Frau Pascha-Gladyshev, gleich zu Beginn eine ganz wichtige Frage: Wie entstehen eigentlich neue Lego-Sets? Nehmen Sie als Chefin nach Feierabend die Prototypen Ihrer Designer mit nach Hause und lassen Ihre Kinder dann prüfen, was gut ist?
Karen Pascha-Gladyshev: Als meine Kinder erfahren haben, dass ich bei der Lego-Gruppe anfange, war natürlich ihre Erwartung: Toll, jetzt können wir alles vorher ausprobieren. Aber, da musste ich sie enttäuschen. Wir strukturieren unser Portfolio nach Interessenbereichen und bilden vor allem bei neuen Themenwelten Fokusgruppen in unterschiedlichen Ländern, unter anderem auch in Deutschland, um gemeinsam mit Kindern oder auch mit Erwachsenen zu beobachten: Wie lässt sich das Set aufbauen? Wie genau wird mit dem Set gespielt?
Das scheint gut zu funktionieren. Wie es aussieht, ist Lego immun gegen Corona, Sie vermelden neue Rekorde …
Pascha-Gladyshev: Nun, es handelt sich tatsächlich um eine längere Erfolgsgeschichte. Wir haben es über die letzten Jahre geschafft, unsere Position zu behaupten und im vergangenen Jahr sogar noch weiter auszubauen. Das hat etwas damit zu tun, dass wir viel Zeit damit verbringen, unsere Zielgruppen wirklich zu verstehen. Das sind natürlich in allererster Linie Kinder, aber mehr und mehr auch Erwachsene und Familien, die gemeinsam spielen und bauen. Dieses tiefe Verständnis unserer Zielgruppen hilft uns, unsere Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben.
Was sind denn die Dauerbrenner im Sortiment?
Pascha-Gladyshev: Im letzten Jahr kamen neun der 20 meistverkauften Spielzeuge in Deutschland von uns. Eines davon war der Güterzug von Lego City. Züge sind immer ein Thema, das sehr spannend ist. Aber ein Dauerbrenner ist definitiv auch die Feuerwehr und die Polizei oder auch das Krankenhaus – Settings, die Kinder selbst im Alltag erleben oder von denen sie gehört haben, die sie nachspielen und nachbauen können. Aber auch ausgewiesene Fantasiewelten, wie Lego Ninjago, entwickeln sich dauerhaft sehr positiv, mit immer neuen Geschichten und Themenfeldern.
Woher kommt der Erfolg von Lego bei Erwachsenen?
Pascha-Gladyshev: Gerade in den letzten zwei, drei Jahren haben wir alle festgestellt, dass das physische Spielen oder das haptische Kreieren immer wichtiger wird. Der Lego Blumenstrauß zum Beispiel war eines unserer Top-Sets im vergangenen Jahr. Als ich das aufgebaut habe, war das für mich fast schon ein meditatives Erlebnis. Für Erwachsene gibt es auf der einen Seite sicherlich den nostalgischen Aspekt, der auf Erfahrungen aus der eigenen Kindheit beruht; auf der anderen Seite aber auch den neu gefundenen Spaß und die Befriedigung, die einem das physische Bauen und Kreieren geben.
Einen Nerv getroffen hat Lego wohl mit den Star-Wars-Lizenzen. Die größten Sets kosten aber auch 800 Euro. Wo ist die Schmerzgrenze dafür?
Pascha-Gladyshev: 800 Euro kostet der Millennium-Falke. Den haben wir schon eine ganze Weile im Portfolio. Das Set ist in der Star-Wars-Linie eines der großen Collector Items, die sehr gut funktionieren. Aber es ist definitiv nicht so, dass sich nur Hochpreispunkte gut verkaufen. Für die verschiedenen Bereiche gibt es immer unterschiedliche Angebote, je nachdem, wie kompliziert das Set sein soll. Mein Sohn hat letztes Jahr auch angefangen, sich für Star Wars zu interessieren. Er hat mit einem kleinen Set angefangen und ist damit in die Themenwelt von Star Wars eingestiegen.
