Nach der Panik folgt nun die Verschnaufpause: Es scheint, als würde sich die chinesische Volkswirtschaft in der zweiten Jahreshälfte doch noch etwas erholen. Die jüngsten leicht verbesserten Zahlen für August wurden von der Staatspresse regelrecht in den Himmel gelobt. Doch auch der Internationale Währungsfonds (IMF) geht mittlerweile davon aus, dass die Volksrepublik ihr Wachstumsziel von fünf Prozent für 2023 erreichen werde. Angesichts der niedrigen Ausgangslage vom Lockdown-Vorjahr mag dies vielleicht kein Grund zum Jubeln sein, aber eine handfeste Krise sieht tatsächlich anders aus.
Dennoch: Über kaum eine Volkswirtschaft streiten sich die Geister derart wie über China. Das hat zum einen mit der geopolitischen Polarisierung zu tun, die – je nach ideologischer Färbung – extreme Sichtweisen begünstigt: Auf der einen Seite gibt es die Untergangapologeten, die seit Jahren bereits den Kollaps des Systems vorhersagen. Andere Beobachter hingegen sprechen den Wirtschaftsplanern in Peking geradezu übermächtige Fähigkeiten zu.
Xi Jinping macht eine zunehmend erratische Wirtschaftspolitik
Angesichts der Hysterie ist ein nüchterner Blick auf die Faktenlage umso wichtiger. Insbesondere in den letzten Monaten haben führende Ökonomen vermehrt dazu aufgerufen, den Blick weg von den tagesaktuellen Geschehnissen zu lenken. Stattdessen solle man die chinesische Volkswirtschaft vor allem systemisch betrachten, um die strukturellen Probleme des Landes zu erkennen. Denn diese reichen weit tiefer als die zunehmend erratische Wirtschaftspolitik Xi Jinpings und die nationalistische Stimmung im Land.
Zumindest über den derzeitigen Status quo herrscht Einigkeit: Die Immobilienkrise verschärft sich weiter, nachdem neben dem Bauentwickler Evergrande nun auch noch Country Garden die Liquidierung droht. Die Jugendarbeitslosigkeit befindet sich zweifelsohne auf einem Rekordniveau, selbst wenn das Statistikamt seit August keine Zahlen mehr veröffentlicht. Und auch der Konsum der Chinesen hat sich knapp zehn Monate nach Ende der „Null Covid“-Maßnahmen nicht vollständig erholt. Immerhin: In den Chefetagen chinesischer Unternehmen hellt sich die Stimmung weiter auf. Der Einkaufsmanagerindex (PMI) für das verarbeitende Gewerbe erreichte im September 50,2 Punkte und überschritt knapp die wichtige 50er-Marke, wie das Statistikamt am Samstag in Peking mitteilte. Das Überschreiten der Marke von 50 Punkten signalisiert einen Anstieg industrieller Aktivität.
Flächendeckende Bevorzugung der Staatsbetriebe in China
Über die Interpretation der Daten herrscht jedoch Uneinigkeit. Viele Experten machen vor allem Xi Jinping mit seiner nicht stringenten und teils unternehmerfeindlichen Politik für die aktuelle Misere verantwortlich. Und es lässt sich kaum abstreiten, dass der 70-Jährige das Wachstum des Landes lähmt: Die flächendeckende Bevorzugung der Staatsbetriebe trübt die Zuversicht der Privatwirtschaft, die Überregulierung des Tech-Sektors hat zu einer regelrechten Entlassungswelle geführt und das jüngste Anti-Spionage-Gesetz stößt insbesondere westliche Unternehmen vor den Kopf.
Doch insbesondere Ökonomen wie Michael Pettis vom Carnegie Endowment for International Peace argumentieren, dass man den Einfluss der Person Xi nicht überschätzen solle. Stattdessen sei die jetzige Malaise geradezu vorhersagbar gewesen. Und in der Tat hat der US-Volkswirt mit Sitz in Peking bereits vor zehn Jahren die heutigen Entwicklungen messerscharf prognostiziert.
Chinesisches Wachstum fußte auf drei Säulen: Immobilien, Infrastruktur, Export
Ein Rückblick: Jahrzehntelang fußte das chinesische Wachstum vor allem auf drei Säulen – Immobilien, Infrastrukturinvestitionen und Exporte. Seit der Pandemie haben jedoch nur mehr die Ausfuhren weiterhin gut funktioniert, wobei selbst diese derzeit unter der global schwachen Nachfrage zu leiden haben.
