Frau Benner, in Ihrem Büro hängt ein Porträt des südafrikanischen Freiheitskämpfers und Politikers Nelson Mandela. In einer Ecke steht auch noch eine große Papp-Figur des Friedensnobelpreisträgers. Das deutet auf Bewunderung für den 2013 verstorbenen Mann hin.
Christiane Benner: Mich haben die Anti-Apartheid-Bewegung, Mandela und die Geschichte Südafrikas fasziniert. Freunde von mir sind nach Südafrika ausgewandert und haben dort für eine Regierungs-Kommission von Mandela gearbeitet. Nach Ende der Apartheid bin ich in das Land gereist und habe es immer wieder mit IG-Metall-Delegationen besucht. Ich übersetze dann dort bei Treffen vom Deutschen ins Englische und umgekehrt. Im Dezember fahre ich wieder nach Südafrika. Den Papp-Mandela habe ich übrigens zu meinem 50. Geburtstag geschenkt bekommen.
Südafrika steckt mitten in einer Wirtschaftskrise, die soziale Ungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen ist immer noch groß und die Korruption frisst das Land auf.
Benner: Deswegen hake ich bei deutschen Unternehmen, die in Südafrika investiert sind, nach, dass sie dort weiter bleiben.
Sie sind ja Mitglied des BMW-Aufsichtsrats.
Benner: BMW hält an der Fertigung in Südafrika fest und hat einen guten Draht zur Regierung. Das Unternehmen fühlt sich dem Land verbunden und hat sich mit den vorübergehenden Stromausfällen arrangiert. Südafrika wächst einem einfach ans Herz, auch wenn es dem Land heute nicht gut geht.
Neben den Mandela-Bildern fallen Schals von Fußball-Vereinen in Ihrem Büro auf, gerade der blau-weiße.
Benner: Ich bin Schalke-04-Fan. Ich leide mit dem Verein, stehen wir doch in der Zweiten Bundesliga im Tabellen-Keller. Ich komme aus Gelsenkirchen und bin unweit des Stadions aufgewachsen. Das prägt. Ich bin ein Ruhrgebietskind, auch wenn wir, als ich zwölf war, ins hessische Bensheim umgezogen sind. Mein Herz gehört Schalke. Den blau-weißen Schal habe ich geschenkt bekommen, als ich auf Schalke IG-Metall-Jubilare geehrt habe.
Sie sind selbst sehr sportlich.
Benner: Sport ist ein wichtiger Teil meines Lebens, mein Ausgleich. Körpergefühl ist für mich sehr wichtig. Ich jogge, mache Krafttraining, fahre Rad, bin gerne in den Bergen unterwegs. Ich bin Mitglied des Alpenvereins.
Sie sollen auch in der Lage sein, sich wirkungsvoll selbst zu verteidigen.
Benner: Das stimmt. Als Soziologie-Studentin bin ich länger in die USA gegangen und habe vier Monate in Chicago für den schwarzen Bürgerrechtler Arvis Averette gearbeitet. Dort habe ich einen Selbstverteidigungskurs absolviert, musste aber in den USA die Techniken zum Glück nicht anwenden. Erst später in Portugal im Urlaub musste ich einmal wegen einer Belästigung massiv werden. Erfolgreich. Doch in Selbstverteidigungskursen geht es nicht darum, wie man zurückschlägt, sondern es geht darum, zu lernen, wie man Gefahrensituationen vermeidet. Oft reicht es, in sich rein zu horchen, eine Gefahrensituation zu erkennen, die Straßenseite zu wechseln und zu vermeiden, überhaupt in eine Gefahrensituation zu kommen.
Wie hat Sie die Zeit in Chicago geprägt?
Benner: Ich habe dort gelernt, mich auf der Straße geschickt und vorausschauend zu bewegen. Diese Fähigkeit hilft mir, wenn ich im Frankfurter Bahnhofsviertel unterwegs bin, wo es im Vergleich zu früher viel härter zugeht, sodass selbst ich ab dem späten Abend ein schlechtes Gefühl bekomme. In Chicago jedenfalls tauchte ich in eine ganz andere Welt ein: In einem Stadtteil stehen Villen, im anderen herrscht große Armut. Das waren brutale Erkenntnisse für mich: Sobald Schwarze in die Nachbarschaft gezogen sind, zogen die Weißen weg. Umso weiter man in den Süden von Chicago kam, um so größer wurde die Armut.
Was haben Sie von dem Bürgerrechtler Arvis Averette damals gelernt?
Benner: Er hat zu mir gesagt: Christiane, gebe deine Multikulti-Träume auf. Das funktioniert nicht. Seiner Ansicht nach kommt es darauf an, dass möglichst viele Menschen die gleichen ökonomischen Voraussetzungen im Leben haben. Ob diese Menschen dann zusammenleben wollten, stehe auf einem anderen Blatt. Auch wenn ich das vielleicht nicht alles so übernommen habe, habe ich doch viel daraus gelernt.
Hatten Sie gar keine Angst in Chicago?
Benner: Natürlich hatte ich Angst. Denn es gab das Risiko, durch Zufall in eine Schießerei der verfeindeten Gangs zu geraten und angeschossen zu werden. Doch Arvis Averette hat mit Vertretern der Gangs gesprochen und Ihnen erklärt, wer ich bin und dass ich für ihn arbeite. So war ich geschützt. Als Weiße fiel ich in dem Stadtviertel auch ziemlich auf. So wussten die Gang-Mitglieder auch, dass ich Haustürbesuche mache und für eine Sommerschule werbe, damit Menschen Bildung nachholen können. Ich habe Arvis Averette vertraut, dass ich nicht über den Haufen geschossen werde. Andererseits gab es in dem Stadtteil coole Clubs, in die er mich mitgenommen hat. Dort habe ich etwa super Jazz-Konzerte erlebt. Das war eine tolle Zeit.
Warum sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt?
Benner: Ich fand die Zeit in Chicago so spannend, dass ich mir überlegt hatte, ganz dort zu bleiben. Ich hätte auch in Chicago arbeiten können. Doch nach gut einem Jahr in den USA empfand ich Sehnsucht nach Europa und unserer Kultur, meinen Wurzeln. Deswegen bin ich zurückgekehrt und habe in Deutschland mein Soziologie-Studium fertig gemacht. Mir fehlte zum Teil der Tiefgang in Amerika.
Apropos Deutschland: Was ist eigentlich los mit unserem Land? Selbst im wohlhabenden und sicheren Bayern hat die AfD bei der Landtagswahl 14,6 Prozent eingefahren, in Hessen sogar 18,4 Prozent. Und im reichen Baden-Württemberg, dem Kernland der IG Metall, liegt die rechtsextreme Partei laut einer Umfrage sogar bei 20 Prozent.
Benner: Obwohl natürlich auch ich über das Erstarken der rechtsextremen Partei entsetzt bin, ja mir Sorgen mache, beobachte ich positive Entwicklungen. So haben bei Continental in Regensburg rund 5600 Beschäftigte geschlossen einem Mann mit rechtem Hintergrund, der eine Liste für eine Betriebsratswahl einreichen wollte, dafür notwendige Unterschriften verweigert. Es gibt in diesem Land immer wieder Momente, wo Menschen auf der hellen Seite der Macht stehen. Viele unserer Aktiven engagieren sich für Geflüchtete und zeigen Haltung gegen Rechts. Gerade wir als Gewerkschaft haben enorme Möglichkeiten, gegen den weiteren Aufstieg der AfD zu wirken.
Wie soll das gelingen? Bisher scheint die AfD nicht zu stoppen zu sein.
Benner: Wir können den Rechten den Boden entziehen, wenn wir in den Betrieben mithilfe von Gewerkschaften und Betriebsräten Menschen Sicherheit vermitteln, etwa indem sie weiter qualifiziert werden und bei all den Veränderungen eine gute Perspektive für sich sehen. So können wir Menschen, die unsicher sind, vielleicht davon abhalten, AfD zu wählen.
Nach Ihrer Theorie wäre mehr Mitbestimmung in den Betrieben ein wirkungsvolles Mittel gegen den AfD-Höhenflug.
Benner: Genau. Wir haben einen Zugang zu den Menschen in den Betrieben.
Doch ist ihr Optimismus nicht übertrieben angesichts der Wahlergebnisse der AfD?
