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„Märchen, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird“: DGB-Chef zur deutschen Wirtschaft

Interview

Bayerns DGB-Chef Stiedl: „Die Rente ist die zentrale Sorge der Mittelschicht“

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    Bayerns DGB-Chef Bernhard Stiedl sagt: „Es ist ein Märchen, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird.“
    Bayerns DGB-Chef Bernhard Stiedl sagt: „Es ist ein Märchen, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird.“ Foto: DGB

    Herr Stiedl, in Berlin bricht die Bundesregierung am selben Tag auseinander, an dem in den USA Donald Trump abermals zum Präsidenten gewählt wird. Kein guter Zeitpunkt, oder?

    Bernhard Stiedl: Das Ende der Ampel-Koalition ist ein herber Rückschlag für die politische Stabilität in Deutschland, aufgrund der permanenten Blockadehaltung des Finanzministers Christian Lindner aber die logische Konsequenz. In diesen herausfordernden Zeiten, gerade auch mit Blick auf die US-Wahlen, braucht unser Land jedoch keine politische Krise, sondern eine klare und stabile Führung. Wir erwarten deshalb jetzt von allen demokratischen Parteien, dass sie ihrer Verantwortung gerecht werden und das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Statt nun in den puren Wahlkampfmodus zu schalten, muss es jetzt allen voran darum gehen, rasch Lösungen für die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme zu finden, die aktuell nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger erheblich belasten.

    In Deutschland wählen viele Arbeiter nicht mehr SPD, sondern AfD. Ist der Sieg Trumps für uns auch eine Mahnung, die Mittelschicht nicht zu vernachlässigen? 

    Stiedl: Das ist die zentrale Lehre aus der Wahl in den USA. In Deutschland haben wir das Problem, dass sehr viel für die gesellschaftlichen Ränder gemacht wurde, nicht aber für die arbeitende Mitte. Stichwort Mindestlohn: Natürlich ist der Mindestlohn sinnvoll, ein Facharbeiter verdient aber in der Regel keinen Mindestlohn. Die Gewerkschaften begrüßen auch das Bürgergeld, weil es für Menschen in Not eine Absicherung bietet. Die Mittelschicht in Deutschland bekommt aber kein Bürgergeld. Es muss auch der Mittelschicht ein Politikangebot gemacht werden.

    Was schlagen Sie für die Mitte der Bevölkerung vor?

    Stiedl: Die zentrale Sorge in der Mittelschicht ist die Rente. Die Bundesregierung hat zuletzt viel darüber diskutiert, wie man das Rentenniveau von 48 Prozent sichert. Dabei wissen wir heute schon, dass eine Durchschnittsrente von 1500 Euro zu gering ist. Wenn man dann noch in einem Ballungsgebiet wie München oder Nürnberg wohnt und für eine Wohnung 1300 oder 1400 Euro Miete zahlt, ist es klar, dass sich die Menschen Zukunftssorgen machen.

    Was könnte die Sorgen lindern?

    Stiedl: Deutschland hat ein Steuersystem, das den Mittelstand, den Facharbeiter, die Pflegekraft überproportional belastet. Bereits der Mittelbau – der Vorarbeiter, der vernünftig verdient, der Ingenieur – muss sehr hohe Steuern zahlen. Das muss sich dringend ändern. Dafür kämpfen wir als Gewerkschaften.

    Die Gewerkschaften haben zuletzt höhere Löhne durchgesetzt. Das Land befindet sich aber in einer Wirtschaftskrise. Ist das der beste Zeitpunkt für höhere Löhne?

    Stiedl: Die Menschen brauchen ein Plus bei den Löhnen, da die Preise hoch sind. Gerade Nahrungsmittel sind teuer, auch wenn die Inflationsrate ein zuletzt ein wenig zurückgegangen ist. Auch volkswirtschaftlich ergeben höhere Löhne Sinn. China spielt als Exportland eine immer geringere Rolle. Wenn Donald Trump in den USA seine Pläne und Zölle umsetzt, müssen wir unseren inländischen Markt stärken. Frankreich und Italien stehen derzeit besser da als Deutschland, da der Konsum dort die Binnennachfrage ankurbelt.

    Gerade im Autobau ist die Lage schwierig. Im VW-Konzern redet man über Personalabbau. Müssen jetzt nicht alle sparen?

    Stiedl: Ich kann die Drohungen der Autobauer über Werkschließungen nicht verstehen. Sie sind auch nicht notwendig. Der technologische Wandel vom Verbrenner zum E-Auto ist seit langem bekannt. Ja, es wird zu einem Personalabbau kommen, dieser kann sozialverträglich geregelt werden. Das können sich die Autobauer auch leisten, denn sie haben in den letzten Jahren sehr gut verdient. Und mittelfristig wird es auch wieder zu einem Personalaufbau kommen.

    Was macht Sie da optimistisch?

    Stiedl: Wir steigen mit der Elektromobilität in eine neue Technologie ein, wenn diese am Markt ankommt, bieten sich neue Chancen. BMW baut zum Beispiel gerade ein Batteriewerk in Niederbayern.

    E-Autos werden derzeit aber kaum nachgefragt. Hat man auf das falsche Pferd gesetzt?

    Stiedl: Auch wenn man die Marktentwicklung etwas überschätzt hat, wird der Umstieg auf die Elektromobilität kommen. Die Elektromobilität ist die Zukunftstechnologie - egal, ob die Politik das E-Auto fördert oder nicht, egal, ob der Umstieg am Ende fünf, zehn oder 15 Jahre dauert. Das Problem ist, dass man es versäumt hat, die notwendige Infrastruktur zu schaffen. Die Reichweite eines E-Autos beträgt heute bereits bis zu 500 Kilometer. Das Problem ist ein anderes: In Städten wie München findet man kaum eine Ladesäule. Und wenn eine frei ist, soll man - kaum ist der Akku voll - wieder wegfahren. Was macht man aber, wenn man gerade in einem Termin sitzt?