Die anderen Wachstumspfeiler haben sich allerdings endgültig ausgeschöpft, allen voran die Infrastrukturinvestitionen. China verfügt bereits über das größte flächendeckende Hochgeschwindigkeits-Zugnetz, über unzählige Brücken sowie hochmoderne Autobahnen bis in die hintersten Ecken des Landes. Der „return on investment“, also die Kapitalrenditen, ist mit jedem neuen Projekt weiter geschrumpft – der Bedarf ist schlicht nicht mehr da. Zudem haben sich die Lokalregierungen immer tiefer verschuldet, Experten gehen von über zehn Billionen Euro aus.
Beim Immobiliensektor ist das Wachstumsmodell noch deutlich spektakulärer geplatzt. Auch hier sind politische Restriktionen die Kernursache: Per kommunistischer Verfassung dürfen die Bürgerinnen und Bürger des Landes nämlich keinen Grund besitzen, sondern nur die 70-jährigen Nutzungsrechte von den Lokalregierungen abkaufen. Diese haben aufgrund ihrer Monopolstellung die Preise künstlich in die Höhe getrieben und die Immobilienblase damit befeuert.
Bevölkerung parkt ihre Ersparnisse im Immobiliensektor
Dass die Bevölkerung dennoch bis zu drei Viertel ihrer Ersparnisse im Wohnungsmarkt geparkt hat, liegt am Mangel an Alternativen. Denn Chinesen haben praktisch keinen Zugang zu internationalen Finanzmärkten. Sämtliche Faktoren haben zu massiven Überkapazitäten geführt: Laut einer Harvard-Studie standen bereits 2017 über 65 Millionen Wohnungen leer, mittlerweile dürfte der Wert noch deutlich höher liegen.
Es besteht also kein Zweifel daran, dass China sein Wachstumsmodell transformieren muss. Fast alle Experten geben dieselben Lösungsvorschläge. „Wir glauben, dass mittelfristig ein höheres Wachstum für China in greifbarer Nähe ist“, sagte erst kürzlich eine Sprecherin des Internationalen Währungsfonds. Es brauche kurzfristig makroökonomische Unterstützung und langfristige Reformen. EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis wurde während seines aktuellen Peking-Besuchs konkreter: Die Regierung solle ein Stimulus-Paket schüren, um den Konsum anzutreiben. Und langfristig müsse man ohnehin vom rein Investment- und exportgetriebenen Wachstum zum konsumgetriebenen Wachstum gelangen.
Die Zahlen lassen daran wenig Zweifel. In keiner anderen großen Volkswirtschaft verfügt die Bevölkerung über weniger Einkommen. Gleichzeitig liegt die Sparquote, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, bei derzeit rekordhohen 44 Prozent. Zum Vergleich: Der Wert liegt in Deutschland bei unter 30 Prozent, in den USA sogar unter 20 Prozent.
Kontrolle auf Kosten des Wachstums?
Bisher ist die Parteiführung allerdings nicht gewillt, mehr Ressourcen an das Volk und die Privatwirtschaft abzugeben. So hat Xi Jinping beispielsweise westliche Sozialsysteme als „dekadent“ bezeichnet. Und auch Privatunternehmer wie Alibaba-Gründer Jack Ma, die maßgeblich zum Wohlstand des Landes beigetragen haben, wurden in den letzten Jahren immer wieder in die Schranken verwiesen, sobald ihre Macht für die kommunistische Partei zu bedrohlich wurde. Die KP möchte offensichtlich die Kontrolle behalten, auch auf Kosten des Wachstums.
Insofern ist das wirtschaftliche Problem unmöglich vom politischen Grunddilemma der Volksrepublik China zu trennen. Wer Rechtsstaatlichkeit und freie Medien als „westliche Übel“ verteufelt, kann nicht gleichzeitig die Vorzüge kapitalistischen Wohlstandswachstums erwarten. Irgendwann schließen sich beide Konzepte gegeneinander aus.
„China muss sich entscheiden, welche Art von Beziehung es mit ausländischen Firmen haben möchte“, sagte erst kürzlich Jens Eskelund, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. Doch darüber hinaus muss sich China auch ganz grundsätzlich entscheiden, welche Beziehung es zur Marktwirtschaft haben möchte. Zumindest Xi Jinping scheint die Wahl bereits getroffen zu haben.