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Ruhestand: Warum die Rente mit 64 für viele in Frankreich ein rotes Tuch ist

Ruhestand

Warum die Rente mit 64 für viele in Frankreich ein rotes Tuch ist

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    Frankreichs Präsident Macron will das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anheben. Das Land wird seit Wochen von Streiks und Protesten geschüttelt.
    Frankreichs Präsident Macron will das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anheben. Das Land wird seit Wochen von Streiks und Protesten geschüttelt. Foto: Thibault Camus, dpa

    Lionel ist heute frühmorgens schon mit einem Zug aus einem Vorort nach Paris gekommen. Die Bahn gehörte zu den wenigen, die an diesem nationalen Streiktag überhaupt fuhren. Lionel, selbst Zugführer, hat weder eine Früh- noch eine Nachtschicht gemacht, er ist im Ausstand – wie tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RATP, des Unternehmens für den öffentlichen Nahverkehr von

    Bevor der Marsch durch Paris losgeht, steht Lionel mit Kolleginnen und Kollegen verschiedenen Alters zusammen, alle tragen über ihren Winterjacken orangefarbene Sicherheitswesten mit dem Aufdruck CGT-RATP. Die CGT ist eine der führenden Gewerkschaften Frankreichs. Durch ihre langjährige Nähe zu marxistischen Strömungen gilt sie als besonders rigoros bei Arbeitskämpfen. Im Widerstand gegen die Pläne von Präsident Emmanuel Macron, die Pensions-Altersgrenze von 62 auf 64 Jahre anzuheben, hat sie sich ausnahmsweise mit der moderateren CFDT und sechs weiteren Arbeitnehmer-Organisationen zusammengetan, um möglichst viele Menschen auf die Straße zu bringen. Nachdem es bislang einzelne Streiktage mit großen Protestzügen in den Städten gab, ist eine Verschärfung der Arbeitsniederlegungen ab dem 7. März, nach den Schulferien, im Gespräch. 

    Manche dürfen schon mit 52 in Rente

    Den Angestellten der RATP kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Wie die Mitarbeiter der Staatsbahn SNCF oder der Raffinerien können sie das Land weitgehend lahmlegen. Für RATP-Beschäftigte gelten immer noch Sonderkonditionen für den Ruhestand. Ihre Rente beginnt für manche schon im Alter von 52 Jahren. Doch gegenüber Mitte des 20. Jahrhunderts, als die Sonderbehandlung festgelegt wurde, hat sich der Beruf stark verändert, ist körperlich weniger fordernd. Deshalb soll es für alle, die ab 1. September bei dem öffentlichen Unternehmen anfangen, mit den Ausnahmen vorbei sein. Auch das sieht die Reform vor, die derzeit noch im Parlament debattiert wird. 

    "Viel Kraft an alle, die diesen Job bis 64 machen müssen", sagt Lionel und schnauft wütend auf. "Die angeblichen Privilegien sind absolut notwendig, damit wir nicht sterben, bevor wir in Rente gehen." Sein Metier sei hart durch den ständigen Wechsel zwischen Tag- und Nachtschichten. "Das nutzt ab." In der Luft herrsche ein hoher Anteil an Feinstaub und Metall-Partikeln. "Und glauben Sie mir: Stundenlang in einer Fahrerkabine zu sitzen und auf Knöpfe zu drücken, das ist kein Traumberuf." 

    Arbeit wird als reine Qual dargestellt

    Arbeit wird in den hitzigen Debatten um die Reform in der Regel als Qual dargestellt, die es durchzustehen gilt. Die Lebenserwartung in Frankreich dagegen gehört zu den höchsten der Welt, sie liegt bei 85 Jahren bei Frauen, 79 Jahren bei Männern. Während zu Beginn der 2000er Jahre im Schnitt noch 2,1 Erwerbstätige einen Rentner finanzierten, sind es heute nur noch 1,7, rechnet die Regierung vor. Die Menschen in Frankreich verbringen durchschnittlich 25 Jahre im Ruhestand – mehr als in jedem anderen europäischen Land. Warum reagieren sie dennoch so viel heftiger auf eine Erhöhung der Altersgrenze als die Nachbarn? 

    "Vielleicht, weil der soziale Dialog dort besser funktioniert", antwortet der Soziologe Julien Damon auf diese Frage. "Vielleicht auch, weil anderswo der Wert der Arbeit besser anerkannt wird oder weil die Organisation in den Betrieben angenehmer ist als bei uns." Die große Herausforderung bestehe darin, dass die Franzosen "arbeiten wollen und können, so glücklich wie möglich, bis zu einem Rentenalter, das wirtschaftlich und sozial verträglich ist". 

    Nur noch eine Minderheit bezeichnet ihre Arbeit als "sehr wichtig"

    Der französische Innenminister Gérald Darmanin sieht das anders. Er beschuldigte die gegen die Reform kämpfende linke Opposition, sie verteidige eine "Gesellschaft, die sich nicht anstrengen will", die die Arbeit ablehne und ein "Recht auf Faulheit" einfordere. Davon hatte die grüne Frontfrau Sandrine Rousseau gesprochen, doch ihre plakativen Thesen sind selbst in den eigenen Reihen umstritten. Tatsächlich bezeichneten 1990 noch 60 Prozent der Französinnen und Franzosen ihre Arbeit als "sehr wichtig", heute sind es noch 21 Prozent. 

    Für Danièle Linhart, emeritierte Forschungsdirektorin am nationalen Institut CNRS, gehen solche Debatten am eigentlichen Thema vorbei. Studien zeigten, dass es für die Französinnen und Franzosen sehr wichtig sei, einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, sagt sie. "Auch heute noch wollen die Erwerbstätigen persönlich stolz auf ihre vollbrachte Arbeit sein, sie erwarten besonders viel von ihr – und werden besonders stark enttäuscht", sagt Linhart. Das liege vor allem an der Herausbildung einer Management-Form seit den 80er Jahren, die auf Individualisierung und ausgeprägte Hierarchien setzte, um das Kollektiv zu zerschlagen. "Jeder Mitarbeiter soll der Größte, Schönste, Stärkste sein, es geht also mehr um menschliche und nicht mehr um professionelle Qualitäten", so die Soziologin. Zugleich sei die "psychologische Kontrolle" verstärkt worden. 

    Macron droht eine schwere Schlappe

    Die Folge: Seit den 2000er Jahren gibt es in Frankreich viele Fälle von Burnout und Depressionen. Für Negativschlagzeilen sorgte eine Serie an Suiziden im Telekom-Unternehmen France Télécom, das heute Orange heißt. 2019 gab ein Gericht bei einem Prozess gegen mehrere ehemalige Führungspersonen des Konzerns, darunter Ex-Chef Didier Lombard, eine klare Verantwortung für die menschlichen Dramen. Sie wurden wegen Mobbing verurteilt. "Viele Menschen leiden in ihrer Arbeit und vermissen den Sinn darin", sagt Danièle Linhart. "Die Vorstellung, dass man ihnen jetzt noch zwei weitere Jahre aufbrummt, erscheint ihnen unerträglich. Sie fürchten, nicht durchzuhalten." 

    Die Lage erscheint festgefahren. Die Regierung beharrt auf der Notwendigkeit, die Alterssicherungssysteme zu reformieren. Ein Zurückweichen würde eine schwere Schlappe für Macron bedeuten. Demgegenüber versichern die Reformgegner, Widerstand bis aufs Letzte zu leisten. Mehr als zwei Drittel der Franzosen heißen diesen gut, auch wenn die Streiks ihren Alltag erschweren.

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