Immer wieder ist die Rede von neuen Rekordwerten bei den Krankheitstagen in Deutschland und davon, dass die Menschen in der Bundesrepublik hier weit vor allen anderen Ländern liege. Nun gibt es in Deutschland zwar viele Krankmeldungen – der Vergleich mit anderen Ländern ist aber oft irreführend.
Denn um festzustellen, wie oft die Menschen krank sind, gibt es verschiedene Wege. Auf der einen Seite die Daten der Versicherungen. Auf der anderen Seite Befragungen. Warum das einen Unterschied macht, ist anhand der Vergleichswerte der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu erkennen.
So wird die Zahl der bezahlten krankheitsbedingten Fehltage aus einem OECD-Vergleich gerne als Beleg dafür herangezogen, dass die Zahl der Krankmeldungen in Deutschland problematisch hoch sei: Die neuesten Vergleichszahlen stammen von 2022. Hier sieht es so aus, als würden die Menschen nirgends so oft und lange krank in der Arbeit fehlen, wie in Deutschland. In der Bundesrepublik werden 24,9 bezahlte krankheitsbedingte Fehltage pro Arbeitnehmer ausgewiesen. Erst mit einigem Abstand folgt Lettland auf Platz zwei, mit 20,4. Die Niederlande (15), Österreich (14,9) und Frankreich (14,2) liegen im Mittelfeld, Bulgarien meldet nur 6,1 Fehltage. Doch die Zahlen greifen zu kurz, wie eine Studie des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) zeigt, die für die Krankenkasse DAK Gesundheit entstanden ist.
Die Kassen erfahren häufig erst nach mehreren Tagen von einer Krankheit
Zwei Probleme verfälschen die OECD-Übersicht: Die Meldesysteme und die Tatsache, wann Krankheitstage bezahlt werden.
In den meisten Fällen stammen die Zahlen von den Krankenkassen im jeweiligen Land. Die Autoren der IGES-Studie gehen davon aus, dass diese Zahlen zu niedrig sind. Denn damit Krankheitstage in der Statistik auftauchen, müssen sie den Kassen gemeldet werden. Das passiere häufig nur dann, wenn eine Krankmeldung länger andauert: „Dies liegt daran, dass Krankenkassen erst spätestens zum Zeitpunkt der Zahlung von Krankengeld Kenntnis über eine krankheitsbedingte Abwesenheit der Arbeitnehmer haben.“
Wenn am Anfang einer Erkrankung kein Krankengeld gezahlt wird, sondern der Arbeitgeber den Lohn fortzahlen muss, erfahre die Krankenkasse also nicht unbedingt etwas davon. Hinzu kommt: In einigen Ländern gibt es Karenzzeiten. In Estland, Frankreich, Irland, Italien, Portugal und Spanien werden die ersten Fehltage nicht bezahlt – und tauchen deshalb auch nicht in der Statistik auf. Die Daten in der Übersicht liegen also zum Teil deutlich unter der tatsächlich Zahl der Fehltage, weil nur bezahlte Tage abgebildet werden.
Der Anstieg der Krankheitstage in Deutschland liegt an einer besseren Erfassung
Nun ist das System in Deutschland arbeitnehmerfreundlich: Zuletzt stellte in einer Studie von 2024 aber fest: „Der Großteil des Anstiegs ist auf die elektronische Erfassung der Krankmeldungen zurückzuführen.“
doch bisher wird der Lohn in den ersten sechs Wochen einer Krankheit in voller Höhe vom Arbeitgeber bezahlt. Außerdem verfälscht das inzwischen sehr gute Meldesystem in Deutschland die Zahlen: Laut den Autoren der Studie liegt in der Bundesrepublik „nahezu eine Vollerhebung vor“. Denn seit 2022 werden Krankschreibungen elektronisch direkt an die Krankenkassen gemeldet. Die Umstellung hatte zur Folge, dass die Daten deutlicher besser erfasst werden – was in den Statistiken zu einem starken Anstieg der Krankheitstage führte. Auch das ist ein Grund, warum oft von einem besonders hohen Krankenstand in Deutschland die Rede ist. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)In den Statistiken der Krankenkassen nicht erfasst werden Fehltage, für die keine Bestätigung eines Arztes notwendig ist – das ist in vielen Unternehmen in den ersten drei Tagen einer Krankheit der Fall. Die OECD schätzt die fehlenden Tage aber anhand von Umfragen und berechnet diese mit ein, sodass der für Deutschland angegebene Wert der Realität sehr nahe kommen dürfte. In anderen Ländern ist das nicht der Fall, dort werden die Krankheitstage bei der Berechnung unterschätzt. „Daher ist es nicht verwunderlich, dass Deutschland bei der Zahl der Fehltage an der Spitze liegt“, schreiben die Autoren der IGES-Studie. „Die in der OECD-Auswertung dargestellten bezahlten Fehltage in den europäischen Ländern sind vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden und Systeme nicht für einen Vergleich der krankheitsbedingten Fehlzeiten geeignet.“
In der Befragung zum Thema Krankheitstage liegt Deutschland nur noch im oberen Mittelfeld
Die Statistik, die deutsche Arbeitnehmer als die kränksten überhaupt zeigt, ist also irreführend. Doch die OECD veröffentlicht noch eine zweite Auswertung zum Thema: Für alle europäischen Ländern wird erhoben, wie viel Prozent der Wochenarbeitszeit durch Krankheit verloren gegangen ist. Die Daten stammen nicht von den Kassen, sondern aus Befragungen von Stichproben. Die Teilnehmenden werden konkret gefragt: „Wie viele Tage haben Sie insgesamt in der Berichtswoche aufgrund von Krankheit nicht gearbeitet?“
Und siehe da: Hier liegt Deutschland nicht mehr auf Platz 1, sondern mit 6,8 Prozent verlorener Arbeitszeit nur noch im oberen Mittelfeld – hinter Frankreich (7,7 %) und mit deutlichem Abstand hinter den Spitzenreitern Finnland (10,0 %) und Norwegen (10,7 %). Weil die Umfrage in allen Ländern gleich ausgeführt werde, seien die Zahlen gut vergleichbar, erklären die Autoren der IGES-Studie.
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Auch wenn Deutschland nicht Krankmeldungs-Spitzenreiter ist und der jüngste Anstieg mit dem Sondereffekt der besseren Erfassung zusammenhängt: Hoch seien die Werte in Deutschland trotzdem, heißt es in der Studie des ZEW. Und ein Grund dafür seien unter anderem die großzügigen Regeln zur Lohnfortzahlung. „Dies liegt daran, dass Menschen sich – gerade bei leichteren Erkrankungen – bei der Entscheidung, sich krank zu melden, auch von monetären Anreizen leiten lassen.“
Das IGES hingegen sieht das in seiner Auswertung nicht bestätigt: Luxemburg etwa hat mindestens genauso großzügige Regeln wie Deutschland – und einen auffällig niedrigen Krankenstand. „Allein die Systemunterschiede bei der Entgeltfortzahlung können die Unterschiede im Krankenstand zwischen den Ländern nicht erklären.“
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