten. Als Grund wird in Deutschland oft der Einfluss der Autoindustrie genannt. Und Japan?

    Strengere Normen für Schadstoffemissionen machten die Luft in Tokio sauberer

    In den Augen von Politikprofessor Koichi Nakano spielt das enge Verhältnis zwischen Regierung und Industrie eine entscheidende Rolle. Zwar seien diese häufig ein Quell der Korruption, da viele Staatsdiener früher oder später in einen lukrativen Industriejob wechseln. Manchmal bewirken die engen Beziehungen aber auch Gutes: „Es gibt sehr viel Austausch“, so Nakano. 

    Neben der Regel, die Zulassung von Autos an Parkplätze zu koppeln, dient eine Einführung zur Kontrolle von Schadstoffemissionen als Beispiel. Im Jahr 2003 verlangten Tokio und die umliegenden Präfekturen strengere Normen. „Der Widerstand aus der Industrie und auch der Bevölkerung war zuerst sehr stark“, erinnert sich Takeshi Yoshizako im Tokioter Rathaus. Die Regierung plante, von Fahrzeughaltern neue Filter zu verlangen und alte Fahrzeuge allmählich aus dem Verkehr zu ziehen. „Der Kompromiss war am Ende, dass die Regierung die Installation neuer Filter subventionierte.“ Binnen zehn Jahren halbierte sich die durchschnittliche Feinstaubkonzentration. Heute liegt die Konzentration der besonders schädlichen Partikel PM2,5 bei fünf Mikrogramm pro Kubikmeter – der Wert in Berlin ist doppelt so hoch. 

    Gibt es weniger Fahrzeuge, bleibt Fußgängern mehr Raum.
    Gibt es weniger Fahrzeuge, bleibt Fußgängern mehr Raum. Foto: Jan Woitas, dpa

    „Wenn die Autoindustrie verstanden hat, dass die Regierung eine Sache ernst meinte, hat sie darin immer wieder eine Chance erkannt“, so Koichi Nakano. In den späten 1990er Jahren wurde Toyota mit dem Prius zum Technologieführer bei Hybridantrieben, entsprechend ist es heute mit Wasserstoffautos. 

    Wer als Autofahrer 70 Jahre alt wird, muss seine Reaktionsfähigkeit testen lassen

    Ein Vergleichsreport der OECD zur Verkehrssicherheit zeigt für das Jahr 2020, dass Japan pro 100.000 Personen nur 2,7 Verkehrstote zählte. Die USA nahmen mit fast zwölf Verkehrstoten im selben Zeitraum den Spitzenplatz ein, aber auch in Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich starben mehr Menschen als in Japan. 

    Die häufigste Gefahr stellen heute Autofahrer im Alter von mindestens 65 Jahren dar, deren Zahl jährlich steigt. Aber auch hier gibt es in Japan eine Lösung: Wer 70 wird, muss einen neuen Test zur Reaktionsfähigkeit ablegen. 

    Im Vorpandemiejahr 2019 gaben zudem erstmals mehr als 600.000 Menschen ihren Führerschein freiwillig ab. Im vergangenen Frühjahr gehörte mit Satoshi Ninoyu der Vorsitzende der staatlichen Agentur für öffentliche Sicherheit dazu. Der mittlerweile 78-jährige Parlamentsabgeordnete wollte als Vorbild dienen. „Ich kann doch auch die U-Bahn oder ein Taxi nehmen“, erklärte Ninoyu im Parlament. Auch dies zählt in Japan als wichtige Tugend: die eigenen Bedürfnisse nach Komfort nicht über diejenigen der Gesellschaft stellen.

    Sommerserie: Mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland gehe es bergab, behaupten Unionspolitiker und Wirtschaftsverbände. Unabhängig davon, ob das stimmt oder nicht, haben wir uns gefragt: Was kann Deutschland von anderen Ländern lernen? Im ersten Teil ging es um Griechenland, im zweiten um die USA.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden