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Krise in der Industrie: "Deindustrialisierung hat bereits begonnen": Chemie-Industrie appelliert an Regierung

Krise in der Industrie

"Deindustrialisierung hat bereits begonnen": Chemie-Industrie appelliert an Regierung

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    Anlagen des Chemiekonzerns BASF auf dem Werksgelände in Ludwigshafen.
    Anlagen des Chemiekonzerns BASF auf dem Werksgelände in Ludwigshafen. Foto: Uwe Anspach, dpa

    Der Arbeitsplatzabbau in der deutschen Chemie-Branche ist längst eingeleitet. Die nach wie vor hohen Energiepreise machen dem drittgrößten Industriezweig mit hierzulande rund 550.000 Beschäftigten und rund 1900 Unternehmen erheblich zu schaffen. 

    So streicht der Kölner Spezialchemie-Hersteller Lanxess Hunderte Stellen, der Evonik-Konzern mit Sitz in Essen will das Haus kräftig umbauen und lagert Bereiche aus. Davon sind Tausende Beschäftigte betroffen. BASF, ein Schwergewicht des Wirtschaftszweiges, sieht sich gezwungen, in Ludwigshafen energieintensive Anlagen zu schließen. So könnten dort Hunderte Arbeitsplätze verschwinden. Anna Wolf, Branchen-Expertin des Ifo-Instituts, sagt: „Die Chemie-Industrie steckt in einer tiefen Krise.“ 

    Chemie-Branche: "Die Deindustrialisierung hat bereits begonnen"

    Das bestätigt Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), am Donnerstag in einem Gespräch mit unserer Redaktion: „Die Stromkosten sind hierzulande drei- bis viermal so hoch wie in den USA und fast doppelt so hoch wie in Frankreich. So verliert unsere chemische Industrie jeden Tag an Wettbewerbsfähigkeit.“ Für den Branchen-Vertreter stellt sich die Lage dramatisch dar: „Die Deindustrialisierung hat in Deutschland bereits begonnen.“ 

    Das lässt sich aus Sicht von Große Entrup nicht nur am reinen Job-Abbau und am Umbau in deutschen Chemie-Unternehmen ablesen. Denn Firmen lenkten Investitionen um, weg vom Hochpreis-Energiestandort Deutschland in andere Länder. Der VCI-Hauptgeschäftsführer berichtet über einen großen bayerischen Chemie-Mittelständler, der fest im Freistaat verwurzelt sei, jetzt aber wohl in Asien erstmals außerhalb Deutschlands eine Produktionsanlage eröffnen wolle. Große Entrup nennt nicht den Namen der Firma. 

    Chemie-Industrie steht am Anfang vieler Wertschöpfungsketten in Deutschland

    Fest steht: Die Chemie-Industrie trennt sich hierzulande von Stellen und pumpt gleichzeitig Geld ins Ausland. Große Entrup warnt vor den Folgen der Entwicklung: „Wir als Chemie-Industrie sind in 90 Prozent der Wertschöpfungsketten ganz am Anfang dabei. Wenn unsere Branche vorne rausbricht, hat das Auswirkungen auf die gesamte Prozess-Innovation am Standort Deutschland.“ So wächst die Sorge, dass in der chemischen Industrie hierzulande die Deindustrialisierung einsetzt und auf andere Wirtschaftszweige übergreift.

    Daher appelliert der Verband der Chemischen Industrie eindringlich an die Bundesregierung: „Es wird viel geredet, es muss aber jetzt gehandelt werden. Wichtige Konkurrenzstandorte wie China und die USA fördern ihre Märkte massiv. Und wir schauen zu, wie unsere heimische Industrie um ihre Zukunft kämpft.“ Große Entrup hat den Eindruck, „dass die Dramatik nicht bei allen in Berlin angekommen ist“. 

    Ministerpräsidenten machen Druck

    Dabei müsste den politisch Verantwortlichen die Brisanz der Lage spätestens seit dem Chemie-Gipfel im Kanzleramt Ende September klar sein. Schon damals riefen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter, aber auch Vorstandsvorsitzende großer deutscher Chemie-Konzerne die Regierung auf, endlich zu handeln. 

    Ministerpräsidenten waren bei dem Gipfel dabei. Inzwischen haben nach Darstellung des VCI 14 Ministerpräsidenten, darunter auch Markus Söder, einen Aufruf an die Bundesregierung zum Handeln für die Branche unterschrieben. Um all dem Nachdruck zu verleihen, verfassten Gewerkschafter und Arbeitgeber der Chemie-Branche gemeinsam mit dem VCI einen Brandbrief an alle Bundestagsabgeordneten außer der AfD. Mit dem unserer Redaktion vorliegenden Schreiben soll vor dem am Freitag stattfindenden Koalitionsausschuss der Druck für die Einführung eines „Brückenstrompreises“ erhöht werden. 

    Chemie-Industrie fordert Subventionen vom Bund

    Arbeitgeber wie Gewerkschafter fordern die Bundesregierung auf, ab Januar 2024 für sechs Jahre Energie für die Industrie durch Subventionen deutlich zu verbilligen, also so lange, ehe nach Aussagen der politisch Verantwortlichen ausreichend günstige erneuerbare Energie zur Verfügung steht. 

    In dem Brief beklagen die Vertreter der Chemie-Industrie, dass sich die Koalition trotz breiter Unterstützung von SPD, Grünen und der Unionsfraktion bislang nicht zu einem Gesetzesvorschlag durchringen könne. Die FDP lehnt noch eine solche Subvention ab. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich skeptisch gegenüber einem derartigen Brückenstrompreis gezeigt.

    Die eindeutige Forderung: Ein Brückenstrompreis, um Standorte und Arbeitsplätze zu retten

    Große Entrup findet sich mit der Hängepartie für die Industrie nicht ab. Denn Unternehmen müssten nun handeln und über ihre Investitionen entscheiden. Die klare Forderung der Branche lautet: „Wir brauchen jetzt einen Brückenstrompreis, um Standorte und Arbeitsplätze zu retten.“ Den Bundestagsabgeordneten wird nahelegt, „Mandat und Funktion zu nutzen, damit noch in dieser Woche ein eindeutiges Signal der Bundesregierung zu einem kurzfristigen Energiepaket für die Industrie kommt“. 

    Neben einem verbilligten Industrie-Strompreis, der auch mittelständischen Betrieben der Chemie-Branche zugutekommen soll, fordern die Repräsentanten des Wirtschaftszweigs eine Senkung der Stromsteuer ein. Verbandsvertreter Große Entrup sagt: „Die Bundesregierung muss aufhören, sich im Kreis zu drehen, und den bisherigen politischen Produktions-Stillstand überwinden.“ Fast flehend meint er: "Es geht um viel: die Zukunft des Industriestandortes und damit auch um den Wohlstand und die Resilienz unserer Gesellschaft.“

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