Aus Sicht des Experten für Reaktorsicherheit ist ganz klar, was gegen eine Laufzeitverlängerung der drei deutschen Kernkraftwerke spricht. „Nichts“, sagt Uwe Stoll. Zumindest, sofern es um einen Streckbetrieb und die rein technische Bewertung gehe. Stoll ist technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gGmbH, Deutschlands zentraler Fachorganisation zur Frage der Sicherheit von Nuklearanlagen. Er kann sich vor Anfragen kaum noch retten, seit angesichts drohender Energieengpässe die Debatte über eine Laufzeitverlängerung der drei verbliebenen deutschen Meiler Neckarwestheim II, Isar II und Emsland entbrannt ist. Hintergrund der Debatte: Weil in Deutschland bis zu 15 Prozent des Stroms noch durch Gaskraftwerke produziert werden, könnte Gas gespart werden, wenn die Atomkraftwerke noch länger Strom produzieren als vorgesehen.
Für einen Weiterbetrieb der AKWs muss die Politik das Atomgesetz ändern
Stoll macht dabei Zweierlei unmissverständlich klar: Erstens müsse die Politik das Atomgesetz anfassen, das ein Betriebsende der Meiler spätestens Ende 2022 vorschreibt – selbst für den Fall einer Verlängerung im Streckbetrieb um nur wenige Wochen. Nach aktueller Gesetzeslage wäre auch dieser rechtlich nicht zulässig. Und zweitens würde auch das nur ein paar Wochen Verlängerung bedeuten, im Fall von Isar II vielleicht noch ein halbes Jahr. „Nach den vom baden-württembergischen Umweltministerium bekannt gegebenen Daten ist Neckarwestheim am 31. Dezember bei 70 Prozent Leistung“, sagt Stoll zu dem Meiler im Südwesten. „Die sind also schon mit reduzierter Leistung im Streckbetrieb.
Ein solcher Streckbetrieb lässt sich mit den Brennelementen, die im Kern sind, nicht mehr beliebig fortsetzen. Der ginge dann vielleicht noch bis maximal Anfang Februar“, schätzt Stoll. Mehr gehe mit den Brennelementen, die aktuell im Reaktor seien, ohnehin nicht. „In Neckarwestheim gibt es noch ein paar Brennelemente im Lager. Würde man aus diesen und einigen weiteren Brennelementen, die schon im Einsatz waren, einen neuen Kern zusammenstellen, wäre vielleicht noch ein Betrieb bis Ende März möglich“, glaubt Stoll. Und in jedem Fall wäre dies zunächst mal Ende der Fahnenstange.
In allen drei deutschen Meilern vom Reaktortyp „Konvoi“ wird ein spezieller Typ von Brennelementen eingesetzt, der von Herstellern in Schweden und Deutschland produziert wird. „Die sind dort nicht mehr auf Lager, weil die Kraftwerke ja laut Gesetz zum Jahresende abgeschaltet werden. Das heißt, ich müsste die ganze Fertigung für solche Brennelemente erst wieder hochfahren. Und das dauert seine Zeit. Ich würde sagen, wenn die Hersteller der Produktion Priorität einräumen würden, dann dauert das im günstigsten Fall neun bis zwölf Monate. Viel schneller wird das nicht gehen“, schätzt der Reaktorexperte. „Wenn die Regierung zu dem Ergebnis kommt, die Stromerzeugung in diesen Kraftwerken auch noch im übernächsten Winter zu benötigen, dann braucht man frische Brennelemente. Und dann ist die Frage, wer von den Herstellern genügend Vertrauen hat, um in Vorleistung zu gehen und mit der Fertigung zu beginnen.“
Die Bundesregierung wartet nun auf das Ergebnis des zweiten "Stresstests"
Denn am Ende, so Stoll, müsse irgendjemand dafür bezahlen, wenn die Verlängerung dann politisch doch wieder gekippt werde. Dass die Kernkraftwerksbetreiber im Fall einer Laufzeitverlängerung die gesamte Verantwortung – was die Kosten und das Betriebsrisiko betrifft – bei der Politik beziehungsweise bei der Bundesregierung sehen, haben sie bereits klargemacht. Dort aber wird nun auf das Ergebnis des zweiten „Stresstests“ gewartet, in dem das Bundeswirtschaftsministerium die Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland derzeit unter verschärften Mangelbedingungen überprüfen lässt. Ein Ergebnis wird für Ende August erwartet.
Was die Sicherheit eines Weiterbetriebs betrifft, spricht aus Expertensicht zunächst einmal wenig dagegen. Für Stoll sind die drei deutschen Reaktoren in dieser Hinsicht auf gleichem Niveau. „Nach dem Atomgesetz ist alle zehn Jahre die sogenannte periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) durchzuführen. Davon wurde für die Anlagen, die spätestens drei Jahre später abschalten, eine Ausnahme gemacht“, so Stoll. „Ob das bei einem Streckbetrieb auch noch zwei oder drei Monate länger tolerabel wäre, hätte dann wiederum der Gesetzgeber zu entscheiden, genauso wie die Frage, wie das gegebenenfalls bei einer längeren Laufzeit wäre“, erläutert er.
In Neckarwestheim wurde erst vor kurzem ein Sicherheitscheck gemacht
Aber ob ein Kraftwerk im Betrieb sicher ist, wird laut Stoll ohnehin nicht mit der PSÜ festgestellt, sondern bei den kontinuierlichen Sicherheitsprüfungen im laufenden Betrieb. Dazu wird dann zum Beispiel geprüft, ob der Reaktorbehälter oder die Rohre Risse haben und Schäden aufweisen. Neckarwestheim hat im Juli gerade seinen letzten Sicherheitscheck vor der endgültigen Abschaltung hinter sich gebracht. Dazu gehörten rund 2000 Prüf- und Instandhaltungsarbeiten, wie der Betreiber EnBW zum Abschluss mitgeteilt hatte – dem Weiterbetrieb steht außer dem Gesetz zunächst nichts entgegen.
Zumindest in der 3500-Einwohner-Gemeinde Neckarwestheim sieht man einstweilen sowohl der Debatte um eine Laufzeitverlängerung als auch der Frage nach der Sicherheit eher gelassen entgegen. „Die Anlage ist im Ort anerkannt, sie gehört seit 40 Jahren zum Ortsbild. Die Menschen stehen ihr insgesamt positiv gegenüber, viele arbeiten dort“, sagt Bürgermeister Jochen Winkler. „Eine Verlängerung würde bei uns jedenfalls keinen Proteststurm auslösen.“