Also täuscht der Eindruck, dass die Sets immer komplizierter werden?
Pascha-Gladyshev: Wir schauen schon, dass es komplexe Sets im Sortiment gibt, weil wir feststellen, dass immer mehr Fans die nächste große Herausforderung suchen. Aber dass die Sets immer komplizierter werden, kann ich so nicht bestätigen. Es gibt genauso auch leichte Sets. Unsere Hauptzielgruppe sind immer noch die Kinder, und da ist ein Erfolgserlebnis im Bauen erst mal wichtig.
Wenn die Corona-Pandemie dieses Jahr tatsächlich endet, droht dann eine Delle in der Geschäftsentwicklung?
Pascha-Gladyshev: Die letzten drei Jahre waren für uns alle eine Herausforderung. Entsprechend schwer war vorherzusagen, wie sich der Markt entwickelt. Wir haben schon oft gedacht, dass wir Corona hinter uns haben oder bald hinter uns haben werden. Aber wir haben gelernt: Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Der Spielwaren-Industrieverband sagt eine positive Entwicklung für die Spielwarenbranche auch in diesem Jahr voraus. Ich denke, dass die Herausforderungen, die wir haben, überschaubar sind. Wir sehen, dass wir viele Menschen mit einem Bauerlebnis begeistern konnten. Grundsätzlich sehen wir aktuell an den Zahlen, dass das Bauen und Spielen mit Lego-Steinen durchaus beliebt ist.
International ist Lego breit vertreten. Jetzt spielen nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene damit – wo sind denn noch Chancen auf weiteres Wachstum, wenn Sie ein paar Jahre weiter in die Zukunft schauen?
Pascha-Gladyshev: Es gibt immer wieder neue Interessenbereiche, die wir erschließen. Im vorletzten Jahr zum Beispiel haben wir Lego Dots eingeführt. Hier geht es darum, mit Lego-Dots-Steinen wie auf einer Leinwand sein eigenes Bild zu kreieren: Im Zentrum steht das Ausleben der eigenen gestalterischen Kreativität. Das ist für uns ein ganz neues Interessengebiet, das wir für unsere Zielgruppen erschließen konnten. Und davon existieren noch viele. Aber auch geografisch gibt es noch einige Möglichkeiten zu wachsen: Deutschland hat das Potenzial, weiter ein Expansionsmarkt zu sein.
Viele Bereiche der Wirtschaft klagen derzeit über einen Mangel an Rohstoffen oder Vorprodukten. Die Logistik ist kompliziert und viel teurer geworden. Wie sind Sie da betroffen?
Pascha-Gladyshev: Wir haben ein dezentralisiertes Produktionssystem. Für den europäischen Markt produzieren wir komplett in Europa. Insofern haben wir im Vergleich zu vielen Unternehmen kürzere Lieferketten. Das hat uns im letzten Jahr geholfen. Wir haben wenig bis gar keine Einschränkungen erleben müssen. Aber natürlich hängen wir in einem gesamtwirtschaftlichen Konstrukt, wo Störungen bei der Rohmaterialbeschaffung, Energiepreiserhöhungen und so weiter eine gesamte Industrie treffen können. Rückschauend kann ich sagen: Insgesamt waren wir gut aufgestellt.
Wird Lego heuer die Preise erhöhen?
Pascha-Gladyshev: Das kann ich klar verneinen. Wir haben Anfang dieses Jahres einige minimale Anpassungen innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums vorgenommen. Weil wir festgestellt haben, dass wir unterschiedliche Preise in unterschiedlichen Ländern hatten, sodass für einige wenige Produkte in dem einen Land der Preis ein wenig erhöht und in einem anderen Land etwas reduziert wurde. Aber wir haben keine UVP-Erhöhung vorgenommen.
Nachhaltigkeit ist auch in der Spielzeugindustrie immer wichtiger. Der Lego-Stein wird wohl auch in Zukunft aus Plastik sein, oder?