    Nochmals zurück zu den Löhnen: Die Arbeitgeber fordern eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Könnte man ihnen hier entgegenkommen, um den Standort fit zu machen?

    Stiedl: Es ist ein Märchen, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird. In Deutschland sind zuletzt 1,3 Milliarden Überstunden geleistet worden, davon 775 Millionen unbezahlt. Was soll ein Bandarbeiter, was eine Pflegerin denken, wenn sie nach der Nachtschicht nach Hause kommen und hören, sie sollen mehr arbeiten? Über Tarifverträge lassen sich längst flexiblere Arbeitszeiten festlegen. Die Dehoga – die Interessensvertretung des Gastgewerbes – fordert regelmäßig, eine tägliche Höchstarbeitszeit von mehr als zehn Stunden zuzulassen. Dabei müsste die Dehoga nur einen Tarifvertrag mit uns abschließen. Das will man aber nicht. Und warum? Nur zehn Prozent der Gastbetriebe zahlen nach Tarif. Wer sein Geschäftsmodell auf miesen Löhnen aufbaut, der sollte aufgeben.

    Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger sagt, dass in anderen Ländern mehr gearbeitet und weniger verdient wird…

    Stiedl: Ja, wir sind kein Billiglohnland. Aber der Rückschluss, wir müssten jetzt alle länger arbeiten und weniger verdienen, ist totaler Quatsch. In der Metall- und Elektroindustrie liegt der Anteil der Lohnkosten am Produkt im Schnitt bei 16,1 Prozent. Die Lohnkosten sind längst nicht unser größtes Problem. Die Weltwirtschaft lahmt, Bayern hat ein großes Problem mit seiner Energieversorgung. Hier hat Bayerns Wirtschaftsminister eine große Verantwortung. Er sollte seinen Job machen und eine günstige Versorgung mit regenerativen Energien gewährleisten!

    Aktuell hatten wir an einem Tag ein Allzeithoch bei den Strompreisen, weil die regenerativen Quellen zu wenig geliefert haben . . .

    Stiedl: Wir könnten in Bayern schon viel weiter sein. Im Norden ist die Windkraft viel stärker ausgebaut als im Süden, aber uns fehlen die Leitungen. Von den fehlenden Speicherkapazitäten will ich gar nicht reden. Hier hat die bayerische Politik viel verschlafen, diesen Vorwurf muss sie sich gefallen lassen. Zuerst hat man jahrelang eine Stromtrasse verhindert, jetzt will man sogar drei.

    Das klingt nicht so, als wären Sie mit dem Wirtschaftsminister Aiwanger sehr zufrieden?

    Stiedl: Ich habe das Gefühl, er tut sich manchmal schwer damit, mit uns Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Wirtschaft besteht aber nicht nur aus Firmen, sondern zu einem wichtigeren Teil aus Beschäftigten. Sie stellen schließlich die Produkte her, die verkauft werden. Und gar kein Verständnis habe ich für einen Wirtschaftsminister, der zwar bedauert, wenn Leute entlassen werden, aber sagt, da kann man nichts machen. Dabei beweisen wir als Gewerkschaften tagtäglich, dass man Arbeitsplätze und Standorte retten kann.

    Der Freistaat Bayern könnte also mehr tun, um den Transformationsprozess in der Wirtschaft zu begleiten?

    Stiedl: Natürlich könnte noch mehr passieren, aber man muss auch die Möglichkeiten sehen, die der Freistaat hat. Da ist das schon in Ordnung. Aber große Sprünge macht man damit nicht. Wir bräuchten jedes Jahr Milliarden, damit Bayern in die Zukunft investieren kann. Aber die Politik kann nicht wegen der Schuldenbremse. Die war von Anfang an ein Riesenfehler.

    Derzeit gehen gerade in Bayern viele Startups pleite, Lilium ist nur ein Beispiel. Macht man dagegen genug?

    Stiedl: Der Staat hält sich bei der Unterstützung der Startups viel zu sehr zurück. In China werden Startups länger gefördert. Bei uns dagegen sagt man: Ok, wir können Dir eine Anschubfinanzierung geben, aber wenn Du in einer schwierigeren wirtschaftlichen Situation bist, musst Du Insolvenz anmelden. Flugtaxis werden häufig belächelt, aber das ist eine ernst zu nehmende Zukunftstechnologie. Ich komme aus Ingolstadt, in der Nähe testet dort Airbus solche Modelle. Natürlich wird die Technologie erst in 30 oder 40 Jahren so weit sein, dass sie mehr Menschen nutzen können. Vor 100 Jahren hat man auch das Auto belächelt, heute haben viele Haushalten zwei oder mehr Autos.

    Als bayerischer DGB-Chef sind Sie auch gelegentlich Gast bei Sitzungen des Ministerrats – sozusagen der einzige Sozi am Kabinettstisch. Keine schlechte Position, oder?

    Stiedl: (lacht): Ich habe schon das Gefühl, dass die Kommunikation mit dem Ministerpräsidenten funktioniert. Und wenn man ein bisschen mehr auf mich hören würde, wäre der Wirtschaftsstandort Bayern wahrscheinlich sogar noch erfolgreicher.

    Zur Person: Bernhard Stiedl, Jahrgang 1970, ist gelernter Feinmechaniker und geprüfter Betriebswirt. Seit 2022 ist der verheiratete Vater eines Kindes DGB-Vorsitzender in Bayern.

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