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Paul Kirchhof im Interview: Staat seit Corona überfordert

Interview

Paul Kirchhof: „Der Staat sollte dem Bürger vertrauen“

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    Prof. Paul Kirchhof sieht keinen Grund, staatspessimistisch zu sein.
    Prof. Paul Kirchhof sieht keinen Grund, staatspessimistisch zu sein. Foto: Friederike Hentschel

    Herr Professor Kirchhof, Sie waren Richter am Bundesverfassungsgericht. Wie steht es um die Demokratie in Deutschland?
    Professor Paul Kirchhof: Die Demokratie ist erfolgreich. Vor 75 Jahren, als Deutschland in Trümmern lag, forderte das Grundgesetz in der Präambel des Grundgesetzes drei Dinge: Erstens: Wir wollen dem Frieden der Welt dienen. Zweitens: Wir wirken gleichberechtigt in einem vereinten Europa mit. Drittens: Wir erreichen die Wiedervereinigung. Dieses Wagnis war erfolgreich! Wir haben heute große Probleme, ja, aber wir haben keinen Grund, staatspessimistisch zu sein.

    Gleichzeitig erleben wir Deutschland höchst gespalten: Bei den Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern siegen populistische Parteien wie AfD und BSW. Ist die Einheit gescheitert?
    Kirchhof: Die Wiedervereinigung ist gelungen. Die Menschen der DDR wollten reisen, die Regierung kritisieren, den Wohlstand der D-Mark. Das haben sie erreicht. Die Rechte des Grundgesetzes gelten für alle: Menschenwürde, Persönlichkeitsentfaltung, Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, Familienfreiheit. Aber: Es gibt eine innere Distanz zu unserer Demokratie, weil die Menschen den Eindruck haben, ihre Anliegen würden in der Politik nicht gehört. Wer über 40 Jahre oder länger unter staatlicher Unterdrückung gelebt hat, ist viel sensibler gegenüber Gängelung und Bürokratie.

    CDU und BSW wirken wie grundverschiedene Parteien. Kann es gut gehen, wenn in den Ländern eine Koalition nötig wird?
    Kirchhof: Die Parteien sind zur Koalitionssuche gewählt und müssen prüfen, welche Annäherung möglich ist. Kommt keine Lösung zustande, muss neu gewählt werden, mit allem Risiko. Die Bürger erwarten zu Recht eine funktionierende Regierung.

    Was halten Sie von einer rechnerisch denkbaren Regierungsbeteiligung der AfD in ostdeutschen Landtagen, mit der manche thüringischen Landespolitiker der CDU liebäugeln?
    Kirchhof: Die schlichte These, eine Partei soll an die Macht kommen, weil sie eine relative Mehrheit hat, wäre unverantwortlich. Es müssen die Parteien, die eine Verantwortung für das Grundgesetz und die EU tragen, alles daransetzen, dass sie eine Mehrheit bilden.

    Hatte Oskar Lafontaine seinerzeit nicht doch recht, als er eine Zwei-Staaten-Lösung für Deutschland forderte?
    Kirchhof: Die Zwei-Staaten-Lösung wäre ein Unglück. Wir werden nur gemeinsam einen allgemeinen Wohlstand bewahren. Angesichts der neuen Bedrohungen aus dem Osten wäre es falsch, Brandmauern zu errichten. Abgrenzung, Mauern, Ängstlichkeit vor den Themen schaden uns. Die Gedanken sind frei. Man muss die freien Gedanken formulieren können – zur deutschen Geschichte, zur Kritik an den Herrschenden, zu Krieg und Frieden, zu Mann und Frau.

    Wie kann man der Unzufriedenheit der Menschen im Osten, aber auch im Westen begegnen?
    Kirchhof: Die Menschen interessieren Probleme vor ihrer Haustüre. Fast alle wollen Kinder und Enkelkinder, den inneren Frieden im Land, mehr Raum für die Familie im Berufsleben. Der innere Respekt gegenüber dem Mut zum Demokratieaufbruch 1989 und der Gleichwertigkeit der Leistung zwischen Ost und West wird häufig vermisst. Wir müssen die Fehler gemeinsam suchen, die Anliegen aufnehmen, die Probleme mit konkreten ersten Schritten für die Alltagsbetroffenheit des Einzelnen lösen. 

    In der Migrationspolitik gibt es Bewegung: striktere Grenzkontrollen, mehr Abschiebungen. Wie bewerten Sie das Vorgehen der Bundesregierung?
    Kirchhof: Dies ist ein richtiger Schritt, aber ein kleiner. Das Grundproblem ist ein Streit in einer nicht einigen EU, in der einige Länder ihre Mitverantwortlichkeit für Flüchtlinge verweigern. Langfristig muss man beginnen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Flüchtende verlassen aus existenzieller Not ihre Heimat, trennen sich von Familie, Freunden, Kultur, sozialem Umfeld. Viel wäre gewonnen, wenn wir unsere jungen Menschen in einem sozialen Jahr in friedliche Regionen der Fluchtländer schicken und mit Kapital ausstatten könnten, damit sie mit den Menschen dort Straßen, Krankenhäuser und Handwerksbetriebe aufbauen. Der Fluchtgrund entfiele, wir würden Wirtschaftspartner gewinnen. 

    Warum ist dies nicht schon nach der Flüchtlingskrise 2015 passiert?
    Kirchhof: Wir waren schläfrig, aber wir können heute neu anfangen.

    Um als politisch Verfolger Asyl zu beantragen, muss man bisher nach Deutschland kommen. Dieses Problem lösen wir damit nicht, oder?
    Kirchhof: Wir sollten deutsche Behörden in Afrika in der Nähe der Krisengebiete gründen. Die Fluchtbereiten wüssten dann, dass sie sich in den Asylzentren melden müssen, damit über ihren Asylantrag entschieden wird. Wer dort keinen Antrag stellt, hat keinen Zugang nach Europa. Zugleich ersparen wir so den Flüchtenden den gefährlichen Fluchtweg. Die EU könnte auf diesem Weg folgen.

    Sie hatten schon einmal eine Revolution geplant, im Steuerrecht. Das war im Bundestagswahlkampf 2005. Gefühlt ist seither wenig passiert, oder?
    Kirchhof: Es gibt eine Zukunftsperspektive! Der Staat verlangt bisher vom Bürger jedes Jahr eine komplizierte Steuererklärung, deren Begriffe und Systematik kaum ein Nicht-Steuerrechtler verstehen kann. Der Rat eines Steuerberaters ist zu teuer. Hinzu kommen große Ungerechtigkeiten: Unternehmer können durch geschickte rechtliche Gestaltungen ihr steuerpflichtiges Einkommen deutlich mehr verringern als der Arbeitnehmer. Doch jetzt ist eine Vereinfachung in Sicht.

    Wie sieht diese aus?
    Kirchhof: Die Regierung hat zwei Kommissionen eingesetzt. Eine zur Reform des Unternehmenssteuerrechts, eine andere zur Digitalisierung und Vereinfachung des Einkommensteuerrechts. Beide können das System so verbessern, dass für die Arbeitnehmer eine Steuererklärung in 20 Minuten möglich ist. Die Fragen werden für jedermann verständlich und man muss nur noch angeben, was sich im Vergleich zum Vorjahr geändert hat.

    Das klingt gut, wann kann das kommen?
    Kirchhof: Es kann im ersten Jahr nach der Wahl kommen. Bei Regierung und Opposition kommen die Vorschläge gut an.

    Welche Erfahrungen haben Sie damals – 2005 – im Wahlkampf gemacht, als Sie im Schattenkabinett von Angela Merkel als Finanzminister gesetzt waren?
    Kirchhof: Ich habe damals die Macht der Worte kennengelernt. Die öffentliche Debatte war von der unrichtigen Behauptung bestimmt, Krankenschwestern würden bei unserem Vorschlag höhere Steuern zahlen müssen. Bei unserem Steuersatz von 25 Prozent und dem Sozialausgleich wären sie besser gestellt worden. Ich war vollkommen wehrlos, habe viel über Demokratie gelernt. Ich möchte von den fünf Wochen keinen Tag missen, aber auch keinen Tag hinzufügen.

    Wie haben Sie die schweren Haushaltsverhandlungen des Bundes betrachtet?
    Kirchhof: Dieser Staat ist seit Corona überfordert, als er sich als Generalversicherer angeboten hat. Ob Bürgergeld oder Industriesubventionen – allen wird beigestanden. Das Wundermittel, alles zu bezahlen, ist der Staatskredit. In der Demokratie wirkt der Staatskredit wie eine Droge. Die Zinslast des Bundes hat sich von 2021 bis 2023 - auch durch die Zinserhöhungen der EZB - verzehnfacht. Deutschland steht mit einer Verschuldung von etwas über den zulässigen 60 Prozent/BIP im Jahr 2023 noch recht gut da. Länder wie Frankreich liegen weit über dieser Grenze der zulässigen 60 Prozent. Diese Länder nehmen das Recht nicht mehr zur Kenntnis! Juristen und Ökonomen müssen ein neues Stabilitätssystem schaffen. Noch mehr Verschuldung gefährdet die EU als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Europa aber darf angesichts der Gefahren aus dem Osten und eines möglicherweise abnehmenden Schutzschirms durch die USA nicht scheitern.

    Es gibt viel zu tun. Was macht ihnen Mut, dass alle diese Aufgaben zu schaffen sind?
    Kirchhof: Wir sollten das Juwel unserer Verfassung wiederentdecken. Dazu brauchen wir institutionelle Unterstützung. Hier sind die Sportvereine, die Unternehmen, Kulturzirkel in unserer Gesellschaft von unschätzbarem Wert – auch die Kirchen – weil sie Sinn stiften, Regeln vermitteln, Vorbildfunktionen ausüben. Der Staat sollte den Bürger weniger beargwöhnen, ihm mehr vertrauen.

    Zur Person: Paul Kirchhof, 81, war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Er ist Seniorprofessor für Staats- und Steuerrecht der Universität Heidelberg und u.a. Autor des Buches „Das Maß der Gerechtigkeit – Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht“.

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