Pascha-Gladyshev: Man muss bei der Nachhaltigkeitsdebatte zwei Dinge unterscheiden: Das eine betrifft die Verpackung und das andere den Lego-Stein an sich. Unser Versprechen ist, bis 2025 das Material für sämtliche Verpackungen weltweit zu 100 Prozent nachhaltig zu gestalten, indem wir auf Einwegplastik verzichten und nur erneuerbare oder recycelbare Materialien verwenden. Da sind wir genau im Zeitplan. Bei dem Stein ist es komplexer. Bis 2030 soll er aus nachhaltigen Materialien produziert werden. Warum dauert das so lange? Weil die Lego-Gruppe keinerlei Kompromisse im Hinblick auf Produktqualität und Sicherheit macht. Gleichzeitig muss das Material so haltbar und sicher sein, dass Kinder täglich unbeschwert mit den Steinen spielen können. Und es müssen neue Materialien entwickelt werden, die sich akkurat formen lassen, damit die neuen Lego-Steine mit denen von vor 60 Jahren exakt zusammenpassen. Ein nachhaltiger Stein hilft nur dann weiter, wenn er das gleiche Qualitätsversprechen hat und nicht kaputt geht und dann ersetzt werden muss.
Welche Ansätze verfolgen Sie da?
Pascha-Gladyshev: In Dänemark ist ein Team von über 150 Expertinnen und Experten für unsere Nachhaltigkeitsagenda verantwortlich und wird bis Ende nächsten Jahres über 400 Millionen US-Dollar in entsprechende Forschungen investiert haben. Die Kolleginnen und Kollegen schauen sich tatsächlich die gesamte Bandbreite von Kunststoffen aus nachwachsenden Rohstoffen bis Rezyklaten aus verschiedenen Subbereichen an. Letztes Jahr ist es ihnen gelungen, einen Stein aus recycelten PET-Flaschen zu entwickeln, der unsere Qualitätsanforderungen erfüllt und jetzt in die Prototypisierung geht. Das TIME-Magazin hat ihn unter die 100 besten Innovationen des Jahres 2021 gewählt. Hier wird also noch einiges passieren in den nächsten Jahren. Ich kann heute noch nicht sagen, welches die finale Lösung sein wird, aber wir arbeiten an verschiedenen.
Nächstes Jahr soll in München der größte Lego-Shop Deutschlands eröffnet werden. Spielt der traditionelle Handel zwischen dem eigenen Onlineshop und den Lego-Shops in Zukunft eine immer kleinere Rolle?
Pascha-Gladyshev: Wir haben ein Versprechen für die gesamte Bandbreite der deutschen Handelslandschaft. Mit unseren Lego- Stores verfolgen wir ein anderes Ziel als der traditionelle Handel. Hier geht es darum, unsere gesamte Markenwelt zu präsentieren und Familien, Kindern und Erwachsenen die Möglichkeit zu geben, die einzigartige Lego-Markenwelt mit allen Sinnen zu erleben, sie auf kreative und spielerische Weise mit unseren Lego-Steinen zu inspirieren. In etlichen unserer Shops bieten wir besondere Erlebnisse: Zum Beispiel können unsere Fans mit der Minifigur-Maschine ihre ganz persönliche Minifigur gestalten oder mit dem Mosaik-Maker ihr eigenes Foto auf Legosteine übertragen lassen. Damit taucht man noch mal auf eine ganz andere Art in die Marke ein. Das heißt aber in keinem Fall, dass wir uns von den anderen Vertriebskanälen distanzieren. Die Verbraucher und wir schätzen die Kompetenz des Fachhandels sehr und arbeiten eng mit unseren Partnern zusammen. Da ist kein Entweder-Oder, sondern ein klares Und.
Zur Person: Karen Pascha-Gladyshev, Jahrgang 1975, studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. Darüber hinaus hat sie 2021 ein Wirtschaftspsychologie-Studium an der Europäischen Fernhochschule Hamburg abgeschlossen. Nach Stationen bei Procter & Gamble, British American Tobacco und L’Oréal, kam sie 2019 zu Lego. Dort verantwortet die verheiratete Mutter von zwei Kindern die Märkte Deutschland, Österreich und Schweiz.