"Freiheitsmobilität" steht in Großbuchstaben auf einer schmalen Glasfront in der Reinhardtstraße in Berlin-Mitte. Der Hausherr öffnet die Tür und erklärt, was gemeint ist: "Das ist unsere Antwort auf den Begriff Freiheitsenergie, den FDP-Chef Christian Lindner seit Beginn des Ukraine-Kriegs für die erneuerbaren Energien verwendet." Lächelnd fügt Burkhard Stork an: "Fahre Fahrrad, ärgere Putin. Zur Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen trägt nämlich auch bei, wer mit dem Rad oder Pedelec fährt." Der 49-Jährige ist Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV), der deutsche Firmen, aber auch große Importeure vertritt.
Trend zum E-Bike verstärkt sich noch
Eben erst ist die traditionsreiche Vereinigung – viele große Namen der Industrie wie Miele oder Opel haben ihre Wurzeln in der Fahrradherstellung – aus dem beschaulichen Bad Soden im Taunus nach Berlin gezogen, um näher an der Hauptstadtpolitik zu sein. Gleich gegenüber etwa hat die FDP ihre Bundeszentrale, so lässt sich mit dem Schriftzug am Fenster eine erste Duftmarke setzen. Weitere sollen folgen, denn ein wenig fühlt sich die Branche als Stiefkind der Politik, das im Schatten der übermächtigen Autoindustrie oft übersehen wird. Dabei zeige sich gerade jetzt wieder, welchen wichtigen Beitrag die Zweiradindustrie zur Verkehrs- und Energiewende leisten könne, sagt Stork: "Wer aufs Rad umsteigt, leidet nicht unter den explodierenden Spritpreisen. Und schont noch dazu das Klima."
Auch bei den immer populäreren E-Bikes oder Pedelecs, die mit elektrischer Unterstützung unterwegs sind, sei das Sparpotenzial im Vergleich zum Auto erheblich. "Die meisten Autofahrten finden auf kurzen Strecken zwischen 500 Metern und wenigen Kilometern statt. Die Mehrzahl der Pendler hat eher kurze Wege. Fahrräder oder Pedelecs sind dafür ideal, werden aber in der verkehrspolitischen Debatte oft vergessen." Der Ausbau von Bus- und Bahnstrecken sei zwar richtig, so Stork, er genüge aber nicht. "So engmaschig kann das öffentliche Verkehrsnetz gar nicht gewoben werden, dass es jede Strecke abdecken kann."
Durch den Trend zur elektrischen Unterstützung beim Treten ist das Rad in den vergangenen Jahren für immer mehr Menschen zur ernsthaften Alternative zum Auto geworden – zumindest auf den kürzeren Distanzen. Das Pedelec sei "Treiber der Elektromobilität", sagt der Branchen-Lobbyist, doch die Politik habe das kaum wahrgenommen: "Wenn Ex-Kanzlerin Angela Merkel immer vom Ziel gesprochen hat, eine Million Elektrofahrzeuge auf die deutschen Straßen zu bringen, hat mich das geärgert. Es gab ja längst viel mehr, die meisten aber eben mit zwei Rädern." Während der Corona-Pandemie habe der Trend zusätzlichen Schub bekommen; viele Menschen hätten das Radeln an der frischen Luft überfüllten Zügen vorgezogen, schon wegen der Ansteckungsgefahr. Zudem hätten viele entdeckt, dass im Urlaub eine Tour auf heimatlichen Radwanderwegen mindestens genauso schön sei wie eine Flugreise. Stork: "Auch das schont das Klima, ist noch dazu gut für Gesundheit und Wohlbefinden."
Verkaufszahlen bei E-Bikes lagen im ersten Corona-Jahr auf Rekordhoch
So erklärt sich, warum das erste Corona-Jahr 2020 für die Branche laut ZIV ein absolutes Rekordjahr war. 2021 habe fast nahtlos daran anknüpfen können. Die Zahl der verkauften E-Bikes ist sogar nochmals von 1,95 auf zwei Millionen gestiegen. Bei den normalen Fahrrädern ging die Zahl zwar von gut drei auf 2,7 Millionen Stück zurück, doch das lag dem Verband zufolge vor allem am pandemiebedingt ausbleibenden Nachschub. Inzwischen seien die Lager wieder voll, jeder Kunde bekomme in diesem Frühjahr das Rad, das er sich wünsche.
