Dass es dringlich ist, hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am Dienstag in Berlin besonders deutlich gemacht, als er seine Industriestrategie vorlegte. Das 57-Seiten-Papier steht unter dem Leitsatz "Industriepolitik in der Zeitenwende: Standort sichern, Wohlstand erneuern, Wirtschaftssicherheit stärken" und will als Blaupause dafür dienen, "Deutschland als starken Industriestandort in seiner ganzen Vielfalt zu erhalten". Vom Weltkonzern über den so zentralen Mittelstand bis hin zum Kleinbetrieb. Dass es dafür einiger Anstrengungen bedarf, die weit über die laufende Legislaturperiode hinaus zu unternehmen sind, gehörte dabei zu den Kernbotschaften des grünen Spitzenpolitikers. Denn, so Habeck: "Bequemlichkeit können wir uns nicht mehr leisten."
Habeck wirbt in der explizit als Diskussionsbeitrag gedachten Analyse seines Hauses, die im Kabinett noch nicht abgestimmt ist, für einen erheblichen Ausbau erneuerbarer Energien, weniger Bürokratie und eine beschleunigte Einwanderung von Fachkräften. Außerdem schlägt er Steuererleichterungen, neue Investitionszuschüsse sowie Anreize für Menschen vor, die im Rentenalter weiter arbeiten möchten. Und natürlich wirbt Habeck – erneut und nachdrücklich – für den zwar von der SPD-Bundestagsfraktion gewollten Industriestrompreis; Bundeskanzler Olaf Scholz vermied bei der IG Metall in Frankfurt wenig später erneut eine klare Zusage dazu. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt ihn seit Langem ab. In dem Habeck-Papier heißt es erneut: "Wir müssen die Härten des Übergangs zu einem klimaneutralen Energiesystem glätten und Unternehmen, die hier dauerhaft wettbewerbsfähig produzieren können, eine Brücke bauen." Seit Mai wirbt der Grüne dafür. Ob der Industriestrompreis aber tatsächlich kommt? Auf Nachfrage sagt er: "Prognose: 50:50."
Kann die Schuldenbremse eingehalten werden?
Diskutiert werden dürfte in der Ampel zudem, dass Habeck für die kommende Legislaturperiode die Einhaltung der Schuldenbremse infrage stellt. Mit den vielen oft großvolumigen Förderprogrammen habe die Bundesregierung gemeinsam wichtige Entscheidungen getroffen, heißt es. Diese aber müssten "langfristig" durchgehalten werden, um volle Wirkung zu entfalten – und das rufe "Finanzierungsfragen" auf.
Die Reaktionen auf Habecks Beitrag zum industriepolitischen Werk der Ampel fallen unterschiedlich aus. Jens Spahn, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist wenig angetan. Er sagte unserer Redaktion: "Ob die Ampel beim Industriestrompreis jetzt eine gemeinsame Linie hat, ist weiter unklar. Herr Habeck sollte sich das Papier dazu sparen und sich auf jetzt notwendige Maßnahmen konzentrieren. Die Stromsteuer wäre ein schneller Hebel beim Strompreis. Sie sollte jetzt auf das europäische Minimum gesenkt werden. Vor Kurzem hat die Ampel noch die Verlängerung des Spitzenausgleichs abgelehnt. Eine Kurskorrektur wäre hier überfällig." CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sekundiert: „Habeck philosophiert lieber über die Zukunft und grüne Planwirtschaft, anstatt jetzt die Abwanderung bei Industrie und Mittelstand und die Wohlstandsverluste bei den Bürgern zu stoppen." Das sei keine Strategie, sondern "eine wirtschaftspolitische Bankrotterklärung.“
Bayerns Wirtschaftsminister Aiwanger kritisiert die Ampel
Auch der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) äußert sich im Gespräch mit unserer Redaktion kritisch: „Schön, dass der Bundeswirtschaftsminister sich dazu bekennt, die Wirtschaft erhalten zu wollen. Bisher hat der zunehmende Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und die Deindustrialisierung Deutschlands die Bundesregierung kaltgelassen. Insbesondere der Finanzminister und der Kanzler scheinen immer noch nicht zu verstehen, dass sie den Karren gerade an die Wand fahren." Anstatt das Bürgergeld auch für Arbeitsfähige zu erhöhen, müsste in günstigere Energiepreise investiert werden und die Mehrwertsteuer für Strom gesenkt statt für Gas wieder erhöht werden, bemängelt der FW-Chef.
Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, sieht "Licht und Schatten". Der Ökonom und Politikberater analysiert, dass das Papier zur Industriestrategie eine in vielen Punkten zutreffende Analyse der Probleme des Industriestandorts Deutschland beinhalte. Es fehle aber eine überzeugende Strategie zur Überwindung dieser Probleme, teils enthalte die Strategie Widersprüche. Fuest: "So wird die hohe Bürokratiebelastung für die Unternehmen zu Recht beklagt, gleichzeitig begrüßt das Papier das Energieeffizienzgesetz, obwohl dieses Gesetz die Bürokratielast für die Unternehmen weiter steigert, und das ohne überzeugende Begründung. Das Papier verweist zu Recht auf die hohe Unternehmenssteuerbelastung, enthält aber keine neuen Ideen zur Minderung dieser Last. Das Papier räumt ein, dass Deutschland auch langfristig hohe Energiekosten haben wird, hält aber an der Idee des subventionierten Brückenstrompreises fest."
Auf diese Widersprüche dürfte in der ja explizit von Habeck angeregten Diskussion auch der Koalitionspartner FDP hinweisen. Es könnte unbequem werden.