Benner: Die demokratischen Parteien müssen daraus dringend Konsequenzen ziehen und Politik für die Menschen machen. Ich bleibe optimistisch, weil ich glaube, dass wir über die Betriebe die Meinungen verunsicherter Menschen beeinflussen, vielleicht sogar ändern können. Hier haben auch die Arbeitgeber Verantwortung. Wir können Menschen, auch wenn sie nach rechts abgedriftet sind, zurückgewinnen. Denn unsere Betriebe sind wichtige und funktionierende Orte der Demokratie. Immer vorausgesetzt, es gibt ein faires Miteinander von Arbeitgebern und Beschäftigten durch Betriebsräte.
Aber funktioniert das wirklich?
Benner: Nach einer Studie sind Menschen, die im Betrieb Demokratie erleben, widerstandsfähiger gegen Rechts-Populismus. Deswegen brauchen wir mehr Demokratie-Zeit in den Firmen und mehr Mitbestimmung bei strategischen Unternehmensentscheidungen. Unternehmen sind eine Heimat für Menschen. Deswegen müssen wir diese Heimat auch bei allen Veränderungen bewahren.
Wie funktioniert das Projekt „Heimat-Bewahrung“ in den Betrieben konkret?
Benner: Indem wir etwa für Beschäftigte, deren Arbeit durch den Umstieg auf die E-Mobilität wegfällt, neue Stellen in ihren alten oder neuen Betrieben schaffen. So können frühere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Autoindustrie doch in der boomenden Branche neuer Energien arbeiten. Rechnerisch würde das aufgehen. Theoretisch könnten wir die Herausforderungen prima bewältigen und auch den Arbeitskräftemangel überwinden.
Und praktisch?
Benner: In Einzelfällen klappt das schon in der Praxis. So gibt es für viele Beschäftigte des Autozulieferers Continental im niedersächsischen Gifhorn wieder Hoffnung, nachdem das Werk geschlossen werden soll. Stiebel Eltron plant nun den Aufbau einer Edelstahlspeicherproduktion für Wärmepumpen-Heizungsanlagen in Gifhorn. Die Idee wurde in unserem IG-Metall-Netzwerk geboren. Ich habe mich persönlich für die Lösung eingesetzt und geholfen, zu verhindern, dass der Standort geschlossen wird.
Welche Zukunft haben die Beschäftigten?
Benner: Nach den jetzigen Planungen können mindestens 300 von bisher gut 800 Conti-Beschäftigten künftig für Stiebel Eltron arbeiten. Das ist ein Mutmacher-Beispiel: Menschen brauchen in umwälzenden Zeiten mehr Sicherheit. Denn Sicherheit ist das beste Mittel gegen Rechts. Und Arbeit ist der beste Ort für die Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt. Die IG Metall ist dafür ein gutes Beispiel: Von unseren rund 2,2 Millionen Mitgliedern haben etwa 500.000 einen Migrationshintergrund.
Doch dieses Land wirkt verzagt. Was ist die Ursache für die deutsche Übellaunigkeit?
Benner: Hier wirken die Coronazeit und der Krieg Russlands gegen die Ukraine nach. Die deutsche Verzagtheit ist das Resultat multipler Krisen. Während der Pandemie waren viele lange alleine zu Hause – und das in schwierigen Konstellationen. Die häusliche Gewalt hat zugenommen. Junge Menschen erkrankten zunehmend an Depressionen. Unlängst habe ich IG-Mitglieder in Stuttgart geehrt. Viele von Ihnen sind in der Nachkriegszeit groß geworden und sind geschockt, dass es in der Ukraine am Rande Europas wieder einen Krieg gibt. Diese Menschen sorgen sich, dass der Krieg auch wieder zu uns kommen könnte. Solche Gespräche sind wertvoll für mich, weil sie mir zeigen, was die Menschen bewegt, wo wir ansetzen können.
Und Sie wollen am 23. Oktober als erste Frau in der 132-jährigen Geschichte der IG Metall Vorsitzende der Organisation werden, was großes Interesse an Ihrer Person hervorgerufen hat.
