Zählt man die größten Zukunftsprojekte Deutschlands auf, gehört Stuttgart 21 dazu. Unumstritten war das Jahrhundertprojekt nie, wenn es aber in Betrieb geht, wird es nicht nur bundesweite Aufmerksamkeit auslösen, sondern soll auch die Reisezeiten von rund zehn Millionen Fahrgästen pro Jahr verkürzen. Herzstück des Projekts ist das neue Bahnhofsgebäude in Stuttgart, ein Tiefbahnhof, der sich auf 900 Metern Länge und 80 Metern Breite erstreckt. Um freie Flächen und einen Park zu erhalten und aus dem früheren Sackbahnhof einen Durchgangsbahnhof zu machen, hat man acht Gleise in den Untergrund verlagert. Das Tageslicht soll über Kelchstützen ins Innere geleitet werden, sodass auf den Bahnsteigen eine helle Atmosphäre entsteht. Die markanten Lichtaugen, die die Kelche gegen Wind und Wetter schützen, werden dabei von einem Unternehmen aus unserer Region gefertigt, von der Seele-Unternehmensgruppe in Gersthofen. Stuttgart 21 ist dort zu einem Projekt der Superlative geworden, das das Unternehmen für Monate auslastet und bei dem es auf Präzision und Qualität ankommt.
Wie ein ins Gigantische vergrößerter Kartoffelchip steht die Stahlkonstruktion eines der Lichtaugen in einer kirchenschiffhohen Halle des Unternehmens in Gersthofen. Die heiße Phase des Projekts hat begonnen. Noch ist der Stahl nicht lackiert, Arbeiter messen, schweißen, flexen an der metallenen Oberfläche. Rund 40 Tonnen schwer ist allein die Stahlkonstruktion, 16 Meter im Durchmesser. Einmal montiert, werden die Lichtaugen einen Durchmesser von 21 Metern haben und durch ihre leichte Biegung 4,30 Meter in die Höhe ragen. Die Lichtaugen haben einen facettenartigen Aufbau, wie ein Schachbrett. Sie bestehen aus 120 Knoten und 264 Stäben. In das Raster werden später die Glaspakete eingebaut, 145 pro Lichtauge. Eine Halle weiter läuft die Produktion dieser Gläser auf Hochtouren.
Die Lichtaugen für Stuttgart 21 sollen 100 Jahre halten
Insgesamt 27 Lichtaugen baut Seele für den neuen Stuttgarter Bahnhof. Sie werden eines der markanten Merkmale des Gebäudes sein. 23 davon sind gebogen, vier flach und begehbar. Um den Auftrag in überschaubarer Zeit stemmen zu können, fertigt Seele parallel in Gersthofen und am Standort in Pilsen. Während die ersten Stahlbausegmente bereits auf der Baustelle eingebaut werden, beginnt für die anderen erst die Produktion in den Werkshallen. Pro Monat, erklärt Seele-Geschäftsführer Andreas Hafner, soll im Schnitt ein Lichtauge fertig werden. Der Stahl stammt aus deutscher Produktion, die Qualitätsanforderungen der Bahn sind hoch. „Die Lichtaugen sind auf eine Lebensdauer von 100 Jahren ausgelegt“, sagt Hafner.
Seele ist erfahren in Spitzenarchitektur, Stuttgart 21 ist aber auch für das Unternehmen einzigartig. „Das Projekt wird bereits seit Anfang der 90er Jahre entwickelt, es hat eine lange Geschichte und mit Christoph Ingenhoven einen renommierten Architekten. Uns war bewusst, dass hier etwas Besonderes entsteht“, sagt Hafner. „Die Komplexität liegt in der Geometrie der gebogenen Lichtaugen. Nichts ist hier gerade, nichts gleich, es ist eine Sonderkonstruktion“, sagt er. Den Auftrag erhielt Seele im Sommer 2021. Der Deutschen Bahn zufolge bewegt sich das Auftragsvolumen für die Lichtaugen und Gitterschalen insgesamt bei einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag. Für Seele bedeutet es Beschäftigung für Monate. Das Projekt laste das Unternehmen derzeit zu 80 Prozent aus, sagt Hafner.
Stuttgart 21 ist ein besonderes Projekt für die Seele-Gruppe
Stolz ist man darauf, dass die Wertschöpfung vor allem im eigenen Unternehmen erfolgt. Von der Stahlkonstruktion über die Aluminiumprofile bis zum Glas erfolgt die Herstellung in der Gruppe. Nur einzelne Elemente wie Gummidichtungen oder die Elektronik für die Entrauchungsanlagen werden zugeliefert. Die Lichtaugen sind auch elektrisch komplexe Bauwerke, da sie mit Klappen und eigenen Schaltschränken ausgestattet sind, um den Bahnhof zu belüften und im Notfall Rauch abzuleiten. Gegen Kälte und Schnee im Winter werden die Lichtaugen zudem beheizt. „Ein Lichtauge vereint auf kleinstem Raum alle Anforderungen einer komplexen Fassade“, sagt Designchef Benjamin Peter. „Über die klassischen Anforderungen einer Stahl-Glas-Konstruktion hinaus spielen Belüftung und Entrauchung eine immens wichtige Rolle“, erklärt er.
Genauso wichtig wie Konstruktion und Qualität in der Produktion ist am Ende aber die Logistik auf der Baustelle. Zur reibungslosen Montage gehöre eine minutengenaue Anlieferung der benötigten Materialien. Fast 40 Tonnen ist allein ein Stahltragwerk schwer. Da ist nicht am Stück zur Baustelle transportiert werden kann, wird es in acht Teile zerlegt und dort zusammengesetzt. Jedes der hundertfachen Glas- und Aluminium-Elemente bekommt eine feste Nummer. Das Unternehmen hat bei der Montage diesen Herbst mit einem Element begonnen, in Hochzeiten sollen aber bis zu zehn Lichtaugen parallel installiert werden. Rund 200 bis 250 Beschäftigte arbeiten dann auf der Baustelle: Schweißer, Glaser, Metallbauer, Klebefachingenieur, Mechatroniker, Baustellenlogistiker und Bauleiter. „Eine solche Baustelle in dieser Geschwindigkeit aufzubauen und auf dieses Topniveau zu bringen, war eine echte Herausforderung“, sagt Bauleiter Martin Hillebrand.
Um bei Wind und Wetter arbeiten zu können, überspannt ein Dach die Baustelle. Und noch ein Novum gibt es: Statt auf einem Gerüst stehen die Beschäftigten auf einem sehr festen Sicherheitsnetz, das unter dem Lichtauge eingezogen wird, damit der unterirdische Ausbau der Gleisanlagen parallel erfolgen kann.
Lichtaugen für den Stuttgarter Bahnhof entstehen in Gersthofen
Die Seele-Gruppe ist bereits bei anderen renommierten Architektur-Projekten zum Zug gekommen, unter anderem der Europäischen Zentralbank oder dem Apple Store in New York. Große Aufmerksamkeit bekam Seele zuletzt für den Bau des gigantischen LED-Bildschirms im Hightech-Konzertsaal „Sphere“ in Las Vegas. Das 1984 gegründete Unternehmen zählt weltweit rund 1000 Beschäftigte, die Gruppe erwirtschaftet rund 250 Millionen Euro Umsatz im Jahr.
Trotzdem blickt man bei Seele mit besonderen Augen auf Stuttgart 21. „Dies ist ein Meilenstein der Firmengeschichte“, ist Geschäftsführer Andreas Hafner überzeugt.