Geht es rein nach der Statistik, verfügt fast jeder der rund 83 Millionen Einwohner Deutschlands über ein Fahrrad, etwa jedes zehnte hat inzwischen einen Akku. "Es gibt 8,5 Millionen E-Bikes, aber nicht einmal eine Million Elektroautos in Deutschland", sagt der ZIV-Geschäftsführer. Im Gegensatz zur Autoindustrie komme seine Branche ohne üppige staatliche Zuschüsse aus, wie es sie etwa für die Käufer von Elektroautos gibt. "Solche Subventionen wollen wir gar nicht, unsere Produkte setzen sich durch, weil die Menschen sie wollen", sagt er. Aber zumindest Gleichbehandlung wünsche sich der Zweiradsektor, der auch Überschneidungen mit der Autoindustrie aufweist. Zulieferer wie Bosch oder Mahle etwa liefern Antriebe für Pedelecs, Reifen von Continental finden sich an Autos genauso wie an Rädern. Stork: "Wenn für Kraftstoffe nur ein Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent fällig wird, ist es völlig unverständlich, dass das nicht für Pedelecs und Fahrräder gilt. Im neuen Entlastungspaket der Bundesregierung spielt das Thema Fahrrad überhaupt keine Rolle; da muss dringend nachgebessert werden."
Verband will die Trennung von Autospuren und Fahrrad-Bahnen
Wichtiger noch ist der Zweiradbranche eine andere Forderung an die Politik. "Jetzt muss ganz schnell das Verkehrswegenetz an den steigenden Radverkehr angepasst werden", sagt Stork. Nicht vorhandene, zu schmale oder lückenhafte Fahrradspuren stellten ein gewaltiges Unfallrisiko für Rad Fahrende dar. Mehrere Jahrzehnte lang habe die Verkehrsplanung diese fast völlig ignoriert. Erst seit einigen Jahren werde bei neuen Straßenprojekten mehr auf eigene Radspuren geachtet, doch das sei noch kaum spürbar. "Weniger als ein Prozent der Straßen verfügen über eigene Fahrradspuren", schätzt Stork. Aufgepinselte Markierungen, die, wenn sie gestrichelt sind, nur Empfehlungscharakter hätten, lässt er nicht gelten. Es müssten schon durch bauliche Maßnahmen wie Poller geschützte, eigene Spuren sein. Da sich Straßen in Städten nicht beliebig verbreitern ließen, sollten notfalls eben ganze Autospuren zu Fahrrad-bahnen werden, was für Autos mehr Einbahnverkehr bedeuten würde. Stork sagt: "Verkehrsminister Volker Wissing muss jetzt ein Konzept vorlegen, wie möglichst rasch flächendeckend sichere und vom Autoverkehr abgetrennte Fahrradspuren geschaffen werden können."
Erst allmählich, sagt Stork, komme in der Politik an, welche wachsende Bedeutung der Zweiradsektor auch als Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber habe. Dem ZIV zufolge wurden im vergangenen Jahr 2,4 Millionen Räder im Wert von fast 6,6 Milliarden Euro in Deutschland hergestellt, dazu große Mengen an Teilen und Zubehör. Rund 300.000 Arbeitsplätze biete die Branche in der Produktion sowie bei Händlern und Werkstätten. Etliche Firmen verlagern laut dem Verbandschef inzwischen ihre Produktion nach Deutschland zurück, fänden aber teils hier gar nicht genügend Mitarbeiter. Weltweit integrierte Lieferketten würden jedoch weiter bestehen, was auch in Ordnung sei, denn zu den internationalen Fahrrad-Hochburgen zählten Demokratien wie Japan oder Taiwan. Der Begriff "Freiheitsmobilität" habe also gleich in mehrerlei Hinsicht seine Berechtigung, sagt Burkhard Stork. Er hoffe nun, dass die neue Bundesregierung das auch erkenne: "Dass der Grünen-Politiker Cem Özdemir mit dem E-Bike zur Vereidigung als Landwirtschaftsminister ins Schloss Bellevue geradelt ist, war schon mal ein starkes Zeichen."