Alles grau und usselig gerade? Draußen ohnehin? Ach, dann beamen wir Sie nun mal einfach zurück in die Sommer der 1980er-Jahre. Deutschland machte Ferien: Billigflieger waren noch ferne Utopie, die Sehnsuchtsorte im Süden hießen Rimini oder Rapallo - und Sylt gehörte noch den Familien. Vor dem Zelt stand der Camping-Kocher und in der Jugendherberge servierten sie statt Latte macchiato mit Hafermilch noch Hagebuttentee aus der großen Edelstahl-Kanne. Doch Mercedes schürte das Fernweh.
Bremer Transporter - ab in alle Welt
Denn 1984 bauten die Schwaben, so ist es in ihrer Chronik nachzulesen, auf Basis des «Bremer Transporters» T1 ihr erstes Wohnmobil. Und als Taufpaten und wählten keinen geringeren als den Entdecker Marco Polo.
Das klingt nicht nur nach Adria und Venedig, wo der frühe Weltenbummler im 13. Jahrhundert geboren wurde. Sondern das entführt die Kundschaft zumindest gedanklich auch gleich noch auf die Seidenstraße; selbst wenn der Aktionsradius der automobilen Globetrotter damals – nicht zuletzt wegen der geopolitischen Verhältnisse - vergleichsweise eingeschränkt war.
Der Nachfahre hört immer noch auf denselben Namen
Genauso übrigens wie heute wieder, wo der Marco Polo auf der V-Klasse basiert, in der dritten Generation fährt, sich auf eine elektrische Zukunft vorbereitet und längst zu einer Entdecker-Familie gehört. Denn in der Klasse darüber verkauft Mercedes den Sprinter als James Cook und selbst den kleinen Citan machen die Schwaben mit einem modularen Möbelsystem zur Teilzeit-Immobilie und zum Micro-Camper. So - nun wieder zurück.Wo die Reise im neuen Marco Polo vor allem zu geografischen Zielen führte, bewegt man sich im Oldtimer jetzt nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. Als würde man durch ein altes Fotoalbum blättern und im Familienurlaub hängen bleiben. Der Wohn-Wagen führt einen zurück in eine Ära, als Bahamas-Beige noch der letzte Schrei war, brauner Cord als schick galt statt als Inbegriff des Spießertums und Pril-Blumen fast jede Küche zierten.
Voll ausgestattet und voller Komfort - auf dem Niveau von vor 40 Jahren
Während sich die Farbwelt über die Jahre geändert hat, ist das Konzept des gemeinsam mit Westfalia entwickelten Urlaubsautos bis heute gleich geblieben. Es gibt eine Küchenzeile mit Herd, Kühlschrank und Spülbecken, Schränke und Schubladen, eine Waschkommode im Sideboard und eine Sitzbank, die mit den drehbaren Sesseln in der ersten Reihe zur Essecke wird. Und geschlafen wird auf einer Pritsche im Fond oder im Penthouse, in dem ebenfalls ein Bett eingerichtet ist.
Während das damals allerdings ein Plastikaufbau war, der die Höhe auf knapp drei Meter getrieben hatte, fährt das Hochbett heute erst auf Knopfdruck aus und natürlich im Stand. Das mindert den cw-Wert und mit ihm den Verbrauch und erhöht vor allem die Alltagstauglichkeit, weil der Marco Polo von heute mittlerweile in die meisten Garagen passt. Und auch sonst haben moderne Zeiten Einzug gehalten im Camping-Urlaub, der längst Van-Life heißt, sagt Vertriebschef Klaus Rehkugler : Statt den Marco Polo mühsam von Hand zwischen Alltag und Ferien umzubauen und dabei so manchen Fingernagel zu riskieren, genügt jetzt meist ein Knopfdruck, und Komfortsysteme wie die Standheizung, das Ambientelicht oder den Kühlschrank steuert man per App vom Handy aus. «So wird der Marco Polo zum Smarthome auf Rädern», sagt Rehkugler.
Nein, es geht nicht schnell, sondern beharrlich voran
Die Begegnung mit dem Original wiederum wirft einen auch hinter dem Lenkrad um Jahrzehnte zurück. Denn wo der Marco Polo heute mit bis zu 174 kW/237 PS angeboten wird, dank Allradantrieb einen erweiterten Aktionsradius hat und mit bis zu 215 km/h in die Ferne schweift, müssen dem Rentner 65 kW/88 PS reichen.
Diese werden von einem nagelnden Fünfzylinderdiesel lautstark aus 3,0 Litern Hubraum gerungen – und zwar erst, nachdem man den Motor eine gefühlte Ewigkeit lang hat vorglühen lassen. Wenn der Diesel warmgelaufen ist und man geschickt die fünf Gänge wechselt, wuchtet er 172 Nm an die Hinterräder und kämpft sich bis auf 120 km/h.
Wobei man im Gebirge schon dankbar ist, wenn es für 70 Sachen reicht. Der Alpenhauptkamm wird so zu einer echten Prüfung. Und statt wenigstens die Fahrt hinunter zu genießen, bremst man die Fuhre vorsichtig ein und kurbelt den Koloss mühsam durch die engen Kehren, bis die Arme brennen. Da hat man sich den Urlaub am Ziel redlich verdient.
Zwar erscheint einem der erste Marco Polo heute vergleichsweise spartanisch und wirkt im Vergleich zum luftgefederten und Smartphone-gesteuerten Nachfolger ein bisschen wie das Notquartier im Landschulheim, weil die Buchung im Luxushotel nicht geklappt hat.
«Doch damals war das echt ein dickes Ding», sagt Oldtimer-Experte Frank Wilke: «Damals etwa 40.000 Mark teuer, hat der Marco Polo die Camperszene vom Image des Transportmittels für reisefreudige Menschen mit knappem Geldbeutel befreit.»
Plötzlich waren das keine Rucksacktouristen auf Rädern mehr, die am Lagerfeuer Dosenravioli heiß machten und morgens Pumpernickel kauten. «Sondern mit dem Marco Polo hat Mercedes Menschen angesprochen, die sich eher als moderne Entdecker sahen und bereit waren für mehr Annehmlichkeiten und Platz auch deutlich mehr Geld zu zahlen», sagt der Chef des Marktbeobachters Classic Analytics.
Freundeskreis in der Oldie-Szene
In einer Szene, in der einfache Transporter dieses Alters oft noch keine Liebhaber-Fahrzeuge sind, sondern angesichts eines Marco Polo Grundpreises von heute 69.050 Euro einfach billige Grundlagen für eigene Aus- und Umbauten, nimmt der Marco Polo von einst für Wilke durchaus eine Sonderrolle ein. Er hat – natürlich vor allem unter den Mercedes-Fans seinen treuen Freundeskreis.
«Wer damit zum richtigen Oldtimertreffen kommt, schläft nicht nur näher und bequemer als viele Teilnehmer, sondern erntet auch viel Interesse», sagt Wilke. Doch bei aller Bewunderung für den mobilen Bungalow von Benz spielt er bei den Urlaubserinnerungen allenfalls die zweite Geige.
«An den Ruhm des VW Bulli und des werkseigenen California kommt der Marco Polo nicht heran», sagt der Oldtimer-Experte und sieht darin durchaus eine gewisse Ironie. Denn der California von VW ist sogar noch ein paar Jahre jünger. «Aber die Pazifikküste weckt einfach mehr Sehnsüchte als die Adria.»
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