Benner: Ich bin eine Frau und mache meine Arbeit mit großer Freude. Für mich ist es jenseits meiner Person vielmehr wichtig, dass wir viele tolle Frauen in Führungspositionen bei der IG Metall haben und viele weibliche Mitglieder. Natürlich freut es mich, dass es viele begrüßen, dass mit mir erstmals eine Frau an der Spitze der IG Metall stehen soll. Doch das allein darf die IG Metall nicht auszeichnen. Viel wichtiger ist, dass wir als Gewerkschaft die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verändern. Und die IG-Metall-Spitze wird künftig mit Jürgen Kerner, Nadine Boguslawski, Hans-Jürgen Urban und Ralf Reinstädtler und mir als Fünfer-Runde mehr als Team zusammenarbeiten. Die IG Metall wird weiblicher und teamorientierter.
Was haben Sie gedacht, als der Spiegel schrieb, sie werden „die mächtigste Frau Deutschlands“?
Benner: Ich habe mich nicht erschrocken. Ich kann mit Macht durchaus etwas anfangen. Man kann Einfluss nehmen. Doch die Macht haben wir durch unsere Mitglieder. Wir haben als IG Metall etwas an den Füßen und verfügen über Ideen. Das gibt uns Macht.
Doch Sie wollen Ihre Macht gegenüber der Bundesregierung ausspielen, haben Sie doch angekündigt, der Ampel-Regierung auf die Füße zu treten. Haben Sie kein Mitleid mit den fußlahmen Ampel-Frauen und Ampel-Männern?
Benner: Auf alle Fälle will ich der Regierung Dampf machen. Im Heizungs-Chaos bin ich den Ampel-Koalitionären auf die Füße gestiegen, schließlich waren viele unserer Mitglieder über die Pläne entsetzt.
Jetzt wollen Sie das Land verändern.
Benner: Ja, ich will Dampf machen für mehr Mitbestimmung und Sicherheit in den Betrieben, für einen staatlich subventionierten Brückenstrompreis und für Strategien gegen Rechts.
Und Sie laufen sich vor dem Gewerkschaftstag schon einmal mit Kritik an den Metall-Arbeitgebern warm.
Benner: Denn ich stimme nicht in den Kanon der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ein und schaue auf die Jugend oder die Generation Z herab. Ich ermutige die jungen Menschen vielmehr, für ihre Rechte einzutreten. Und wir als IG Metall wollen die duale Ausbildung wieder attraktiver machen. Ausbildungsplätze dürfen nicht wie zuletzt weiter abgebaut werden. Denn Ausbildung ist eine Antwort auf den Fachkräftemangel.
Doch derzeit haben in Deutschland etwa 2,64 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren keinen Berufsabschluss. Die erschreckende Zahl ist zuletzt noch einmal gestiegen.
Benner: Das ist ein Unding. Wir beobachten diese Entwicklung mit Sorge. Es kann doch nicht sein, dass wir diese große Zahl an Menschen nicht qualifizieren können, um damit unseren großen Fachkräftemangel zu überwinden.
Manche Arbeitgeber halten trotz des Arbeitskräftemangels an ihren hohen Ansprüchen an den künftigen Nachwuchs fest.
Benner: Doch die Arbeitgeber sollten endlich mehr Haupt-, also Mittelschülern eine Chance auf Ausbildungsplätze geben. Bisher geschieht das in viel zu geringem Umfang. Bei den Mittelschülern gibt es 161 Bewerbungen auf 100 Ausbildungsstellen. Da kommen leider viele junge Menschen nicht zum Zug. Deswegen erhöhen unsere Betriebsrätinnen und Betriebsräte den Druck auf die Arbeitgeber, auch Mittelschülern eine Chance zu geben. Arbeitgeber müssen bei der Auswahl von Bewerbern flexibler werden und es nicht nur beim Rosinen-Picken belassen. Gerne sollten wir und die Arbeitgeber da aber noch mal die Köpfe zusammenstecken, um das Problem anzugehen. Das geht nur zusammen.
Christiane Benner, 55, ist seit Oktober 2015 Zweite Vorsitzende der IG Metall. Die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Diplom-Soziologin verantwortet die Bereiche Organisationspolitik, Betriebs- und Mitbestimmungspolitik, Zielgruppenarbeit, Gleichstellung sowie das Projekt Crowdsourcing. Nun will die BMW- und Continental-Aufsichtsrätin auf dem Gewerkschaftstag am 23. Oktober die Nachfolge des bisherigen IG-Metall-Chefs Jörg Hofmann antreten. Benner ist Mitglied der SPD.