Als der neue griechische Wirtschafts- und Finanzminister Kostis Chatzidakis sich Mitte Juli seinen Kollegen in der Eurogruppe vorstellte, konnte er mit beeindruckenden Zahlen aufwarten: Im Primärhaushalt, der den Schuldendienst ausklammert, erwirtschaftete Griechenland im ersten Halbjahr einen Überschuss von 2,1 Milliarden Euro – fünf Mal mehr als erwartet. Kein anderer Staat der Euro-Zone hat in den vergangenen zweieinhalb Jahren seine Schuldenquote so massiv gesenkt wie Griechenland, nämlich um 38 Prozentpunkte. Eine Rezession ist nicht in Sicht. Die EU-Kommission prognostiziert dem Land für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,4 Prozent, gegenüber 1,1 Prozent im Durchschnitt der Euro-Zone. „Griechenland ist nicht länger das schwarze Schaf Europas“, stellte Chatzidakis nach der Sitzung der Euro-Finanzminister stolz fest.
Das Comeback ist umso beachtlicher, als Athen noch 2010 vor dem Staatsbankrott stand. Mit Hilfskrediten von fast 289 Milliarden Euro bewahrten die Euro-Partner und der Internationale Währungsfonds das Land damals vor der Pleite. Im Gegenzug musste Athen ein drakonisches Sparprogramm durchziehen. Griechenland verlor zwischen 2010 und 2016 ein Viertel seiner Wirtschaftskraft und rutschte in die tiefste Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor allem Deutschland trat damals als treibende Kraft der Sparvorgaben und als Schulmeister mit erhobenem Zeigefinger auf.
Deutschland kann manches von den Griechen lernen
Heute sind die Rollen anders verteilt. Es gibt manches, das Deutschland von den Griechen lernen kann. Das beginnt bei der Stimmung. In Griechenland stieg der allmonatlich vom Forschungsinstitut IOBE ermittelte Geschäftsklimaindex im Juni auf 111,1 Punkte. In Deutschland fiel der vergleichbare IFO-Index dagegen im Juli auf 87,3 Zähler. Während sich die Lage der deutschen Wirtschaft weiter verdüstert und die Erwartungen immer pessimistischer werden, herrscht an der Akropolis Aufbruchsstimmung.
Das hängt nicht nur mit der guten Konjunktur, sondern auch mit der Politik zusammen. Koalitionsgerangel wie in Deutschland kennt man in Griechenland nicht. Bei der Parlamentswahl Ende Juni gewann der seit 2019 regierende konservative Premier Kyriakos Mitsotakis erneut eine absolute Mehrheit. Der 55-Jährige kann damit an der Spitze einer Einparteienregierung seine Reformpolitik fortsetzen. In den vergangenen vier Jahren hat der Harvard-Absolvent und frühere Investmentbanker Mitsotakis die Fundamente für Griechenlands Comeback gelegt.
Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis macht wirtschaftsfreundliche Politik - mit starken sozialen Elementen
Seine Politik ist wirtschaftsfreundlich, hat aber zugleich starke soziale Elemente. Mitsotakis senkte die Unternehmenssteuern von 29 auf 22 Prozent. Die Investitionen stiegen daraufhin seit 2019 um 44 Prozent. Mitsotakis reduzierte die Einkommen- und Immobiliensteuern, senkte die Sozialversicherungsbeiträge und erhöhte den staatlichen Mindestlohn. Trotz der Abgabensenkungen kam das Land in den vergangenen Jahren bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen schneller voran als im Stabilitätsprogramm vorgesehen. Zugleich hat Griechenland begonnen, seine Staatsschulden vorzeitig zurückzuzahlen. Die Schuldenquote fiel von 206,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2020 auf 168,3 Prozent im ersten Quartal 2023.
Fiskalische Disziplin, starkes Wachstum, Nachholbedarf aus der Zeit der Finanzkrise
Der Rückgang ist der fiskalischen Disziplin geschuldet, aber auch dem starken Wachstum. In den beiden vergangenen Jahren legte das BIP kumulativ 14,3 Prozent zu. Ein wichtiger Wachstumsmotor ist der Tourismus, der rund ein Fünftel des BIP erwirtschaftet. In diesem Jahr erwartet die Reisebranche einen neuen Rekord, trotz der verheerenden Waldbrände, die im Juli auf Rhodos und Korfu wüteten.
Der Wirtschaftsaufschwung ist zu großen Teilen dem Nachholbedarf aus der Zeit der Finanzkrise in den 2010er Jahren und der Corona-Rezession von 2020 zu verdanken. Griechenland hat aber auch die politische Stabilität seit 2019 genutzt, um jahrzehntelang vernachlässigte Reformen umzusetzen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, im Rentensystem und im Gesundheitswesen.
Beim Reformtempo kann Deutschland von Griechenland lernen
Beim Reformtempo kann Deutschland viel von Griechenland lernen. Das gilt vor allem für die Digitalisierung. Hier zeigte Griechenland, dass in jeder Krise eine Chance steckt. Die Corona-Pandemie wirkte wie ein Katalysator. Bei der Organisation der Impfkampagnen sowie der Entwicklung digitaler Impfnachweise und Reisedokumente leistete Griechenland in Europa Pionierarbeit. Das e-Rezept sowie der digitale Personalausweis und der Führerschein auf dem Handy sind für die Griechen seither alltäglich.
Die Zahl der digitalen Transaktionen zwischen Bürgern und Verwaltung stieg nach Angaben des Ministeriums für digitale Verwaltungsreform von 34 Millionen im Jahr 2019 auf 1,2 Milliarden im vergangenen Jahr. Sogar die Ehescheidung kann man auf dem Smartphone oder Tablet vollziehen. Griechenland sei bei der Digitalisierung „auf einem großartigen Weg“ und „schneller als Deutschland“, stellte Telekom-Vorstandschef Timotheos Höttges vergangenes Jahr bei einem Besuch in Athen fest. Die Regierung verspricht: Bis 2027 sollen 99 Prozent aller Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung digitalisiert werden.
Schnelle Digitalisierung steigert die Attraktivität Griechenlands als Investitionsstandort
Die Digitalisierung erspart den Menschen nicht nur Behördengänge und Wartezeiten, sie steigert auch die Attraktivität Griechenlands als Investitionsstandort, vor allem im IT-Bereich. So unterhält die deutsche Teamviewer AG seit drei Jahren einen Entwicklungsstandort in der nordgriechischen Universitätsstadt Ioannina. Dort arbeiten über 100 IT-Spezialisten an Tech-Innovationen. Der Pharma-Konzern Pfizer gründete in Thessaloniki ein Forschungszentrum. Microsoft steckt eine Milliarde Dollar in den Aufbau von Cloud-Zentren in Griechenland – erstmals in Südosteuropa. „Wir tun das nicht in jedem Land“, sagt Microsoft-Präsident Brad Smith. Griechenland sei „mit neuer Stärke aus der Krise hervorgegangen“, so Smith.
Deutschland dagegen, so die Wahrnehmung in Griechenland, schwächelt. Der Paradigmenwechsel spiegelt sich auch in den Medien. 2012 verhöhnte das MagazinFocus die Griechen als „Betrüger in der Eurozone“ und konstatierte gehässig; „2000 Jahre Niedergang von der Wiege zum Hinterhof Europas". Jetzt widmete die griechische Finanzzeitung Kefalaio (Kapital) Deutschland eine ausführliche Analyse. Der Artikel trägt die wenig schmeichelhafte Überschrift: „Der kranke Mann Europas".